Camino Frances #2: Von Biarritz nach Saint-Jean-Pied-de-Port

Camino Francés - Tag 2: Von Biarritz nach Saint Jean Pied de Port

Tag 2 auf dem Camino von Biarritz nach Saint-Jean-Pied-de-Port mit streikenden Züge, lichthupenden Taxen, geheimen Rücksitzen, Busladungen voller Pilger, einem Hauch Camino-Magic und meiner ersten Nacht im Stockbett mit der Schnarchnase von Saint-Jean-Pied-de-Port (28.04.2016)

Nach einer überraschend erholsamen Nacht in meinem kleinen Biarritzer Kabuff gehe ich das Projekt Anreise nach Saint-Jean-Pied-de-Port also ein zweites Mal an. Immerhin starte ich diesmal direkt aus Frankreich, da sind die Erfolgschancen doch hoffentlich vorprogrammiert.

Ganz französisch kommt mein Frühstück mit einer kleinen Kanne Kaffee und einer etwas größeren Kanne heißer Milch daher, so dass ich mir einen herrlichen Café au Lait zusammenschütten kann. Madame Inhaberin begrüßt mich überschwänglich und hat ordentlich aufgetischt. Ich gönne mir völlig untypisch ein süßes Frühstück mit frischen Pains de Chocolates. Pappsatt und voll freudiger Erwartung packe ich wenig später meine Siebensachen, hieve mir den Rucksack auf den Rücken und checke aus. Begleitet von sämtlichen guten Wünschen, mache ich mich auf den Weg nach Saint-Jean-Pied-de-Port, genauer zur hiesigen Bushaltestelle.

Die Verschwörung der öffentlichen Verkehrsmittel

Draußen ist erneut schönstes Wetter, und ich laufe beschwingt durch die Frühlingsluft, warte überpünktlich auf den Bus nach Bayonne (nicht ohne alle zwei Minuten das Handy zu zücken und auf die Uhr zu schauen). Der Bus kommt wie geplant, und mein 24-Stunden-Ticket gilt nach wie vor. Ich will mir gerade einen Platz suchen, als der Busfahrer so dermaßen Gas gibt, dass ich samt Rucksack einen ungeahnten Sprung mache und durch den halben Bus fliege. Meine Herren! Das geht aber auch anders.

Irgendwie gelingt es mir, mich hinzusetzen und den Rucksack neben mich zu wuchten. Die Fahrt geht fix. Nach einer guten halben Stunde bin ich an der Haltestelle in der Nähe des Bahnhofs und laufe bei strahlendem Sonnenschein über eine imposante Brücke auf den Gare de Bayonne zu. Auf der linken Seite hat sich eine Traube Menschen mit Transparenten und Trillerpfeifen versammelt. Frankreich, denke ich, irgendwer protestiert immer.

Vor dem Gebäude steht ein Grüppchen älterer Menschen mit Rucksack. Ich entdecke die ein oder andere Jakobsmuschel und habe Gewissheit. Das sind tatsächlich ebenfalls alles Pilger. Diese Menschen werden mich also die nächsten Tage und Wochen begleiten. Ich beachte sie erst einmal nicht weiter, gehe in die Bahnhofshalle und dort zielstrebig auf den Schalter zu, wo ich meinen auswendig gelernten Satz in schönstem Schulfranzösisch aufsage: Ich hätte gern ein Ticket für den Zug nach Saint-Jean-Pied-de-Port.

Klischee-Erfüllung in Perfektion

Die Dame hinter dem Schalter antwortet, der Bus fahre um 18:00 Uhr. Ich bin mir sicher, dass ich train und nicht bus gesagt habe, aber gut. Sag ich mein Sätzchen halt noch einmal auf. Und da kommt auch schon die Antwort. „Il n’y a pas de train aujourd’hui“, denn – Trommelwirbel, bzw. Trillerpfeife – die Bahnmitarbeiter streiken. Wieso müssen die Franzosen mir unbedingt einen authentischen Aufenthalt bescheren? Auf den Streik hätte ich gerne verzichtet.

