Fremdgehen mit… Stefan, 41, Aachen

In der 3. Ausgabe von „Fremdgehen mit“ erzählt Stefan, 41, aus Aachen wie man dem Burnout mit einem Camino ein Schnippchen schlägt, ein perfektes, kaltes Buffet zaubert, Freundschaften rettet, und Menschen trifft, die nie aufgeben #Camino #Erfahrungsbericht #Blogprojekt #Jakobsweg #Caminofrances #Moselcamino #ViaMosana #läuftbeiihr"

Fremdgehen mit… Stefan, 41, aus Aachen – oder wie man dem Burnout mit einem Camino ein Schnippchen schlägt, ein perfektes, kaltes Buffet zaubert, Freundschaften rettet, als großes Häufchen Elend aufgesammelt wird, Schuhe verschleißt, sich von Nickelback in den Hintern treten lässt und Menschen trifft, die nie, nie, nie aufgeben.

 

Wer ist Stefan und wie kommt er ins Wanderland?

Stefan gehört wie Norbert und Annette zu den Menschen, die ich (bisher) nie persönlich getroffen habe. Dennoch wusste ich ein wenig über ihn und seinen Jakobsweg, denn genau wie ich hat er seine Camino-Erlebnisse verbloggt. Unser erster, richtiger Kontakt ergab sich, als er sich mit Fragen rund um Unterkünfte und Streckenplanung für den Mosel-Camino meldete. Seitdem höre ich eigentlich allsonntäglich von ihm, wenn er seinen (wohlwollenden) Senf zu meinen Beiträgen dazugibt.

Als Stefan von meinem Projekt las, meldete er gleich Interesse an, daran mitzuschreiben. Ich war gespannt auf das Ergebnis. In seinen eigenen Erzählungen hatte ich bereits gelesen, dass er sich über den Mosel-Camino eher gequält hatte, den Camino Francés zuvor jedoch gut für sich zu nutzen wusste. Dass es auch dort einige Auf und Abs gab, hatte ich auf dem Schirm. Dennoch musste ich heftig schlucken, als ich den Text las, den er mir dann schickte.

Stefan zog sich nämlich einmal komplett für mich aus. Vielleicht ist Seelenstriptease vor Fremden irgendwie leichter? Auf dem Camino erlebt man ja auch immer wieder Momente, in denen man sich fragt, wieso um Himmels Willen man etwas derart Intimes unbekannten Menschen anvertraut.

Das Schöne an seiner Geschichte, die, wie er selbst sagt, jedes Jakobswegs-Klischee erfüllt, ist nämlich, dass es die Geschichte einer Entwicklung ist: ihr bekommt Einblick in sehr persönliche Krisen, Gefühlschaos und in ein verdientes Happy End, das sich allerdings erst weit hinter Santiago einstellte.

 

Harte Fakten & Standardfragen

Alle Pilger, die sich in diesem Projekt zu Wort melden, werden mir fünf feststehende Fragen beantworten und natürlich kurz verraten, wer sie sind und wann sie auf welchem/n Camino/s unterwegs waren.

Dann schauen wir uns doch mal an, mit wem wir es heute zu tun haben.

Bis León hat Stefan es schon mal geschafft. Ob sein zufriedenes Grinsen an den neuen Schuhen liegt?

Wer bist du?

Stefan, 41, aus Aachen

Welche Caminos bist du wann gelaufen?

  • Camino Frances von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Santiago de Compostela (Oktober/November 2018, 800 km)
  • Mosel-Camino von Koblenz-Stolzenfels nach Trier (April 2019,  180 km)
  • Via Mosana von Aachen nach Lüttich (August 2019, 50 km)

Mit wem warst du unterwegs?

Ich bin alleine losgezogen, weil ich mit mir selbst ins Reine kommen wollte. Da ich keine Ahnung hatte, wie und ob ich den Camino überhaupt schaffe, wollte ich niemandem zur Last fallen, aber gleichzeitig auch auf niemanden Rücksicht nehmen müssen.

