Etappe 8 auf dem Jakobsweg: Der Weg präsentiert sich steinig und grau, eine Stadt begrüßt uns mit Dauer-Siesta, ein Quartett spielt Karten, und ich falle erst beim Birnenweitwurf unangenehm auf und mache mich dann noch mit einem Kalenderspruch im Leben eines Koblenzers unsterblich (6. Mai 2016, 19 km)
Heute lassen wir es wirklich mal entspannt angehen. Kati und ich stehen gegen sieben auf, gönnen uns in Ruhe das Frühstück mit dem selbstgemachten Brot in der Casa Austria und laufen um acht Uhr in Los Arcos los. Unsere Großgruppe von gestern Abend sehen wir nirgends. Die hatten schon am Vorabend angedeutet, dass sie immer wahnsinnig früh starten, weil sie eher längere Stücke laufen. Die Kurzhaarige hat nicht so viel Zeit und dass die Damen den Ton angeben, zeigte sich ja bereits gestern. Torsten und Olli scheinen sich ebenfalls angeschlossen zu haben. Wir sehen zumindest niemanden mehr und starten wie geplant als Duo Infernale.
Nahtlos knüpfen wir an unser Gespräch von gestern an. Wir können aber nicht nur gut miteinander reden, sondern auch gut miteinander laufen, was weiß Gott nicht jeder kann. Umso mehr genieße ich unsere Mädelszeit. Wir ratschen wie die Waschweiber. Anderen kündigen wir uns vermutlich schon fünf Minuten akustisch mit Geschnatter und Lachsalven an, bevor man uns dann endlich sehen kann.
Die Birne fliegt nicht weit vom Stamm
Um viertel vor zehn sind wir acht Kilometer weiter und in Torres del Rio, dem letzten Ort vor unserem heutigen Etappenziel Viana, das wiederum in elf Kilometern auf uns wartet. In der Herberge Casa Mariela bekomme ich meinen wie immer schon heiß ersehnten café con leche und natürlich einen Stempel. Zwanzig Minuten später geht es weiter. Leider meint der Weg es ab jetzt nicht sonderlich gut mit uns. Mein Wanderführer warnt: sollte man sich heute besonders schlapp und unfit fühlen, so läge das nicht etwa an einem kleinen Tief oder mangelnder Fitness, sondern ausschließlich an der Monotonie und dem stetigen Auf und Ab, das sich nun auf der steinigen Strecke einstellen wird. Es geht über Schotterpisten und die Füße finden das anfangs noch ganz okay, dann aber nicht mehr. Noch dazu weht ein ziemlich starker Wind, der uns auf Softshell-Jacke und Windbreaker umstellen lässt. Gut, dass wir viel zu quatschen haben. Dann geht die Zeit wenigsten vorbei.
In einem Wäldchen machen wir gegen elf erneut Pause. Es ist ein wenig trostlos hier, aber wir richten uns so gemütlich wie möglich auf einem querliegenden Baumstamm ein und packen unser Essen aus. Zum krönenden Abschluss meines Snacks verspeise ich genüsslich eine Birne. Als davon nicht mehr allzu viel übrig ist, hole ich weit aus, den Arm über dem Kopf, den gegenüberliegenden Abgrund fest im Visier und werfe so athletisch, wie ich nur kann.
Plums.
Die Birne fällt original vor Katis Füße. Das miese Ding hat sich in den Ästen über meinem Kopf verfangen und ist somit nicht allzu weit gekommen, sondern geradlinig runtergefallen. Kati kriegt sich nicht mehr ein. Wie früher in der Schule wird erst sie, dann ich von einem üblen Lachflash übermannt. Wir schütteln uns vor Lachen. Tränen laufen. Immer wenn wir uns gerade wieder eingekriegt haben, schaut einer von uns auf das Corpus Delicti zu unseren Füßen, und es geht von vorne los.
Die Birnen-Story ist bis heute eine unserer Lieblingsgeschichten von unserem gemeinsamen Camino-Stück. Vermutlich ist sie für Außenstehende nur halb so lustig, aber diese Früchtchen hat seinen Platz in diesem Blog mehr als verdient.
Weiter geht der Spaß. Es lässt sich dazu furchtbar wenig erzählen, da der Weg wahrhaft wenig Spannendes für uns bereithält. Wir laufen und reden und laufen, während sich neben uns abwechselnd Wäldchen und Felder und auch immer wieder die stark befahrene Landstraße die Klinke in die Hand geben. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie langweilig das erst gewesen wäre ohne Katis Gesellschaft. So gibt es auch wenig überraschend genau zwei Fotos von der Strecke (die anderen hat Kati netterweise gestiftet).