Ich schaue sie nur fassungslos an. Das kann alles nicht wahr sein! Gestern einen ganzen Tag verlieren, weil das Gepäck nicht schnell genug im Flieger ist und jetzt erzählt sie mir ernsthaft, dass ich den Zug um elf vergessen kann, weil gestreikt wird? Und dass der Bus, der mich an die Wunschdestination karren soll, in Sage und Schreibe siebeneinhalb Stunden abfährt? Ich schwanke irgendwo zwischen Wut und Wahnsinn, sie bleibt gelassen. Ich solle einfach mal rausgehen. Da stünden genug andere Leute, die nach Saint-Jean-Pied-de-Port wollten. Mit denen könne ich mir dann ja ein Taxi teilen.

Na prima. Ich hatte mir ursprünglich extra eine teurere Flugverbindung rausgesucht, die so früh gewesen wäre, als dass ich es an einem Tag mit regulären Verkehrsmitteln nach Saint-Jean-Pied-de-Port geschafft hätte. Ich habe akzeptiert, dass sich alles um 24 Stunden verschiebt, aber jetzt soll ich hier quasi einen Arbeitstag lang Löcher in die Luft starren??? Egal wie groß meine ursprüngliche Ablehnung war, mit dem Taxi zu fahren, jetzt steht fest, dass ich genau das tun werde. Alles ist besser, als die ganze Zeit in dieser Einöde abzuhängen, und so füge ich mich murrend in mein Schicksal.

Wie viele Menschen passen in ein Taxi?

Von meiner gestrigen Gelassenheit ist nicht mehr allzu viel übrig, als ich langsam auf das Grüppchen zugehe, das ich schon bei meiner Ankunft erspäht habe. Nützt alles nichts. Drei Menschen Mitte 60 und ein Mädel in meinem Alter sind gut gelaunt im Gespräch. „Ihr seht aus, als wolltet ihr ebenfalls nach Saint Jean“, sage ich, und sie nicken begeistert. Ja, genau, das Taxi sei bereits bestellt. Ich schaue ein wenig neidisch. Da werde ich selbst wohl erst mal alleine hier rumstehen, bis sich ein neues Grüppchen gebildet hat, denn nach meiner Rechnung ist bei vier Leuten ein Taxi voll. Leider.

Die Vier scheinen zu ahnen, was mir durch den Kopf geht, denn die amerikanische Lady namens Patricia verbreitet Optimismus. Sie würden nicht ohne mich nach Saint-Jean-Pied-de-Port fahren und mich schon irgendwie mitbekommen. Das sei hier schließlich Frankreich. Da dürften sicher auch sechs Personen in einem Gefährt transportiert werden! Ich muss über ihre Vorstellung von Europa grinsen.

Wir winken den ersten Taxifahrer heran und erklären ihm in einem Misch aus Englisch und Französisch unser Ansinnen. Der Fahrer winkt müde ab. Wir sind zu fünft, und er hat Platz für vier Fahrgäste. Ich seufze innerlich auf. War doch klar. Auch der nächste Fahrer reagiert entsprechend, und ich schlage den Vieren vor, dass sie einfach fahren sollen, während ich hier auf die nächsten Pilger warten werde. Aber nein, davon wollen meine neuen Freunde nichts wissen.

Plötzlich macht ein Taxi in zweiter Reihe mit Lichthupe auf sich aufmerksam. Der Fahrer winkt uns ran, nickt die fünf Personen ab und zaubert einen Notsitz hervor, der irgendwo zwischen Kofferraum und Rückbank angebracht wird. Ich fasse es nicht. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet. „Camino Magic“, sagt Patricia schulterzuckend, als sei das völlig klar gewesen. Und schon düsen wir los.