Umso dankbarer bin ich, dass ich unterwegs die Bekanntschaft einiger Pilger machen durfte. Das Beisammensein in den Herbergen, gemeinschaftliches Abendessen und/oder Frühstück hätte ich nicht missen wollen. Abgesehen davon wäre ich wahrscheinlich bekloppt geworden, wenn ich die ganze Zeit mit mir allein gewesen wäre.

 

Wieso bist du auf den Jakobsweg gegangen?

Für die Antwort auf das „Wieso?“ muss ich ein bisschen weiter ausholen: Ich habe einige Jahre lang in der Nähe von Frankfurt am Main gearbeitet. Für mich als Rheinländer war Hessen schon ein kleiner Kulturschock. Die Kollegen waren super nett, die Arbeit interessant, doch auch nach sechs Jahren hatte ich nicht die Aufgaben und die Verantwortung, die mir versprochen worden waren. Die Tage, an denen ich gerne zur Arbeit ging, wurden immer seltener.

Als mich ein Headhunter anrief, entschloss ich mich nach längerem Nachdenken für eine Luftveränderung. Im Nachhinein betrachtet war das ein schwerer Fehler: innerhalb von zwei Jahren wurde aus einem interessanten Job in einem tollen Team mit halbwegs ausgeglichener Work-Life-Balance ein Marathon von 80-90 Stunden pro Woche als Einzelkämpfer. Ich war zunehmend genervt von mir selbst, war gereizt und dauermüde, hinzu kamen Augenzucken und Herzrasen. Das Ganze garnierte ich mit deutlich zu viel Kaffee und ungesunder Ernährung.

Nach Ostern 2018 hätte ich dann endlich mal so etwas wie Urlaub gehabt, den ich aber nicht genießen konnte, da ich mich auf „Erreichbarkeit für das Projekt“ eingelassen hatte. Das Ergebnis: nullkommanull Erholung. In dieser Zeit reifte in mir der Entschluss, dass ich definitiv dort weg müsse, wenn ich mich nicht völlig kaputt machen wollte.

Ich kündigte, ohne einen neuen Job in der Hinterhand zu haben. Der Entschluss, erst einmal mindestens drei Monate lang nichts zu tun, war schnell getroffen. Ich hatte ein bisschen Geld zur Seite gelegt. Arbeitslosengeld gibt es bei eigener Kündigung ja erst nach zwölf Wochen Sperrfrist und ich hasse es, von jemandem abhängig zu sein.

Der Jakobsweg spukte mir schon lange durch den Hinterkopf und ja, ich gebe zu, Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ hat mir auch richtig gut gefallen. Mit den verschiedenen Wegen hatte ich mich vorher gar nicht groß beschäftigt. Ich wollte den Camino Francés laufen.

Eine Woche nach meiner Kündigung hatte ich Bahntickets nach Saint-Jean und ein Bett in einer der Herbergen für die erste Nacht gebucht. Ich wollte zur Ruhe kommen, mich auspowern, dem immer mehr Überhand nehmenden Alltagstrott entkommen. Also eigentlich alles so richtig schön klischeehaft.

Was war dein schönster Moment?

Es fällt mir sehr schwer, DEN schönsten Moment zu benennen. Dazu gab es viel zu viele positive Dinge, die jedes für sich genommen einzigartig und schön waren.

Am prägendsten war sicherlich der Abend in der Casa Paderborn in Pamplona. Wir waren ein bunt gemischter Haufen mit Lust auf Unterhaltungsprogramm. Jede gute Party endet ja für gewöhnlich irgendwann in der Küche, bei uns wurde es in Ermangelung selbiger das Treppenhaus.

Hospitalera Erika (5 Sterne deluxe, Fleißbienchen und eine dicke Umarmung!) saß bei uns und fragte irgendwann, ob wir nicht noch Lust auf ein Gläschen hätten? Sie hätte ein paar Flaschen Wein von Pilgern geschenkt bekommen. Selbstredend, dass niemand Nein sagte. Jeder von uns kramte alles, was die Rucksäcke an Snacks und Süßigkeiten hergaben, als kaltes Buffet hervor. Die kleine Party wurde dank lauem Spätsommerabend in den Garten verlagert und ging weit, WEIT, bis nach Sperrstunde. Die Strapazen der Pyrenäen waren so ganz schnell vergessen.

