Tag 1 auf dem portugiesischen Jakobsweg von Porto nach Lavra: eine Eskorte aus der Stadt, Karrierechancen als Räuchermännchen, Terror der Balkenbeats, Fluch des Zauberlehrlings, Sushi mit Gesicht und die gute Seele von Lavra (3. Mai 2017, 22 Kilometer)
Heute ist der große Tag. Es geht zurück auf den Jakobsweg. In meinem AirBnB-Zimmer erwache ich früh und kann gar nicht erwarten, dass es endlich losgeht. Mein Rucksack steht gepackt im Zimmer, alle normalen Sachen liegen auf einem Stapel, damit sie in Papas Koffer zurückreisen können.
Die Vorfreude ist groß, doch es schwingt auch ein wenig Anspannung mit. Ich freue mich so auf Ruhe, einen leer gelaufenen Kopf und die selige Müdigkeit.
Caminho provides. Ich werde all das bekommen und zwar in einem solchen Übermaß, dass ich schreien möchte bzw. werde. Aber dazu später mehr.
Maritime Eskorte
Nach einem gemeinsamen Frühstück geht das Abenteuer los. Ich habe mich dagegen entschieden, noch einmal zur Kathedrale zurückzulaufen. Wir waren gestern bereits dort. Man muss jetzt auch nicht päpstlicher sein als der Papst.
Mit der historischen Straßenbahn könnte man bis zum Atlantik fahren, doch diese Abkürzung möchte ich nicht nehmen. Ich werde laufen, noch dazu eskortiert von meinen Eltern, die auf diese Weise auch ein wenig Caminho-Luft schnuppern dürfen. Man sagt nicht umsonst, der Jakobsweg beginne vor der eigenen Haustür. Genauso gehe ich mit der Situation um: ich suche mir vom AirBnB-Apartment den kürzesten Weg hinunter zum Fluss.
Der Weg bis zum Atlantik ist denkbar einfach. Man läuft einfach immer entlang des Douro. Dementsprechend wundere ich mich nicht sonderlich, dass ich unterwegs keine Markierungen sehe, auch wenn ich die kleinen, gelben Pfeile ein wenig vermisse. Aber die kommen sicher noch.
Auf den ersten Metern fühle ich mich in meiner Aufmachung ein wenig komisch, denn bisher habe ich noch niemanden mit Rucksack erspäht. Ich rede mir gut zu, dass das am Atlantik sicher anders wird und viele Pilger mit der historischen Bahn anreisen. Mama und Papa sind guter Dinge, bei mir macht sich nach wie vor eine gewisse Nervosität breit, während ich, begleitet vom Klack Klack meiner Stöcke, über den betonierten Weg entlang des Flusses stapfe, neben mir die bunten, leicht verfallenen Häuschen Portos.
Nach ungefähr einer Stunde erreichen wir ein etwas lebhafteres Stück mit einem hübschen Platz, an dem sich ein paar Cafés befinden. Zeit für einen Galao und ein paar Natas. Die Leute auf der Terrasse staunen nicht schlecht, als ihr Blick meine Wanderstöcke streift. Ich mache auf Fernstrecken ja keinen Schritt mehr ohne die beiden, räume aber ein, dass sie am Fußgängerweg entlang des Douros doch vielleicht ein wenig seltsam anmuten.
Während ich noch mal die Wegbeschreibung in meinem Wanderführer checke (immer dem Wasser entlang), stehen die Zeichen zunehmend auf Aufbruch. Man hört von hier den Atlantik schon brausen. Gleich ist also Schluss mit Familientrip, und der Caminho startet so richtig. Ich muss zugeben, dass ich mich mit meinen Eltern an der Seite noch nicht so richtig darauf einlassen kann.