Fünf Freunde auf großer Fahrt

Ich klemme irgendwo zwischen vier Rucksäcken und John’s großem Koffer und muss die ganze Zeit kichern, während der Fahrer über Dörfer und Serpentinenstraßen brettert und dabei dauernd das genaue Gegenteil von dem macht, was das Navi ihm aufträgt, während im Auto fünf Unbekannte fröhlich drauf los schnattern. Wie verrückt ist dieser Tag?

Ich erfahre so einiges über meine Mitreisenden. Patricia und ihr Mann John kommen aus Texas. Sie hat den Film „The Way“ gesehen und wollte daraufhin unbedingt dieses Abenteuer erleben. Er kann sich das nun wirklich überhaupt nicht vorstellen und wird von daher einen Blick auf Europa werfen und die Schweiz und Italien besuchen, bis seine Frau mit der Wanderei fertig ist und sie gemeinsam noch weiterreisen.

Natascha, das Mädchen in meinem Alter, hat bis vor kurzem bei Microsoft gearbeitet, kommt aus Seattle und hat, nachdem sie ihren Job verloren hat, entschieden, dass nun der richtige Zeitpunkt sei, um sich in ein Abenteuer zu stürzen. Natürlich hat auch sie „The Way“ gesehen. Was dem Deutschen sein „Ich bin dann mal weg“ ist, ist dem Ami „The Way“. Rob aus Rotterdam wurde vor wenigen Tagen pensioniert, ist Freimaurer und erzählt von seinen Kindern und den fünf Enkeln.

So unterschiedlich sie sind, sie haben alle etwas gemeinsam: jeder hat sich wochenlang auf den Camino vorbereitet und ist 10 bis 20 Kilometer-Etappen mit und ohne Rucksack gelaufen. Ich bin tatsächlich die einzige, die das nicht für nötig hielt und so macht sich leichtes Bauchgrummeln breit, was nicht am Fahrstil unseres Taxichauffeurs liegt.

Stempeln gehen in Saint-Jean-Pied-de-Port

Als wir in Saint-Jean-Pied-de-Port ankommen, besteht John darauf, die Fahrt zu bezahlen (dreistellige Summe). Er sei froh, dass seine Frau nicht alleine sei, denn längst haben wir beschlossen, morgen alle zusammen loszulaufen. Wir entscheiden, erst einmal alle zusammen einen Kaffee zu trinken, bevor die einen ihre Unterkünfte checken und Natascha und ich uns auf den Weg zum Pilgerbüro machen, wo es den ersten Stempel für unser Credencial geben wird. Ich brauche außerdem noch eine Jakobsmuschel für meinen Rucksack und Natascha Wanderstöcke. Alle außer mir haben bereits Unterkünfte im Voraus gebucht. Auch darum muss ich mich noch kümmern.

Nach dem Kaffee laufen die Amerikanerin und ich neugierig die steile Straße zum Pilgerbüro hoch. Leute aus aller Herren Länder sitzen hinter Tischen und beraten die Pilger-to-be, geben Tipps zu Unterkünften, teilen ausgedruckte Höhenprofile und Streckenübersichten aus und stempeln unseren Pilgerpass ab. Die Luft sirrt von dem multikulti Sprachengewirr. So muss Babylon geklungen haben.

Der nette Herr, der sich um meinen Pass kümmert, spricht ein paar Brocken Deutsch und freut sich, diese an die Frau zu bringen. Er wirft einen Blick auf meinen Rucksack und fragt, ob ich Lust habe, diesen mal zu wiegen. Er sehe ja riesig aus. Wir gehen an die große Waage, und er runzelt bedenklich die Stirn, als diese etwas mehr als 14 Kilo anzeigt. Das sei aber ganz schön viel, um damit die Pyrenäen zu überqueren. Ich denke an meine 1,5 Kilo Essen und nicke gelassen. Bisher kam mir der Rucksack ehrlich gesagt nicht so schwer vor, das wird schon klappen.