Was diesen Abend noch ganz besonders machte, war die Begegnung mit Petra und Tanja. Wir beschlossen spontan, ab jetzt gemeinsam zu pilgern. Beide haben mich über die nächsten Wochen auf meinem Camino mal mehr, mal weniger direkt begleitet und sind so zu meinen intensivsten Bekanntschaften geworden.

Blick vom Alto del Perdón hinter Pamplona, Camino Frances
Blick vom Alto del Perdón hinter Pamplona. Endlich Ruhe, Einsamkeit und Weite. Hier hatte Stefan das allererste Mal das Gefühl, wirklich auf dem Camino angekommen zu sein. Gemeinsam mit Petra und Tanja genoss er dort oben sicher über eine Stunde die Aussicht.

Was war dein schlimmstes Erlebnis?

Es war kein Erlebnis im klassischen Sinne. Es waren vielmehr Gedankengänge, die mich in der Dauerschleife meines Kopfkinos mehrere Tage in der Meseta (wo auch sonst?) begleiteten.

Ein Mensch, den ich als meinen mit Abstand besten Freund bezeichnen möchte, hatte sich absolut nicht für mein Jakobswegvorhaben begeistern können. Wir hatten ohnehin seit einigen Monaten nicht das allerbeste Verhältnis.

Ich hatte durch die Arbeit meine sozialen Kontakte sehr vernachlässigt. Dadurch konnte ich in einer für ihn schwierigen Zeit nicht für ihn da sein. Seine Reaktion auf mein Vorhaben lautete in etwa: „Wenn Du meinst, das jetzt auch noch tun zu müssen…“ Was mich dabei so verärgert hatte, war nicht WAS er sagte, sondern WIE er es tat. Die leisen Zwischentöne störten mich.

Am Canal de Castilla vor Fromista, Camino Frances
Der Vormittag am Canal de Castilla war der letzte friedliche, bevor Stefan in der Mesata komplett vom Camino-Blues überrollt wurde. Das ist übrigens sein absolutes Lieblingsbild.

Kurz hinter Carrión de los Condes, also während des berüchtigten 18-Kilometer-Abschnitts durch das Nichts, bekam ich eine WhatsApp von ihm, die mich schon wieder total auf die Palme brachte. Erneut war es nicht das, was er schrieb, sondern diesmal viel eher, was nicht. Ich war es inzwischen absolut leid, mir von anderen sagen zu lassen, was ich zu tun oder zu lassen hätte und dass sie mein Tun kritisierten, war auch nicht mehr akzeptabel; ich wollte nicht länger fremdbestimmt sein, so dämlich das auch klingt.

Im Anschluss habe ich lange, sehr lange darüber nachgedacht, ob es sich wirklich lohnt, diese Freundschaft nach fast 25 Jahren noch aufrechtzuerhalten und suchte nach Gründen dafür und dagegen. Es erschreckte mich total, dass ich ernsthaft darüber nachdachte, einen für mich so wichtigen Menschen aus meinem Leben zu verabschieden – und das aus einem eigentlich total nichtigen Grund.

Irgendwann habe ich mir dann selbst verboten, weiter über das Thema nachzudenken. Wenn ich ihm ein genauso guter Freund sein wollte, wie er es für mich war, musste ich seine Meinung akzeptieren. Ich musste sie ja nicht gut finden.

Zur gleichen Zeit beschloss ich übrigens auch, nicht mehr in die Vergangenheit zurückzuschauen, sondern nach vorne. Das war ein Moment der viel bei mir veränderte.

Im Nachhinein muss ich mir vor allen Dingen eingestehen, meinen Freund damals an der vollkommen falschen Stelle abgeholt zu haben. Er hatte ähnliche Probleme wie ich (noch schwerwiegendere, wie ich später erfahren sollte). Ich aber war viel zu sehr auf mich fixiert und habe ihm unvermittelt vor den Latz geknallt, dass ich die nächsten fünf bis sechs Wochen gegebenenfalls abends, wenn überhaupt, erreichbar sein würde. ICH war das Problem bei der ganzen Sache. Allein für diese Erkenntnis hat sich der Camino für mich gelohnt.