Promenadenläufer
Wenig später liegt er vor mir. Der Atlantik. Majestätisch. Stark. Laut. Aufgewühlt. Ein Jahr haben wir uns nicht gesehen. Das letzte Mal war Anfang Juni in Finisterre. Ich war nach Beendigung meines Camino Frances mit dem Bus dorthin gefahren. Dieses Jahr werde ich laufen, denn die knapp 250 Kilometer von Porto bis nach Santiago wären mir sonst zu kurz. Außerdem habe ich letztes Mal bereut, zu wenig Zeit zur Verfügung zu haben, um das Stück zu Fuß zu meistern.
In der Nähe des Leuchtturms Farol de Sao Miguel wird es Zeit, sich endgültig von meinen Eltern zu trennen. Obwohl sie anbieten, noch ein bisschen weiter mit mir zu laufen, entscheide ich mich dagegen. Ich muss jetzt allein sein. Sonst komme ich nie in den Rhythmus des Caminhos, und so verabschieden wir uns an der Strandpromenade.
Nach einer langen Umarmung und einem kleinen Blick auf die beiden zurück beginnt der Caminho nun auch offiziell. Ich spüre, wie ich gleich etwas weiter ausschreite. Die Sonne lacht mir zu, der Atlantik singt zu meiner Linken, und die Promenade zeigt mir den Weg.
Bisher habe ich immer noch keinen einzigen Pfeil gesehen, keinen einzigen Pilger getroffen und kein einziges Bom Caminho gehört. Die Menschen, die an mir vorbeilaufen, sind in Strandkleidung unterwegs und tragen maximal ihre Badeausrüstung auf dem Rücken. Sie schauen ein wenig verwundert auf meine lange Hose, den vollen Rucksack und die Stöcke. Grüßen kommt ihnen offensichtlich nicht in den Sinn. Ich lächele trotzdem vor mich hin. Wie habe ich das vermisst. Laufen, Essen und Schlafen, sonst wird in den nächsten zwei Wochen nichts von mir verlangt.
Hitzewallung für Anfänger
Je höher die Sonne klettert, desto erbarmungsloser knallt sie auf mich herunter. Mein langes Oberteil verschwindet im Rucksack. Die Hose lasse ich vorerst lang. Ich fürchte mich vor Sonnenbrand an den Beinen. Es ist heute recht schwül, und es wundert mich nicht, dass das Wetter in den nächsten Tagen umschlagen soll. Ich sehne die gute, alte Kas Limón herbei. Da muss ich mich wohl noch ein paar Tage gedulden, bis ich in Spanien bin.
Dennoch schaue ich mich zunehmend nach einem Café um, während ich mit inzwischen nicht mehr ganz so ambitionierten Schritten über den Beton der Promenade schreite. Es gibt hier und da kleine Strandcafés direkt im Sand. Meine Lust, mit Sack und Pack hinunterzusteigen, hält sich in Grenzen, und so belasse ich es vorerst beim Gedanken an ein gezuckertes Kaltgetränk, während ich am ersten Fort vorbeigehe.
Ich laufe weiter und nähere mich anderthalb Kilometer später gleich dem nächsten Fort. Scheint ein gutes Geschäft mit der Sicherheit gewesen zu sein.
Um halb zwei ist die erste Hälfte der heutigen Etappe geschafft. Ich komme nach Matosinhos. In der Touristeninformation gleich am Strand erhalte ich meinen ersten Stempel und noch ein paar gute Wünsche. Hier sehe ich immerhin drei andere Pilger, alles Deutsche. Bom Caminho wünscht aber auch niemand von ihnen. Vermutlich Anfänger, denke ich mir, während ich freundlich grüße.
Caminho Karriere als Räuchermännchen
Der Weg geht nun weg vom Strand, und irgendwie scheine ich nicht ganz die vorgesehenen Schritte zu machen, denn urplötzlich stehe ich mitten im Rauch, der in meinen Augen brennt. An der Straße grillen die Fischrestaurants, die sich hier nebeneinander aufreihen, ihre Ware vor den Augen (in meinem Fall in den Augen) der potenziellen Kundschaft. Der Geruch schlägt mir auf den Magen und so verflüchtigt sich meine Idee, hier zu pausieren.