Als wir das Pilgerbüro kurz vor der Mittagspause verlassen, stimmen die Mitarbeiter Gesang an – Ultreïa, das Pilgerlied. Mit einem dicken Grinsen treten wir nach draußen. Wir sind jetzt echte Pilger. Wir haben den ersten offiziellen „Sello“ in unserem Heftchen.

Im Pilger-Shopping-Paradies von Saint-Jean-Pied-de-Port

Als nächstes machen wir uns an das Projekt Ausrüstungskomplettierung. Wir finden beide eine hübsche Muschel, die sofort hinten am Rucksack befestigt wird. Außerdem gibt es kostengünstige Wanderstöcke für Natascha, die im Gegensatz zu mir vor allem auch weiß, wie man die Dinger benutzt. Sie verspricht, mir morgen beim Losgehen zu helfen, meine richtig einzustellen.

Wir kommen an ihrer Unterkunft vorbei und sie darf ihr Gepäck schon einmal abgegeben. Man erinnert sie außerdem freundlich, aber nachdrücklich an das gemeinsame Abendessen. Natascha würde viel lieber mit uns Essen gehen. Dieser Wunsch wird mit einem vernichtenden Blick gestraft und mit der Ansage quittiert, dass es hier um Gemeinschaft gehe. Also nein. Als wir uns erkundigen, ob es noch Platz für mich gäbe, erhalten wir ebenfalls eine Absage. Alles voll.

Im Ort wimmelt es nur so vor Pilgern. Scheint, als habe Papst Franziskus‘ spontane Ausrufung von 2016 als einem Jahr der Barmherzigkeit (und damit heiligem Jahr) noch mehr Leute vor die Tür getrieben als sowieso schon. Ich beobachte das bunte Treiben auf der Straße. Noch nie habe ich so viele Menschen mit Rucksäcken und Outdoor-Klamotten auf einem Haufen gesehen. Hoffentlich erhasche ich noch irgendwo ein Bett!

Und täglich grüßt das Murmeltier

Nicht lange und Rob läuft an uns vorbei, und er hat zudem eine gute Nachricht im Gepäck: in seiner Unterkunft, der Gîte Compostella, ist noch etwas frei, und so gehen wir gemeinsam dorthin. Für €12,50 bekomme ich ein Bett im Viererzimmer, in dem auch Rob schläft. Ich entscheide mich für die untere Etage eines der beiden Stockbetten, dann muss ich später nicht hochklettern und habe vor allem meinen Kram in unmittelbarer Nähe, wenn wir morgen früh aufbrechen.

Wir lassen unsere Rucksäcke in der Unterkunft und machen uns auf die Suche nach einem Supermarkt, um noch ein paar Vorräte zu erstehen. Ein großer Carrefour hat alles, was das Pilgerherz begehrt, in meinem Fall Wasser und Bananen. Anschließend geht es – Trommelwirbel – erneut in eine Bar. Was soll man auch den lieben langen Tag tun? Nun, da wir alles erledigt haben, entscheiden wir, endlich mal von Kaffee auf geistvollere Getränke umzusteigen, und so bestelle ich Natascha und mir einen Pastis, schließlich sind wir in Frankreich, und sie kennt das Getränk nicht.

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Die Wandergruppe von Morgen. Natacha, Audrey, Patricia und Rob

Wir sitzen gerade zehn Minuten, als Patricia und John an uns vorbei laufen und sich zu uns setzen. So langsam komme ich mir vor wie bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Unser Thema dreht um morgen. Jeder von uns möchte die ganze Etappe bis nach Roncesvalles laufen, und wir einigen uns darauf, um sieben Uhr an der Brücke gemeinsam zu starten. Auch wenn wir uns vermutlich über kurz oder lang verlieren werden, ist es beruhigend, auf dem steilen Part nicht alleine zu sein.