Wir sind übrigens immer noch sehr gut befreundet. Vielleicht nicht mehr ganz so intensiv wie früher, aber das liegt (auch) an der geographischen Entfernung zwischen uns beiden.

Wie war das Ankommen in Santiago für dich?

Wunderschön. Schrecklich. Emotional.

Ich war glücklich und stolz, es bis Santiago geschafft zu haben. Gleichzeitig war ich tieftraurig, dass es vorbei war. Es war toll, die letzten Kilometer alleine unterwegs zu sein, zur Ruhe zu kommen, meine Gedanken zu ordnen und mich auf das Ende meiner Reise vorzubereiten. Gleichzeitig war es frustrierend, die Ankunft mit niemandem, der mir etwas bedeutet, teilen zu können, niemandem in die Arme zu fallen.

Als ich dort war, habe ich mich auf die Plaza gesetzt und bestimmt zwei Stunden lang in die Luft geguckt. Danach stromerte ich eine Weile ziellos hin und her, konnte aber nicht wirklich etwas mit mir anfangen. Bis heute weiß ich nicht, wie ich diesen Moment gefühlstechnisch einordnen soll. Es war alles und davon zu viel auf einmal.

Wie fühlt sich Ankommen an? Stefans Gesicht zeigt den Mix der Emotionen sehr deutlich.

Ich ging vorerst nicht in die Kathedrale, sondern verkrümelte mich in die kleine Kirche San Fructuoso, gleich links, wenn man am Parador die Treppe hinunter geht. Dort war ich ganz alleine. So hat wenigstens niemand mitbekommen, dass ich wie ein Schlosshund geheult habe.

Der Jakobsweg in fünf Hashtags

#Freiheit, #Selbsterkenntnis, #Leben, #Strapazen, #Genuss

 

Die Qual-der-Wahl-Fragen

Kommen wir zu den fünf Fragen, die sich Stefan aus einer Liste von 20 ausgesucht hat. Damit es von Woche zu Woche ein wenig Abwechslung gibt, sind die nämlich jedem Pilger selbst überlassen. Stefan schickte mir sicherheitshalber die Antworten auf zehn Fragen. Das hier sind die Fünf, die auf mich den den meisten Eindruck gemacht haben. Lest selbst!

Würdest du den Weg noch einmal gehen?

Die Frage ist nicht ob, sondern wann. Dieses Jahr wird es leider nichts mehr. Das lassen weder mein Resturlaub noch meine Gesundheit zu. Ein Sturz beim Abstieg ins Nachtigallental auf dem Weg nach Ponferrada bescherte mir einen Meniskusriss, der in Ruhe ausheilen muss.

Kommendes Jahr im April geht es aber von Porto nach Santiago und weiter ans Ende der Welt, vielleicht auch bis nach Muxia. Zur Überbrückung stückele ich mir an den Wochenenden die Via Mosana zusammen. Ich muss nur aufpassen, dass ich das Knie nicht überlaste. 50 Kilometer von Aachen bis Lüttich habe schon geschafft. Der Rest folgt mit und mit, je nach Lust und Laune.

Dennoch ist es nicht das Gleiche. Die Jakobswege außerhalb Spaniens mögen landschaftlich herrlich sein, aber mir fehlt der Camino-Spirit, die Camino-Magic oder wie auch immer man diese ganz spezielle Verbindung zwischen den Pilgern nennen möchte. Wenn ich sage, ich hätte das Camino-Fieber, meine ich nicht die Sehnsucht nach dem Weg als solchem, da kann ich auch eine Woche durch die Eifel laufen. Ich meine dieses ganz besondere Lebensgefühl, und DAS will ich definitiv wieder erleben.

Wie erging es dir, als du wieder zuhause warst?

Ich war komplett durch. Abgesehen davon, dass Füße und Knie noch bestimmt eine Woche lang gemeckert haben, bin ich mental in ein ganz tiefes Loch gefallen. Da ich zu der Zeit noch keine neue Arbeit hatte, blieb dem Kopfkino genug Raum, sich zu Hause wieder hochzufahren.