Neben dem tristen Wald oben habe ich noch eins von einer Geröllhalde gemacht, mit der ich offensichtlich die Schönheit der Natur nachhaltig dokumentieren oder den Besitzer des Schuhs auftreiben wollte, der da ambitionslos in der Mitte zwischen den Steinen liegt.
Zwischen den Steinen finden wir außerdem bei genauerem Hinsehen Botschaften, die unter das Geröll geklemmt worden sind. Wir lesen teilweise sehr berührende Nachrichten, die in Erinnerung an Menschen geschrieben wurden, die entweder gestorben sind oder das Leben des Verfassers auf andere Art verlassen haben.
Wir hangeln uns von Raucherpause zu Raucherpause. Es zieht sich ziemlich und umso erleichterter sind wir, als wir gegen halb eins endlich Viana vor uns liegen sehen. Doch die visuelle Nähe ist leider wie so oft ein Trugschluss. Es dauert nämlich noch mal eine gute Stunde, bis wir tatsächlich dort sind, auch wenn wir das Ziel die ganze Zeit vor Augen haben.
Dieses letzte Stück ist auch zugleich das langweiligste und anstrengendste, denn wir laufen nun durchgehend auf Asphalt, der die Füße schön brennen lässt und das immer und immer formschön an der Straße entlang. Wir versuchen, uns gegenseitig mit Motivationsparolen anzutreiben, aber sind nur mäßig erfolgreich, so dass sich die Unterhaltung in dieser letzten Stunde eher auf „ich mag nicht mehr“ und „wie lange dauert es wohl noch“ reduziert. Die von euch, die Kinder haben, kennen das sicher von Autofahrten in den Urlaub.
Kostenlose Fußmassage und High Noon
Als wir Viana endlich erreicht haben, machen wir uns auf direktem Wege zur öffentlichen Herberge, die in einem imposanten Gebäude gelegen ist und neben einem riesigen Speisesaal sogar einen Park im Angebot hat. Neben der Unterkunft befindet sich die Ruine einer Kirche mit einem beeindruckenden Eingangsportal.
Wir sind früh genug in der Unterkunft, als dass wir uns um die Unterbringung keine Sorgen machen müssen. Betten gibt es noch mehr als genug.
Beim Reinkommen werden wir unmittelbar gebeten, unsere Schuhe auszuziehen. Das machen wir natürlich gern. Als unsere bestrumpften Füße dann auf der Noppenmatte stehen, die im Eingangsbereich ausgelegt ist, kriegt Kati sich nicht mehr ein. Der Unterleger hat die Struktur von Massagebällen und genau das ist es, was er kann: massieren. Kati läuft mit seligem Grinsen immer wieder über die Matte und kann nur mit Mühe davon überzeugt werden, den Eingangsbereich zu verlassen und mit mir nach oben auf das Zimmer zu gehen.
Wir landen in einem Sechserzimmer, dessen Matratzen und Kissen mit nicht sonderlich einladendem, blauem Plastik beschichtet sind. Vor meinem inneren Auge tanzen Inkontinenz-Szenarien und Sextanerblasen Samba. Schnell verstecken wir das blaue Übel unter den papierenen Überziehern, die wir ausgehändigt bekommen haben. Ich bin einmal mehr froh, dass ich ein dünnes Schlafsack-Inlay aus Baumwolle habe, das am oberen Ende eine Kissenhülle hat, so dass ich nicht mit dem Gesicht auf dem Papier liegen oder ein T-Shirt drum wickeln muss.
Wir teilen uns das Zimmer mit vier Amerikaner und witzeln, dass uns die drei Männer sicher heute Nacht noch ordentlich akustisch bespaßen werden. Im Endeffekt wird es aber die einzige Frau in der Kombo sein, die durch ihr Schnarchen am Morgen unangenehm auffallen wird.
Deutsche Wiedervereinigung
Nach dem Duschen und Wäschewaschen machen wir uns an die Erkundung der kleinen Stadt. Wir sehen uns die Kirchenruine neben der Herberge noch einmal genau an und finden drinnen Reste alter Wandmalerei vor. Und auch auf der anderen Straßenseite steht ein hübsches Gebäude.
Vor lauter Langeweile machen Kati und ich ein kleines Fotoshooting auf den Treppenstufen. Bis auf die alten Steine ist hier momentan jedoch nicht viel zu holen. Wie so häufig sind wir zur Siesta hier aufgeschlagen und seine Ruhezeit nimmt der Spanier furchtbar ernst. Es geht absolut nada.