Der gelbe Outdoor-Führer warnte vor der hiesigen Gefahr des Versumpfens. Das muss ich für meinen Teil aber wirklich nicht befürchten. Schnell gehe ich weiter. Eine Karriere als Räuchermännchen strebe ich bei diesen Temperaturen wahrlich nicht an. Der Schweiß läuft mir auch so schon kontinuierlich über den Körper.
Warten oder Fliegen
Mein Caminho gestaltet sich etwas schwieriger als gedacht, denn nach wie vor sehe ich keine Pfeile. Das kann ja heiter werden. Meine Nase versinkt in der Wegbeschreibung und schafft es dann doch irgendwie bis zum beschriebenen Markt und schließlich bis an die Brücke von Matosinhos. Dass diese hochgeklappt werden kann, führt sie mir auch gleich auf eindrucksvolle Weise vor. Hier ist vorerst kein Vorankommen, es sei denn mir wachsen spontan Flügel.
Zehn Minuten später darf ich weiter und finde dann – Trommelwirbel – um 13:52 Uhr den ersten Pfeil, der mir die Richtung entlang der Straße weist.
Ich habe langsam aber sicher genug von Beton. Wie schön, dass mich jetzt Kopfsteinpflaster erwartet. Das ist natürlich deutlich besser. Nicht.
Dafür, dass ich gerademal etwas mehr als zehn Kilometer geschafft habe, bin ich schon ganz schön geschafft. Ich spüre meine Beine, meine Füße und meine Schultern. Als der Ortskern hinter mir liegt, entdecke ich ein Café mit einer Außenterrasse, die zur Straße von einer hohen Hecke abgeschirmt wird. Zeit für eine kleine Rast. Mit Kaffee und Fanta geht es mir kurz darauf gleich viel besser.
In Ermangelung sonstiger Unterhaltung beginne ich mit meinem Tagebuch und klage über erste Wehwehchen, schildere aber auch wortreich meine Vorfreude. Als ich nach einer halben Stunde Rekonvaleszenz bezahle, komme ich mit dem Wirt ins Gespräch, der natürlich einen Stempel für mich hat und zudem sehr gut Englisch spricht. Begeistert zeigt er mir seine Büchersammlung, darunter ein Exemplar, das die schöne Stadt Rates illustriert. Er schwärmt in den höchsten Tönen.
Rates werde ich jedoch nicht zu Gesicht bekommen, denn ich habe mich gegen den zentralen Caminho entschieden, der dort vorbeiführt. Ich will stattdessen an der Küste bleiben. Neben dem Meer herzulaufen, scheint mir reizvoller, zumal dieser Weg der einsamere sein soll und Einsamkeit und Ruhe genau das sind, was ich momentan suche.
Bis zum Campingplatz von Lavra habe ich noch zehn Kilometer vor mir. Der Weg soll hinter Matosinhos hauptsächlich durch Dünen führen. Das wird sicher schön. So verabschiede ich mich von dem netten Herrn, bekomme von ihm das langersehnte Bom Caminho und marschiere los.
Balkenbeats
Die Suppe fließt nach kürzester Zeit schon wieder aus allen Poren. Herrje, was freue ich mich auf den angekündigten Regen und gleich hoffentlich auf eine kleine Brise vom Meer. Es sind 25 Grad, in der Sonne aber sicherlich mehr, und ich bin ihr ohne Schutz ausgesetzt, denn Schattenspender sind hier Mangelware.
Neben mir taucht die hübsche Eremita de la Boa Nova auf.
Der Caminho stolpert derweil ein Stück über Kopfsteinpflaster. Ich fühle jede Kante. Die Füße beschweren sich über jede ungewohnte Unebenheit. Ich muss an letztes Jahr denken. Im Rückblick lief es sich damals wie von selbst. Davon bin ich gerade weit entfernt. Ich kämpfe. Die Leichtigkeit fehlt völlig.