All die Dinge, die man Tag für Tag erledigen muss, dazu noch die Jobsuche – ich sehnte mich einfach nur auf den Camino zurück. Für alles andere konnte ich bestimmt zwei, drei Wochen lang überhaupt keine Motivation aufbringen. Teilweise habe ich abends in mein Kissen geschrien, weil ich so frustriert war. Ich konnte nicht verstehen, wie mich fünf Wochen Wanderung (im positiven Sinne) so mitnehmen konnten.

Jeden Tag habe ich meine Fotos angeschaut, in meinem Tagebuch gelesen und dort immer wieder Dinge ergänzt, die mir auf dem Weg zu unerheblich schienen, um sie aufzuschreiben. Als ich fertig war, hatte sich mein Text verdoppelt.

Ich las die Reiseberichte und Blogs anderer Pilger, um wieder ein bisschen in Camino-Stimmung zu kommen. So stieß ich übrigens auch auf Audreys Blog. Irgendwann hat es Klick gemacht, und ich habe akzeptiert, zu Hause zu sein. Erst dann konnte ich mich wieder auf das konzentrieren, was für das tägliche Leben relevant ist.

Meine Camino-Sehnsucht habe ich ein wenig kanalisiert, indem ich meine Erlebnisse in meinen eigenen, kleinen Blog gepackt habe und indem ich einfach die nächsten Caminos in Angriff genommen oder geplant habe.


Santo Domingo de la Calzada. Eigentlich berühmt für sein Hühner-Wunder. Für Stefan war der Hof der Kirche mit dem Brunnen und dem Olivenbaum ein Ort, um zur Ruhe zu kommen, nachdem er sich ein wenig übernommen hatte, weil er es zu schnell angegangen war.

Welcher Mensch hat dich am meisten bewegt und warum?

Um genau zu sein, waren es zwei Menschen. Ich kenne nicht einmal ihre Namen, aber sie haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Es handelte sich um flüchtige, zufällige Treffen, die sich interessanterweise beide auf der Etappe von Triacastela nach Sarria ereigneten.

Die erste Person, eine ältere Dame – ich schätze sie auf mindestens 70 Jahre – traf ich in einer Bar, in der wir beide Schutz vor dem galicischen Regen suchten. Sie setzte sich zu mir und meinem Kaffee an den Tisch, und wir kamen schnell ins Gespräch. Recht unvermittelt erzählte sie mir, dass ihr Mann seit langer Zeit dement sei. Die beiden hätten früher viele, lange Wanderungen auf der ganzen Welt unternommen, nur den Camino seien sie nie gelaufen.

Sie hätte ihren Ehemann mehrere Jahre so gut sie konnte zu Hause gepflegt, doch nun wäre die Krankheit so weit fortgeschritten, dass er in ein Heim musste. Auch dort hätte sie sich um ihn gekümmert. Als schließlich ihre Kinder befanden, dass sie auch endlich mal wieder an sich selbst denken müsse, hätte sie beschlossen, den Camino zu gehen. Für sich und für ihren Mann. Sie schloss damit, dass sie hoffe, die Antwort auf die Frage, wie es weitergehen solle, zu bekommen.

Die zweite Person traf ich, als ich erneut Schutz vor dem Regen suchte – diesmal unter dem Vordach einer geschlossenen Herberge. Es handelte sich um einen Italiener der an multipler Sklerose erkrankt war. Er hatte sich vorgenommen, etwas Verrücktes zu machen, solange er noch dazu in der Lage wäre. Die Idee, quer durch Spanien zu laufen, schien ihm verrückt genug, und so ging er los, obwohl ihn seine Familie für einen Spinner hielt und seine Ärzte ihm entschieden davon abgeraten hätten.

Ihm war das egal. Sein Motto war: „Sei’s drum. Wenn ich umfalle, ist es halt so!“ Er sollte in Santiago übrigens der einzige, mir bekannte Pilger sein, den ich einen Tag nach Ankunft vor der Kathedrale traf.