Wir laufen an der „Pilger-Oase“ vorbei, einem „Chill Café“, das neben aufbauenden Sprüchen an der Eingangstür drinnen auch noch Meditationen anbietet. Jeder so, wie er es braucht. Wir brauchen es offensichtlich nicht und laufen weiter durch eine Straße mit ein paar Geschäften und Cafés, als plötzlich die Tür eines der Cafés hinter uns aufgerissen wird und Torsten herausgesprungen kommt. Was für eine nette Überraschung. Freudig gehen wir mit ihm rein und sitzen kurz darauf in munterer Viererrunde bei Kaffee und Tee zusammen und warten gemeinsam auf das Ende der Siesta.
Olli und er sind, wie von uns vermutet, heute morgen mit den anderen Deutschen gestartet, haben sie dann aber ziehen lassen. Sie wollten es heute genau wie Kati und ich auch mal etwas langsamer angehen lassen, während die Gruppe bis nach Logroño wollte (das wären insgesamt 29 Kilometer gewesen). Die Jungs erzählen, dass die Stimmung morgens in der Gruppe nicht besonders schön war, weil die beiden Frauen angesäuert waren, dass ihre männlichen Begleiter abends so laut und voll waren, als sie von unserem Gelage zurückkamen. Diese schlechte Stimmung trug dann wohl noch ihr Übriges dazu bei, dass die beiden Mainzer sich abgenabelt haben.
Kati und ich erzählen vom riesigen Speisesaal in unserer Unterkunft und schnell ist der Plan geboren, dass wir uns heute zur Abwechslung mal selbst versorgen können. Uns schwebt ein Tapas-Abend vor. Kartenspielen wäre auch nicht verkehrt. Zwei Stunden sitzen wir noch im Café fest und vertreiben uns die Zeit mit Erinnerungen an unsere ersten Tage auf dem Camino. Auch Laber-Opa ist einmal mehr Thema und löst eine Lachsalve nach der nächsten aus. Wenn der wüsste, was für einen bleibenden Eindruck er bei uns allen gemacht hat. Er würde anderen Pilgern mit Sicherheit erzählen, dass er eine lebende Camino-Legende ist.
Die Karten werden neu gemischt
Als die Siesta endlich vorbei ist, öffnet neben unserem Café doch tatsächlich ein chinesischer Ramschladen seine Pforten. Wir haben Glück. Neben viel unnötigem Krams werden wir fündig und sind kurz darauf stolze Besitzer eines Kartenspiels.
Im Supermarkt ein paar Straßen weiter finden wir dann auch noch alles, was wir für unsere spanische Brotzeit brauchen. Frisches Ciabatta, eingelegte, gegrillte Paprika, Makrelen, Oliven, Aioli, Chorizo und Manchego-Käse. Außerdem natürlich Rotwein. Kurze Diskussion – ja, zwei Flaschen sollten für vier Leute wohl reichen.
In unserer Herberge angekommen, tischen wir fürstlich auf. Geschirr, kleine Schälchen und Besteck gibt es in der dortigen Küche, in der man tatsächlich alles vorgefunden hätte, um richtig zu kochen. Ich schreibe das explizit, weil das nicht die Regel ist. Oft genug gibt es in den Herbergen zwar Kochgelegenheiten, aber eben kein Equipement.
Neben den drei Asiaten, die am Herd so richtig zaubern, kommen wir uns ein wenig laienhaft vor, wie wir lediglich Dosen, Gläschen und Büchsen öffnen und die Inhalte ansprechend in Tonschalen anrichten. Aber kurz darauf sitzen wir glücklich zusammen am Tisch und schlemmen uns durch unsere Schätze.
Als der erste Hunger gestillt ist, läuten wir die Mau-Mau-Phase ein. Wir haben unheimlichen Spaß, zumal wir Mau-Mau mit verschärften Regeln spielen, und es in einem ziemlichen Action-Game ausartet. In den Augen (bzw. Ohren) aller anderen sind wir vermutlich einfach nur laut. Die Deutschen wieder. History repeating. Das hatten wir doch gestern schon.
Als der Wein gegen acht zur Neige geht, ist es aus unserer Sicht zu früh, um den Abend zu beenden, und so machen sich zwei von uns noch einmal auf zum Supermarkt und erstehen eine weitere Flasche. So viel zu den guten Vorsätzen, weniger zu trinken.