Schon jetzt spüre ich, dass es ein völlig anderer Weg werden wird. Letztes Mal wusste ich nicht, was mich erwartet und erfreute mich an allem. Diesmal fühle ich mich wie ein alter Camino-Hase und habe Ansprüche und Erwartungen, die gerade nicht erfüllt werden.
So auch ganz konkret in diesem Moment, denn der Caminho dreht ab in Richtung Dünen. Um sie vor den Menschen zu schützen, wurden Wege aus Holzplanken errichtet, auf denen ich nun mehrere Kilometer auf dem Weg nach Lavra zurücklegen werde. Was idyllisch klingt, läuft sich bescheiden. Das Holz federt nicht, und so macht es aus meiner Sicht kaum Unterschied zu meinem vorangegangenen Spaziergang auf Beton. Von einer Brise ist ebenfalls nichts zu spüren.
Die Kulisse zu meiner Linken ist das ständig gleichbleibende Meer, das noch dazu einen Heidenlärm veranstaltet. Ich merke, wie es mich zunehmend wütend macht. Die Monotonie ist nur schwer auszuhalten. Zwischendurch endet das Holzplankenkonstrukt zugunsten einer Kopfsteinpflasterstrecke, dann gehen die Balken in die nächste Runde.
Es gibt nicht allzu viele Orte, bzw. Ortsausgänge, an denen ich vorbeikomme und wenn ich welche erreiche, erwarten mich südländische Bausünden, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie halbfertig sind, offensichtlich aber nicht mehr zu Ende gebaut werden.
Um vier stehe ich endlich vor dem weithin sichtbaren Obelisken. Für ein Foto reicht es – da kann man dann auch gleich mein Balkenparadies erahnen.
Der Fluch des Zauberlehrlings
Ich bin jetzt bei Kilometer 17 und habe noch weitere vier vor mir, bis ich endlich in Lavra sein werde. Nach wie vor fehlt von anderen Pilgern jede Spur. So kommt auch bei mir nach wie vor kein echtes Pilgerfeeling auf. Stattdessen habe ich bereits zum ersten Mal das Meer angebrüllt. Es war ein freundliches „Halt die Fresse!“ Dieses anhaltende, ständige Rumoren des Wassers nervt mich. Der Atlantik spricht jedoch offensichtlich nur Portugiesisch und tost weiter. Oder er denkt sich, dass ihm die Befindlichkeiten kleiner Peregrinos komplett am A… vorbeigeht.
Aus heutiger Perspektive muss ich tatsächlich schmunzeln, wenn ich mich mit meiner schlechten Laune selbst beobachte. In der damaligen Situation kommen hingegen bereits an diesem Tag erste Zweifel an meinem Vorhaben auf, irgendwo zwischen den Planken, Kopfsteinen und Betonstücken. War das eine gute Idee? Die Strecke nervt gewaltig.
Ich fühle mich wie Goethes Zauberlehrling: die Geister, die ich rief, werd‘ ich nun nicht los. Ich wollte doch so unbedingt Ruhe, Einsamkeit, meinen Kopf leer laufen. Nun bietet mir der portugiesische Weg genau das, und es passt mir auch nicht, weil es zu viel des Guten ist.
Ein Stempel, der seinen Namen trägt
Um fünf erreiche ich endlich den Endpunkt der heutigen Etappe, Lavra. Ich trotte durch den Ort, der aussieht, als habe er es schon lange hinter sich. Ein Supermarkt und ein paar Bars, sowie einige Halbstarke vor einer Spelunke, die mich zweifelnd ansehen, ist alles. Der Weg zum Campingplatz führt im Anschluss gefühlt ewig durch Wohngebiet.
Als der Bestimmungsort endlich auftaucht, spreche ich ein Stoßgebet aus, dass es auf dem Gelände eine Essensmöglichkeit geben möge und vielleicht auch einen kleinen Shop, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Ich laufe heute nämlich ganz sicher keinen Zentimeter mehr zurück ins Dorf. Im Notfall gehe ich ohne Abendessen ins Bett. Mein Akku ist so platt wie eine Flunder.