Der Stausee von Portomarin von der Brücke aus, über die man den Ort auf dem Camino verlässt. Da der See kaum Wasser führte, hat man die Ruinen des alten Ortes schön sehen können. Zusammen mit dem Sonnenaufgang und dem Nebel über dem See Audreys erklärtes Lieblingsbild.

Beide Menschen haben mir durch ihre Geschichten, wie auch durch ihren Mut, so offen und positiv damit umzugehen, gezeigt, wie klein doch meine eigenen Probleme, beziehungsweise vielmehr das, was ich für Probleme halte, sind.

Bus oder Beine? Läufst du jeden Zentimeter oder überspringst du auch schon mal?

Am Anfang hätte ich gesagt: „Ich ziehe das durch, komme was wolle!“ Dass es anders kommt, lernte ich bereits auf der ersten Etappe. Mir war schon den ganzen Morgen schlecht. Meine fürsorgliche Hospitalera in Saint Jean hatte darauf bestanden, dass wir alle ausreichend essen. Nun lag mir zu viel und zu schweres Essen im Magen. Eine ordentliche Portion Aufregung kam sicher ebenfalls hinzu, denn ich hatte einen Heidenrespekt vor den Pyrenäen. Vielleicht bin ich die ersten Kilometer auch zu schnell angegangen, weil ich mit meiner Begleitung mithalten wollte. Es ging mir jedenfalls mies.

Die ersten zehn Kilometer bis nach Orisson hatte ich mich nur gequält und pausierte dort über eine Stunde. In Trippelschritten ging es danach weiter. Inzwischen hatte ich nicht mehr nur mit meinem Magen, sondern auch mit dem immer bescheidener werdenden Wetter zu kämpfen. Ich hatte wirklich Sorge, es nicht mehr im Hellen nach Roncesvalles zu schaffen und hatte mich schon damit angefreundet, umzukehren.

Just in diesem Moment hielt das Auto einer amerikanischen Familie neben mir und fragte mich tropfendes, riesiges, am Straßenrand sitzendes Häufchen Elend, ob sie mich vielleicht ein Stück mitnehmen könnten. Auf diese Weise habe ich etwa drei Kilometer (Höhe der Marienstatue bis zu dem Punkt am Steinkreuz, an dem der Camino sich bergauf Richtung Rolandsquelle von der Straße trennt) gecheatet.

Ich habe sogar noch zwei weitere Male auf vier Räder zurückgegriffen. Das eine Mal vor León, als sich meine Wanderschuhe verabschiedeten, beziehungsweise als sich gleich beide Sohlen von den Schuhen lösten. Ich lief auf dem weichen Teil des Schuhs weiter, was sich wegen der fast ausschließlich geschotterten Wegen wie der Gang eines Fakirs auf seinem Nagelbrett anfühlt. Ich bekam arge Probleme mit den Füßen und bin nur noch bis zur Bushaltestelle im nächsten Ort gelaufen. So blieb mir immerhin der Weg durch die Industriegebiete erspart, und in León fand ich dann tolle, neue Schuhe.

Für das zweite Mal könnte ich mich aus heutiger Sicht ohrfeigen. Es war der einzige Tag, an dem ich meinem inneren Schweinehund nachgegeben habe. Von der Herberge in Ruitelan habe ich mich hinauf nach O Cebreiro bringen lassen. An diesem Tag konnte und wollte ich einfach keinen Berg hochlaufen, zumal wieder Schnee angekündigt war. Carlos, einer der Hospitaleros der Herberge Pequeno Potala, hat mich mit seinem schrottreifen Ford Fiesta gefahren. Die Fahrt war eine Offenbarung, und als Ingenieur hatte ich tiefes Mitleid mit dem braven Auto.

Kurz vor Foncebadón: Fünf Minuten vorher war noch alles grün. Durch den Schnee war alles still, das einzige, was man gehört hat, war der eigene Atem und das Stapfen im Schnee.

Meine Strafe folgte auf dem Fuße. Bei dem später folgenden Anstieg zum Alto do Poio bis hinunter nach Triacastela goss es wie aus Kübeln und ein ordentlicher Sturm kam im rechten Winkel von der Seite.

Was war dein Camino-Soundtrack?