Kalenderspruchgeber des Tages
Als ich noch mal kurz zum Rauchen nach draußen verschwinde, komme ich ins Gespräch mit einem anderen Pilger. Rob mit den Rastas ist aus Koblenz und wie ich allein unterwegs. Wir tauschen unsere Eindrücke und Erfahrungen aus. Als ich in einem Nebensatz fallen lasse, das Gefühl zu haben, man müsse sich den Weg erobern, kriegt sich Rob gar nicht mehr ein. Das bringe es ganz phantastisch auf den Punkt. Wie Recht ich doch habe. Den Weg erobern. Das sei der Schlüssel. Er bedankt sich mehrfach überschwänglich für diesen inspirierenden Satz, und ich zucke innerlich mit den Schultern. Aus meiner Sicht könnte diese Erkenntnis auf direktem Wege vom Sprüchekalender meiner Mutter gesprungen sein, der für jeden Tag eine mehr oder weniger erhellende Weisheit parat hat. Aber sei es drum – schön, wenn ich einen kleinen Stein zur Weisheit beitragen konnte.
Um halb zehn beenden wir unser Gelage. Die Jungs müssen zurück in ihre Unterkunft. Sie versprechen, uns morgen um 7:15 Uhr hier abzuholen und Kaffee und Schokoladencroissants mitzubringen. Kati und ich sind noch leicht skeptisch, ob das auch wirklich hinhaut, aber wir bekommen das große Indianerehrenwort.
Morgen lassen wir die Navarra hinter uns und erreichen die Rioja. Der Rotwein heute Abend war schon mal ein Vorgeschmack. Wohin es uns dann ganz konkret treibt, wissen wir noch nicht. Vielleicht machen wir einen Chill-Tag und gehen nur bis nach Logroño. Das wären gerade mal zehn Kilometer. Vielleicht ist uns das aber auch zu wenig, und wir gehen weiter. Wir entscheiden, mal wieder gar nichts zu entscheiden und es einfach auf die morgentliche Form und Laune ankommen zu lassen. Das ist ja das Schöne am Camino. Man kann jeden Tag aufs Neue beschließen, wie weit man geht. Aber erst mal gehen wir lediglich bis ins Bett, wo uns Bacchus in einen weinseligen Schlaf schickt.
Zeitreise
Vorwärts: Willst du wissen, wie es weitergeht? Bekommen wir unser Frühstück vor die Tore der Herberge serviert? Gehen wir bis Logrono oder weiter? Die Antworten und noch ein bisschen mehr, findest du auf Etappe neun.
Rolle Rückwärts: Du kennst die vorige Etappe nicht und verstehst nicht, wieso wir heute eigentlich beim Alkohol kürzer treten wollten, dann lies doch einfach noch mal den Beitrag über den Camino von Estella nach Los Arcos und erfahre alles über den Weinbrunnen und das Weizenbier des Vortages.
Bist du vielleicht zum allerersten Mal hier und möchtest bei Tag Eins loslegen? Dann hier entlang.
Kommentare und Ergänzungen
Bist du selbst dieses Stück des Jakobsweges gelaufen oder hast du vielleicht vor, das irgendwann einmal zu tun? Warst du sogar auf meinem Stück dabei und hast noch etwas zu ergänzen oder zu korrigieren? Hat dir etwas besonders gefallen oder hat dich etwas gestört? Ich freue mich über deinen Kommentar.
Der Birnen-Weitwurf, der nach 10 Zentimetern sein Ende fand, ist legendär😄
Und Noppenmatten haben seit diesem Tag einen besonderen Platz in meinem Herzen (oder auch Füßen). Seitdem habe ich gerne einen Massageball mit auf meinen Wandertouren. Vermutlich habe ich sogar andere Pilger mit diesem Tick infiziert, nachdem mein Ball letztes Jahr auf dem Camino auch deren angespannte Muskeln regelmäßig lockerte.
Wo ist der Holländer Rob? Abgehängt? 😉
Rob hat seinen eigenen Fanclub hier. Das ist ja großartig 😎
Wo er an diesem Tag genau war, weiß ich nicht, aber er taucht noch mal auf, versprochen ❣️
Du beschreibst ihn halt auch so greifbar-sympathisch! 🙂 Ich kann ihn mir mit seiner bedächtigen Art so richtig gut vorstellen …
Auch Ich bin von Arcos abgereist und habe ganz allein die Strecke nach Viana und weiter gelaufen. Dies war eine neue Erfahrung. Die Strecke mit Audrey bis her war neu, überwältigend, gemütlich und fuhlte wie Urlaub. aber ich wollte mehr. Ich war auch gekommen für den Weg ins Innere, auf die Konfrontation mit mir selbst. Und der monotone Weg ganz allein zu gehen war fur mich ideal dafür.