An der Rezeption nimmt mich Rainer in Empfang. Er ist Pilger aus Leidenschaft, arbeitet auf dem Platz als Hospitalero und ist momentan das letzte, was ich brauche. Er hält mir ungefragt einen Vortrag über das Pilgern, gibt Unterweisungen für den Campingplatz, die Jahreszeit und auch sonst noch ein bisschen mehr, während ich mir das Meeresrauschen zurückwünsche, auf Durchzug schalte und selig an der Zitronen-Fanta nuckele, die in Rainers Tiefkühltruhe auf mich gewartet hat.
Währenddessen hält mir Rainer triumphierend mein Credencial unter die Nase, in dem nun ein Stempel mit seinem Namen prangt. Ich nicke wissend bis leicht gelangweilt. Das ist nicht mein erster Camino, erkläre ich.
Armer Rainer. Er hätte wahrlich etwas mehr Begeisterung verdient. Leicht enttäuscht stellt er weitere Erleuchtungsreden ein und nennt mir die Nummer meiner Hütte. Ich bezahle meine 14 Euro und latsche wieder los.
Einige Hütten auf dem Platz sind belegt. Ich schließe ob des Styles der Wäsche auf den Leinen auf Pilger. Alle sprechen deutsch. Ich gebe mich vorerst nicht als Landsmännin zu erkennen. Was ist es, das mich im Ausland immer erst auf Distanz zu den eigenen Mitbürgern gehen lässt? Will ich Abstand zum Alltag oder ist es ein latentes Fremdschämen ob der Paare im Jack-Wolfskin-Pärchenlook?
Die gute Seele von Lavra
Endlich stehe ich vor meiner Hütte. Kurz überlege ich noch, ob es schön wäre, allein zu sein, da wird mir die Entscheidung bereits abgenommen. Es ist jemand dort. Ich klopfe vorsichtig und ein großgewachsenes Mädchen, vermutlich knapp zehn Jahre jünger als ich, mit langen Haaren und stämmiger Figur erscheint in der Tür. Ich sage ihr auf Englisch, dass es mit leid täte, dass der Luxus des Alleinseins nun vorbei sei. Sie schaut mich leicht verwundert an. Dann antwortet sie, und ich merke, dass es mit ihrem Englisch nicht ganz so weit her ist.
Schnell stellen wir fest, dass das nicht weiter schlimm ist, denn Gabriela ist zwar ursprünglich aus Tschechien, wohnt und arbeitet aber in Zittau und spricht hervorragend Deutsch. Ich mag die 25-jährige auf Anhieb. Sie hat diesen herrlichen, osteuropäischen Akzent, bei dem ich mich immer sofort total geborgen fühle und das typische Kümmer-Gen, das ich schon an meiner kroatischen Freundin Ivana in Heidelberg geliebt habe. Gabi hat jede Menge Energie, ist unheimlich positiv und voller Vorfreude auf ihren ersten Caminho.
Es ist so herrlich, endlich mit jemandem zu quatschen, stelle ich fest. Schon bald erzähle ich ihr von meinem ersten Camino vor einem Jahr und gerate ins Schwärmen. Wir plappern auf der Veranda drauf los, obwohl ich noch nicht mal geduscht habe. Das Sitzen tut einfach unheimlich gut, die Gesellschaft ebenso.
Die Beine geben den Ausschlag
Nach einer Dreiviertelstunde nehme ich mir endlich mal Zeit und unsere Unterkunft genauer unter die Lupe. Es gibt zwei Schlafzimmer, jedes mit einem Doppelbett. Wir werden vorerst jede in einem eigenen Zimmer verschwinden. Sollten noch mehr Leute auftauchen, können wir immer noch zusammenrücken. Zudem haben wir unseren eigenen Sanitärbereich mit Dusche und Toilette. Welch Luxus! Und wie freue ich mich auf das warme Wasser.