Das findet offensichtlich auch John mit Blick auf seine Gattin und zahlt als Dankeschön für unseren Support die ganze Runde. Hätte ich nicht im Taxi sein Kofferschildchen erspäht, das ihn als President von xyz ausweist und vom Ferienhaus am Lake Michigan gehört, wäre mir das eher unangenehm gewesen. So denke ich mir, dass das wohl klar geht und John sich vielleicht sogar freut, den armen Peregrinos zum Abschied noch etwas Gutes tun zu können.

Bester Plan, keine Plan

Rob ist ein wenig genervt. Er hat sich für eine Alternativroute entschieden, die etwas weniger anspruchsvoll, dafür aber auch weniger schön sein soll und die ein ganzes Stück Straße beinhaltet. Im Internet war er auf das Inserat einer Frau gestoßen, die einen Kompagnon für die erste Etappe ab Saint-Jean-Pied-de-Port suchte, weil sie sich diese alleine nicht zutraute.

Damals hielt er das für eine nette Idee. Er wusste ja noch nicht, dass er gleich am ersten Tag drei reizende Damen (hüstel) treffen würde, mit denen er ebenfalls laufen könnte. Jetzt ist seine Verstimmung umso größer, denn auch er hat die napoleonische Route ursprünglich favorisiert.  Aber da Rob ein anständiger Typ ist, findet er sich damit ab. Ich bin einmal mehr froh, gar nichts zu müssen und jeden Schritt komplett allein entscheiden zu können. Kein Plan ist mein Plan. Vor allem aber keine Verpflichtungen.

In den engen Gassen von Saint-Jean-Pied-de-Port, Start des Camino Frances
Kleine Gasse in Saint-Jean-Pied-de-Port, ausnahmsweise fast menschenleer

Patricia und John verabschieden sich. Die beiden gehen heute Abend noch einmal schön Essen und auch Natascha muss los, denn ihr steht das Gemeinschaftsmahl in ihrer Herberge bevor. So beschließen Rob und ich, uns zum Essen zusammen zu tun.

Wir finden ein Restaurant am Flüsschen und beobachten eine lärmende Gruppe gut gelaunter Niederländer, die ein paar Tische weiter sitzt. Sie sehen nicht aus wie Pilger – zu normal sind die Klamotten – und schauen immer mal milde lächelnd zu uns rüber. Vermutlich haben sie ein ungefähres Gefühl davon, was vor uns liegt. Oder sie machen hier eine ganz andere Art von Urlaub und wundern sich über unser fancy Outfit.

Wegmotive

Rob und ich unterhalten uns abwechselnd auf Deutsch, Niederländisch und Englisch. Ich erinnere ihn an seine Tochter, sagt er, sie habe ein ähnliches Temperament. Großes Thema neben dem Respekt, den wir offensichtlich alle vor der morgigen Etappe haben, ist natürlich die Frage nach dem Warum unserer jeweiligen Reise.

Ich erzähle von meinem Jugendtraum, davon, dass ich einmal wirklich aus dem Alltag raus kommen möchte und davon, dass ich mir im Bestfall erhoffe, anschließend eine genauere Vorstellung davon zu haben, was ich mittelfristig im Job machen möchte.

Job, bzw. das Ende seiner Arbeitszeit, ist der Grund, wieso Rob sich auf den Weg gemacht hat. Er wurde vor wenigen Tagen pensioniert und hat entschieden, dass dies der perfekte Zeitpunkt für den Jakobsweg ist. Eintritt ins Rentenalter ist nun einmal eine Zäsur, und er möchte den neuen Lebensabschnitt gebührend einläuten. Wir fragen uns, was der Weg mit uns machen wird, wen wir treffen werden, was wir über uns selbst erfahren werden und wie lange wir wohl gemeinsam unterwegs sein werden. Die Zeit vergeht wie im Flug.