Abends zum Runterkommen zuhause oder generell, wenn ich mich aufgeregt habe, höre ich mir die Orchester-Suite „The Inner Light“ von Jay Chattaway an. Dieses Musikstück hat mich auch auf dem Camino begleitet, und ich habe es mir gerne (gerne auch laut) auf die Ohren gegeben, weil es häufig zu meiner Stimmung gepasst hat.

Wenn ich normalerweise wandern bin, habe ich immer etwas auf den Ohren, egal ob Musik, Podcast oder Hörbuch. Auf dem Camino war das anders. Da hat mich Musik eher gestört, denn ich konnte mich nicht so aufs Laufen konzentrieren, wie ich wollte. Einen Song habe ich mir aber doch immer wieder angehört, nämlich „What are you waiting for?“ von Nickelback.

Der Text sagt einem durch die Blume „Komm in die Pötte und mach endlich!“ Nicht nur auf dem Camino absolut hilfreich. Dass man tausende Gründe findet, etwas nicht zu tun, kenne ich nur zu gut. Leider steht zu selten jemand neben oder hinter mir und fragt: „Worauf wartest Du eigentlich noch?!“

Letzte Worte bzw. was möchtest du anderen Pilgern mit auf den Weg geben?

Intergalaktische Protonen getriebene elektrische Wackelarmwerbedroiden!

Abgesehen davon: Lasst euch treiben und nehmt euch Zeit. Der Camino ist kein Wettkampf. Und bitte lasst die anderen zumindest bis sieben Uhr schlafen. Sie werden es euch danken.

 

Kommentare, Fragen und Feedback

Wollt ihr mehr über Stefans Jakobsweg-Erlebnisse erfahren? Dann werft mal einen Blick auf seinen Blog, wo er jeden Schritt festgehalten hat. 

Habt ihr Fragen an Stefan? Schreibt sie gern in die Kommentarfelder. Ich bin mir sicher, er wird ab und zu vorbeischauen und ein Auge auf diesen Beitrag haben.

Lust auf mehr Fremdgehen? Alle Gastbeiträge findest du hier

Möchtet ihr vielleicht selbst mitmachen und eure Geschichte auf diese Weise teilen? Meldet euch gern – sei es hier auf dem Blog, auf Facebook oder per Mail an audreyimwanderland@gmail.com. 

 

Weitere Eindrücke aus dem Wanderland

Ihr seid hier heute zufällig gelandet und fragt euch, wer diese Audrey ist, auf deren Blog ihr euch befindet?

Ihr habt den Beitrag gelesen und würdet gern en détail wissen, wie sich so ein Jakobsweg anfühlt? Dann könnt ihr meine Reisen Etappe für Etappe nachlesen:

Ich muss das weitersagen

15 Gedanken zu „Fremdgehen mit… Stefan, 41, Aachen&8220;

  1. Danke für den authentischen Bericht, wunderbar geschrieben.
    Es ist genauso wie du schreibst, am Mosel camino so schön wie er ist, fehlt die unvergleichliche Camino Magie, die Herberge n, das Miteinander.

    Als bekennender Moselfan bin ich trotzdem jedes Jahr mehrfach dort nur zum wandern. Für mich als Kölnerin eine der schönsten und lieblichsten Landschaften, besonders schön: der Calmont, Europas höchster Weinberg und Klettersteig.

    Liebe Grüße aus Köln,

    Michaela

    1. Hallo Michaela,

      vielen lieben Dank für Deinen netten Kommentar!

      In Köln immer nur auf den Mont Klamott zu klettern, wird auf Dauer ja auch langweilig 🙂

      Bis zu meinem Mosel-Camino war ich zugegebenermaßen noch nie richtig an der Mosel. Aber ja, es ist wirklich schön dort. Als Exil-Kölner in Aachen habe ich Nordeifel und das Hohe Venn zu meinen bevorzugten Exkursionsgebieten erkoren. Landschaftlich auch toll, aber es gibt halt nicht so guten Wein, wie an der Mosel.