Als ich meine Wanderhose ausziehe, erschrecke ich mich zu Tode. Meine Schienbeine sind beide knallrot, leicht geschwollen und heiß. Ich hatte vorhin beim Laufen schon das Gefühl, als würden sie brennen, habe es da aber noch auf die Außentemperatur geschoben. Nun befürchte ich eher, dass es eine allergische Reaktion auf meine neue Wanderhose ist, dass sie irgendwie scheuert oder dass mich etwas gestochen hat. Na, das kann ja heiter werden. Ich zeige Gabi das Schlamassel, aber auch sie weiß keinen Rat. So versuche ich mein Glück mit After Sun Creme.
Sushi mit Gesicht
Meine Mitbewohnerin ist genau wie ich für heute absolut fertig und möchte im Restaurant auf dem Campingplatz essen. Gemeinsam machen wir uns um viertel vor acht auf den Weg. Neben uns gibt es nur ein weiteres Pilgerpärchen auf der großen Außenterrasse. Die beiden anderen ignorieren uns aber geflissentlich, während wir uns an unserem Tisch kichernd Geschichten erzählen. Das Super-Bock-Bier sorgt für Stimmung und genug zu erzählen haben wir auch. Wieso wir den Weg gehen, was wir sonst in unserem Leben treiben und wie der heutige Tag verlaufen ist.
Unser Abendessen für neun Euro ist mäßig, aber angesichts des Preises verschmerzbar. Es gibt eine ziemlich verkochte Gemüsesuppe vorweg, anschließend Fisch mit Gesicht (ich bin eine absolute Niete, wenn es darum geht Fisch zu essen, den man noch als ganzen erkennen kann), der leider an manchen Stellen stark an Sushi erinnert, so wenig gar ist er. Zum Abschluss gibt es dann aber noch ein wirkliches Highlight, einen entkernten Bratapfel, der mit Zimt und Zucker gefüllt ist.
Als wir aufgegessen haben, kaufen wir noch für jede zwei Super-Bock und nehmen diese mit auf unsere Veranda. Unsere Pilgernachbarn sind alle bereits pflichtschuldigst im Bett, dabei ist es noch nicht mal halb zehn. Wir bleiben noch eine Stunde draußen und erzählen aus unserem Leben, beide mit der Quintessenz „nichts zu bereuen“ und „alles ist für etwas gut“.
Gabi hofft, unterwegs herauszufinden, wieso sie so unzufrieden ist, obwohl sie eigentlich allen Grund hätte, glücklich zu sein. Ich stelle fest, dass ich noch kein Motto habe. Ich will eigentlich nur die Begeisterung vom letzten Jahr erneut einfangen. Um halb elf gehen wir schlafen. Wir sind hundemüde.
Nächtliches Gedankenwälzen
Das Zimmer teile ich mir nur mit ein paar Spinnen, sonst ist niemand mehr gekommen. Ich wälze mich sicher zwei Stunden hin und her, immer verfolgt von dem Gedanken, dass ich mich dringend ausruhen müsse. Doch mir abwechselnd entweder zu heiß oder zu kalt. Nach zwei Stunden entscheide ich mich für Fenster auf und Schlafsack als Decke. Dann geht es.
Erstes Fazit: Es ist ein völlig anderer Weg. Es gibt sehr wenige Pilger und die, die da sind, sind fast ausschließlich deutsch. Ich nehme mir schwer vor, es unvoreingenommen auf mich zukommen zu lassen, doch die Versuchung zu vergleichen, ist groß, und im direkten Vergleich kackt Portugal gerade heftig ab. Letztes Jahr hatte ich gleich zu Beginn den wundervollen Rob als Weggefährten. Diesmal bin ich allein gelaufen und mein Körper ist noch weit entfernt von der Form des letzten Jahres.