Um acht muss Rob zu seinem Blind Date. Ich bin gespannt, was er berichten wird. Selbst bleibe ich noch ein wenig, um Tagebuch zu schreiben. Als ich dann noch einmal die Straße hinauf zum Pilgerbüro gehe, komme ich im Vorbeigehen an Nataschas Unterkunft vorbei. Wie ihr Abendessen wohl war? Sie hat dort vorhin bereits erste andere Pilger getroffen und war mäßig begeistert. Die lieben Menschen waren wohl ein bisschen spiritueller angehaucht, als es der Amerikanerin lieb ist. Das wird uns vermutlich ab jetzt häufiger blühen.

Vor dem Pilgerbüro ist die Hölle los. Scheint, als sei der 18-Uhr-Bus aus Bayonne inzwischen angekommen. Scharen von berucksackten Menschen stehen auf der Straße und diskutieren.

Pilgerbüro in Saint-Jean-Pied-de-Port, Camino Frances
Das Pilgerbüro von Saint-Jean-Pied-de-Port

Was bin ich froh, dass wir das alles bereits erledigt haben. Und so setze ich mich gleich um die Ecke auf eine Bank und beobachte das Treiben in der Abendsonne.

Letzte Vorbereitungen

So langsam komme ich an … realisiere, dass das Abenteuer wirklich begonnen hat… und dass es morgen so richtig losgeht. Zusammen mit all den anderen Leuten. Ich bin wirklich gespannt, wie das vonstattengehen wird. Mein Blick streift die Pyrenäen. Diese Kollegen gilt es morgen hinter uns zu bringen, und ich hoffe, dass das Wetter so herrlich bleibt. Das macht den Weg sicher um einiges leichter.

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Blick auf die Pyrenäen hinter Saint-Jean-Pied-de-Port, die morgen dräuen

Ich bin jetzt schon geradezu erleichtert, dass mein Rucksack gestern in Paris hängen geblieben ist. Ohne dieses Missgeschick, hätte ich meine drei Fellow-Pilgrims nie kennengelernt, und mir wäre ein Stückchen Camino-Magic in Form eines Sechssitztaxis entgangen (was für ein Wort). Da lag mein Bauchgefühl von gestern, dass alles aus einem Grund geschieht, wohl gar nicht so falsch.

Selbst der vorhin noch verfluchten, streikenden, französischen Bahn bin ich geradezu dankbar, denn in dem Gewusel hier hätte ich meine Drei sicher auch nicht unbedingt kennengelernt. Ich erhasche einen Blick auf die kleine Brücke, an der wir uns morgen früh treffen wollen, als ich zurück zur Unterkunft gehe.

Typisches Pilgermotiv in Saint-Jean-Pied-de-Port. Über diese Brücke führt morgen der Camino
Startpunkt einer langen Reise: die Brücke von Saint-Jean-Pied-de-Port

In unserem Gemeinschaftszimmer ist inzwischen ein weiteres Bett belegt. Robert (dieser allerdings aus Amsterdam und etwa in meinem Alter) leistet uns Gesellschaft. Er ist seit 16 Tagen mit dem Rad auf dem Jakobsweg unterwegs, so dass wir ihn wohl nicht wiedersehen werden.

„Mein“ Rob ist ebenfalls da und freut sich diebisch. Die Blind-Date-Frau ist nicht wie vereinbart am Treffpunkt aufgetaucht, und so kann er nun völlig ohne schlechtes Gewissen den schönen Weg auf der Route Napoleon gehen. Ich freue mich ebenfalls sehr. Ich habe diesen ruhigen, verschmitzten Niederländer jetzt bereits ins Herz geschlossen und finde es beruhigend, ihn morgen in meiner Nähe zu wissen.