      Liebe Grüße in meine alte Heimat,
      Stefan

  2. Vielen Dank für deinen Bericht über deinen Camino! Ich finde es immer wieder verblüffend, wie sehr ich mich mit allen identifizieren kann und mich darin wieder finde.
    Alle Wege sind wunderbar aber der Camino ist einzigartig!
    Lieb Grüße aus Österreich
    Maria

    1. Hallo Maria,

      auf dem Camino finden sich so viele verschiedene Nationalitäten und Charaktere zusammen und jeder erlebt ihn anders. Vielleicht gerade deswegen gibt es diesen speziellen Spirit – und irgendetwas muss ja dran sein, sonst würden nicht so viele Peregrinos davon berichten und süchtig danach werden.

      Vielen lieben Dank für Deinen Kommentar und Grüße nach Österreich,
      Stefan

  3. Wow… was für Fotos! Da kommt in mir direkt der Wunsch auf, den Camino mal im Oktober zu laufen!
    Ich finde ja immer, dass man auch an den Fotos erkennt, wie ein Pilger den Camino (Und seinen Spirit) wahrgenommen hat. Sie passen auf jeden Fall super zu deinem tollen Bericht, Stefan 🙂

    LG & Buen Camino auf den weiteren Wegen!
    Katalin

    1. Hallo Katalin,

      über Deine Rückmeldung freue ich mich ganz besonders! Unbekannterweise, aber Du bist mit Audrey ja auch schon fremd gegangen.

      Aber witzig, ich würde den Camino nämlich gerne noch mal im Frühling pilgern, wenn alles schön grün und/oder bunt ist 😅

      Liebe Grüße
      Stefan

  4. Lieber Stefan, wie Du ja inzwischen gemerkt hast, bin ich Deinen Spuren virtuell gefolgt und habe durch Deine intensiv geschilderten Erlebnisse mit Dir gelitten und mich mit Dir gefreut. Deine emotionale Achterbahnfahrt kann ich gut nachvollziehen.

    Erzählungen wie diese (oder die von Audrey) sind es, die einem so richtig Lust auf den Weg machen. Danke dafür.

    1. Liebe Sonja,

      ich hoffe, die Freude hat überwiegt? Leiden gehört zwar zeitweise dazu, aber das ist ja nicht Sinn der Sache. Wobei es ja diesen alten Witz gibt, in dem es heißt „das sind die Katholiken, die wollen das so!“ 😉

      Aber nichts zu danken – durch das Schildern meiner Erlebnisse, schwelge ich ja auch in Erinnerungen. Also ist das Ganze nicht 100% uneigennützig 😇

      Viele Grüße
      Stefan

  5. Hallo zusammen und ganz besonders hallo Audrey!

    Jetzt, da „meine“ Woche vorbei ist, möchte ich nur kurz danke sagen. Danke an Audrey für die Mühe zum Aufbereiten des Beitrags und an alle anderen fürs Lesen und vor allem danke für die lieben Rückmeldungen.

    …und an alle Pilger: Ultreia!

    Liebe Grüße
    Stefan

    1. Lieber Stefan,

      Danke, dass du deine Woche zu deiner Woche gemacht hast. Ich bin immer wieder fasziniert, wie heftig ihr alle auspackt! Danke für deine Offe

  6. Ich lese auch mit Spannung die Erlebnisse hier mit. Danke Audrey für das Format!
    Lieber Stefan, wundervoll offen und persönlich geschrieben. Mich würde interessieren, ob du deinem Freund deine nachträgliche „Analyse“ auch so offen schildern konntest?
    Das täte ihm vielleicht auch ganz gut!
    Danke für deine Mühe Gruß und weiterhin Buen Camino Rosi

    1. Liebe Rosi,

      schwieriges Thema – ich brauche lange, bis ich mal aus mir rauskomme, mein Freund ist ziemlich stur. Beim den damaligen Problemen war es auch nicht einfach, an ihn heranzukommen. Mit einer profanen Entschuldigung war es da definitiv auch nicht getan.

      Am besten lässt es sich zusammengefasst wohl so ausdrücken: Es gab ein reinigendes Gewitter zwischen uns beiden, bei dem es ordentlich (aber konstruktiv) geknallt hat und so einige Dinge aufs Tapet kamen…

      Grüße
      Stefan

Und was sagst Du?