Mein Po und meine Oberschenkel pulsieren. Als ich vorhin von der Veranda aufstehen wollte, bin ich fast nicht hochgekommen, als ich mich wenig später setzen wollte, bin ich nicht ohne Schmerzensschrei runtergekommen. Das Gute am heutigen Tag: ich habe mit Gabi eine tolle Mitpilgerin in meiner Hütte vorgefunden, die meinen Abend nun doch noch schön hat ausklingen lassen. Leider werden sich unsere Wege vermutlich bereits morgen trennen, denn die Tschechin will den klassischen Weg über Rates gehen.
Schauen wir mal, wie es weitergeht. Wenn ich meinen eigenen Plan einhalte, so erwarten mich morgen fast 30 Kilometer bis nach Fao. Das wird sicher auch kein Spaziergang. Und damit Boa Noite.
Kommentare & Feedback
Bist du selbst schon den Caminho Portugues gelaufen? Wie hat er dir gefallen? Hast du auch mit dem Untergrund gekämpft oder hat dich die Euphorie darüberhinweg getragen? Ich bin wie immer gespannt auf deine Meinung, eigenen Erlebnisse und Ergänzungen.
Zeitreise
Vorwärts: Du glaubst, ich sei am Tiefpunkt? Von wegen, nach unten ist noch viel, viel Luft, wie ich auf meinem Caminho-Stück von Lavra nach Fao eindrucksvoll unter Beweis stelle, während ich missmutig auf dem Holzweg bin, auf den Brettern, die die Welt bedeuten, ganz neue Gefühle entwickle und kurz vor dem Fao-nale ein unmoralisches Angebot erhalte.
Rückwärts: Hast du verpasst, wie ich mit meinen Eltern die Stadt erkundet habe? Dann komm noch mal mit zum Anfang in Porto und sei hautnah mit dabei, wenn wir uns überpünktlich auf den Weg machen und jeder von uns mit seinen eigenen Reisedämonen zu kämpfen hat.
Spannend, wie es weitergeht.
Die Talfahrt beginnt erst. Der zweite Tag wird richtig übel 🤣🤣
Hallo Audrey, ich bin grade auf dem Camino Frances unterwegs – inzwischen zwischen Sarria und Portomarin- es ist kalt, es regnet und aus der Ferne grüßen die schneebedeckten Berge. Aber es ist trotzdem besonders hier zu sein. Ich wünsche Dir alles gute, freu mich wieder von Dir zu lesen. Bon Camino! Ute (bin zum ersten Mal unterwegs)
Genieß es, liebe Ute. Wo bist du gestartet? Zwischen Sarria und Portomarin ist es ja schon fast vorbei. Buen Camino. Ich war damals ab Sarria ganz schön sentimental 😊
Ich habe nur zwei Wochen Zeit und ich wusste nicht so genau, ob meine alten Knochen mit Rucksack und Wegstrecke zurecht kommen. Eine Freundin hat gefragt, ob ich mitkomme und wir haben uns Triacastela als Start überlegt. Wir haben also noch den größten Teil unserer Strecke vor uns. Du hast mir Lust darauf gemacht es mal alleine zu versuchen! Viele Grüße Ute
Hast du meinen Camino Frances gelesen? Ich kann es nur empfehlen!
Schön geschrieben 👍
Danke 😊
Ein Glück will ich .. Noch … Nicht nach Portugal .. 😊 😊
Es lag nicht an Portugal, sondern an mir 😊
Nachdem ich bereits 2x Teile des Frances und 3 x den Primitivo gegangen war, konnte ich dem Portugues nicht viel abgewinnen. Weder 2015 der Küstenweg noch 2017 der Central haben mich so gefesselt, dass ich nochmal dort pilgern will. Aber viele sehen das komplett anders – und das ist gut so.