Erste Camino-Lektionen

Um viertel nach zehn – wir liegen bereits alle im Bett, wenn auch mit Licht an – öffnet sich die Tür ein weiteres Mal. Ein älterer Herr, der es nicht für nötig befindet zu grüßen, als er rein kommt, erklimmt das Bett über mir und flucht leise auf Deutsch vor sich hin, dass das ja alles ganz toll sei, dass er nun auch noch das obere Bett habe und wie er da hochkommen soll und überhaupt.

Keiner von uns macht sich die Mühe, diesen freundlichen Zeitgenossen darüber in Kenntnis zu setzen, dass wir ihn alle mehr oder weniger gut verstehen können. Wäre er nicht so pampig, hätte ich ihm glatt mein Bett angeboten, aber so lernt er seine ersten beiden Camino-Regeln: vor der Herberge sind alle Pilger gleich (alt, jung, arm, reich, egal – first come, first serve) und: wie es in den Wald hineinruft, schallt es eben auch heraus.

Punkt 22:30 Uhr wird das Licht wie angekündigt ausgeschaltet, und kurz darauf fängt der Herr über mir an, lautstark zu schnarchen. Ich ärgere mich, dass meine Oropax irgendwo in meiner Kulturtasche sind und traue mich nicht mehr, nach ihnen zu kramen, weil ich niemanden aufwecken möchte. Das ist dann wahrscheinlich meine Caminolektion: verurteile niemanden, weil er grummelig oder unfreundlich erscheint. Du weißt nie, welches Päckchen er zu tragen hat.

Und mit diesen besinnlichen Worten schließt der letzte Vorbericht.

Zeitreise

Vorwärts: Du willst jetzt endlich mal etwas über das Wandern lesen? Wie der Tag auf meiner persönlichen Angstetappe gelaufen ist, erzähle ich dir auf dem Stück von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles

Rückwärts: Das Anfangsdrama meiner Reise verpasst? Hier kannst du dich noch mal durch das ganze Elend der Anreise lesen auf dem Weg von Hamburg nach Biarritz.

Kommentare und Ergänzungen

Bist du selbst schon auf dem Jakobsweg gelaufen oder hast vor, es zu tun? Bist du wie ich in Saint-Jean-Pied-de-Port gestartet oder hast du dir die Pyrenäen-Überquerung geschenkt? Hattest du auch Glück, gleich zu Beginn auf tolle Leute zu treffen oder warst du allein unterwegs?

Erzähl es mir gern und lasse deinen persönlichen Eindruck im Kommentarfeld da.

4 Gedanken zu „Camino Frances #2: Von Biarritz nach Saint-Jean-Pied-de-Port&8220;

  1. Es macht Spaß, dir auf deinem etwas wirren Weg zu folgen 🙂
    Leider ist der heutige Abschnitt vieeeeeeeel zu kurz, und ich muss wieder 1 Woche warten, schnief.
    Ich wünsche dir allzeit ein bequemes Bettchen ohne Nörgler 🙂
    Herzliche Sonntagsgrüße, Dirk

    1. Mein wirrer Weg? Gedanklich schräg bzw. wirr im Kopf oder unnötig von fatalen Umständen verkompliziert 🤔😂?
      Und Danke für deinen Kommentar. Ich muss mich schon immer sehr ran halten, um es zumindest einmal die Woche zu schaffen…

  2. Hallo,Audry! Ich bin durch Zufall auf diese Seite gestoßen und finde sie einfach toll. Besteht die Möglichkeit die s
    Seiten, oder den gesamten Blog auch upzuladen. Ich habe ein Ipad und möchte es gerne in den Urlaub mitnehmen?

    1. Hallo Hardy,
      Freut mich, wenn dir die Geschichten gefallen. Die wird nichts anderes übrig bleiben, als dich von Tag zu Tag zu klicken. Allerdings kannst du am Ende einer Etappe immer zur nächsten springen. Das habe ich entsprechend verlinkt.
      Viel Spaß

Und was sagst Du?