Ich würde ihn gern noch mal gehen, um ihn dann komplett zu genießen. Ich war einfach in nem schlechten Mindset
Vor dem Primitivo habe ich bisher noch ein bisschen Muffe. Aktuell laufe ich den Norte in Teilen. Ende Mai geht es ab Santander weiter. Freu mich schon
In diesem Jahr gehe ich zum 11. Mal einen Camino.. diesmal auch den portugiesischen Küstenweg. Meine Erfahrung, jeder Weg ist wirklich anders, und Du wirst bekommen, was Du brauchst (nicht was du glaubst zu brauchen), wenn Du offen bleibst, was der Camino Dir schenken will. Buen camino
Hallo Hans-Jakob, das kann ich nur bestätigen. Es ist ja schon zwei Jahre her und es sollte alles sein Gutes haben 😊
Pilgern ist kein Pony-Reiten, sagt man so? 😉
Leid und Freud kommen einmal mehr gut rüber, Audrey.
Meine Füße oben haben mal allergisch reagiert.
Socken gewechselt, aber nie die Ursache herausgefunden.
Fisch mit Gesicht, haha… sicher frischer als die Stäbchenfische 🙂
LG R
Hi,
hast dir wohl nicht erwartet, dass du quasi durch Portugal „bretterst“. Ich muss die anderen Beiträege jetzt auch noch alle lesen, um die Küstenvariante vielleicht jetzt schon für mich ausschließen zu können. Was ich bisher davon sehe, sieht nicht so gut aus, um mich für diese Variante zu begeistern. Dass es stimmungsmäßig bei dir bergab geht, könnte man ev. schon an der spärlichen Anzahl von Bildern im zweiten Teil des Beitrages erahnen.
LG
Bernhard
Toll weiter so
Danke dir – bisschen was zu lesen ist ja schon für dich da 😊
Hey Audrey,
nachdem du dich schon so fleißig durch alle meine Camino Francés-Texte gelesen hast, werde ich das bei dir jetzt auch endlich machen. Text 1: Check! Du schreibst herrlich erfrischend und ich denke, ich weiß, wieso unsere Blogs miteinander verglichen wurden 😀
Ich habe gestern total spontan entschieden, dass ich den Caminho Portugues im ersten Halbjahr 2020 als nächsten Camino in Angriff nehmen werde <3
Meine erste Fernwanderung auf dem französischen Camino ist jetzt fast 2 Jahre her. Seitdem schwärme ich davon und habe es doch immer noch nicht geschafft, endlich wieder zu starten. Aber das Gute: Wenn ich mir etwas final in den Kopf gesetzt habe, wird das auch gemacht. Und das ist jetzt endlich so weit 😉
Bin gespannt auf die weiteren Texte!
Schöne Grüße
Caro
Hey Caro,
ich habe auch sofort verstanden, was unsere Texte miteinander gemeinsam haben – den nötigen Ernst 😉
Schön, dass du wieder losgehst. Immer toll, wenn man etwas zu tun entschieden hat. Der Portugiesische hatte es mir nicht ganz so angetan, wie du sehen wirst.
Ich werde zu der Zeit übrigens meinen Camino del Norte fertig mache (und dann auch irgenwdann hier aufschreiben werden). Das ist landschaftlich mein absoluter Favorit. Schade, dass ich ihn stückeln musste. Aber das hat auch was. Jedes Mal komplett neue Camigos.
Viel Spaß beim Lesen (und gern auch kommentieren)
Audrey
Hi Audry. Hier ist wieder Hardy vom Camino Fraces. Nun gehe ich mit Dir den Weg bis zum Ende Der Welt. Die erste Etappe war auch nicht so prickelnd, weil es auch noch in Strömen regnete. Ich war die ersten Etappen mit einem Freund unterwegs. Allerdings nur bis Ponte de Lima, dann ging es nicht mehr und ich bin alleine weiter. Ich bin schon gespannt, wie Dir der Portogues gefallen hat. Bom Camino und bis zumnächsten Mal. Hardy😇
Hardy, Mensch, was für eine Auszeichnung, dass du dir jetzt auch noch den Portuguese vorknöpfst 🥰
Lass dich von meiner anfänglichen schlechten Laune bloß nicht abschrecken – es wird mit der Zeit 😂