Camino Frances #14: Von Santo Domingo de la Calzada nach Belorado

Etappe 12 auf dem Jakobsweg: ich erwache in einem Pumakäfig, sehe den Sonnenaufgang meines Lebens, finde endlich mehr über Mädels raus und lerne, dass es sich mit Fünfmarkstücken unter den Füßen nicht gut läuft (10. Mai 2016, 23,5 Kilometer)

Heute bin ich bereits seit zwei Wochen unterwegs. Ich habe ca. 230 Kilometer in den Füßen und ich habe extrem unruhig geschlafen. Auslöser war vermutlich mein zu keiner Seite gesichertes Stockbett, das mitten im Raum steht und in dem ich, oben liegend, wohl die Nacht über unterbewusst befürchtet habe, runter zu donnern.

Flucht aus dem Pumakäfig

Um viertel nach fünf reicht es mir. Ich kriege kein Auge mehr zu. Das Rumliegen macht es auch nicht besser. Schnell ist der Entschluss gefasst. Ich starte heute früh und allein. Ich war noch nie vor sechs unterwegs und finde das gerade recht ansprechend. Kati werde ich eine WhatsApp schicken, damit sie weiß, wo ich bin. Wir treffen uns dann einfach später.

Ich schleiche ins Bad und mache mich fertig. Auf einmal steht Ursula neben mir. Die Wiedersehensfreude ist groß. Die Österreicherin mit dem verrückten Hut (den sie jetzt natürlich ich trägt) erkundigt sich gleich nach Kati. Die beiden teilen ja einen sehr emotionalen Moment aus Navarrete. Nach den Jungs fragt sie ebenfalls. Ich muss passen. Keine Ahnung, wo die beiden stecken. „Männer“, sagt Ursula, „alle gleich“, und wenn es daran nicht läge, dann eben am Camino. Sie huscht zurück ins Bett, ich auf Zehenspitzen zurück in meinen Raum.

Als ich die Tür öffne, schlägt mir der Gestank von vielen Menschen und wenig Sauerstoff entgegen. Es riecht wie im Pumakäfig. Sollte ich an einer Stelle noch gezögert haben, ob ich wirklich jetzt schon los will, ist es in diesem Moment klar wie Kloßbrühe. Ich muss hier sofort raus.

Auf leisen Sohlen trage ich Schlafsack, Inlay und Kissen auf den Flur, wo ich es in seine Beutelchen stopfe. Als ich noch einmal zurück ins Zimmer gehe, um meinen Rucksack zu holen, wird Kati schlagartig wach. Sie scheint irgendwie gemerkt zu haben, dass ich auf dem Sprung bin und beginnt umgehend, ebenfalls ihre Sachen zu packen. Ich warte, bis sie fertig ist, mit einem ganz kleinen, inneren Grummeln. Irgendwie hatte ich heute wirklich Lust, ganz früh und ganz alleine zu gehen, aber das kann ich jetzt echt nicht bringen.

Cool and the Sonnenauf-Gang

Um zwanzig nach sechs verlassen wir Santo Domingo. Es ist leider noch einen Tick zu früh für einen Kaffee, aber um diese frühe Uhrzeit stört mich das nicht ganz so doll. Es ist frisch draußen, und ich mache ordentlich Tempo und sage Kati, dass ich heute mal ein bisschen Zeit für mich brauche. Sie nickt es ab, sie kennt das ja selbst. Ich flitze durch die Dämmerung, meist parallel zu einer Landstraße, auf der bereits die ersten LKW unterwegs sind. img_3620Ausgerechnet hier mache ich mein schönstes Foto auf dem ganzen Jakobsweg, denn in diesem Moment werden wir für unseren frühen Start belohnt und beobachten einen traumhaften Sonnenaufgang. Die Stimmung ist absolut magisch. Mond und Sonne gleichzeitig am Himmel und dieser in Gelb-, Gold- und Blautönen getaucht, davor Silhouetten von Bäumen, die Hügellandschaft und der Frühnebel auf den Feldern. Ich stelle das Alleinlaufen sofort ein. Das ist so schön, das muss ich mit Kati gemeinsam feiern.img_3634

Um 9:30 haben wir bereits elf Kilometer gemacht und erneut eine Landesgrenze überschritten. Die Rioja liegt hinter uns. Wir befinden uns in Kastilien. In meinem Kopf singen die Comedian Harmonists über die schöne Isabella von Kastilien, die doch bitte ihre ganzen Utensilien packen möge.

Mein Freund ist ein glücklicher Mann

Während man mir im ersten Ort nach sieben Kilometern, Grañón, in der kleinen Bar keinen richtigen Kaffee sondern nur Automatenplörre gereicht hat, habe ich in Redecilla mehr Glück. Kati und ich richten uns gemütlich auf der Terrasse gegenüber der Bar ein. Drinnen bestelle ich nicht nur unsere tägliche Frühstückskombination (das kann ich inzwischen in fließendem Spanisch), sondern frage auch noch, wo ich Zigaretten bekommen kann (das in fließendem Pantomimisch). Der Kellner hinter der Theke ist in meinem Alter und spricht einmal mehr kein Wort Englisch. Mich wundert, wie das sein kann, wenn man jeden Tag Touristen im Haus hat. Wir kriegen es trotzdem hin. Er erklärt mir, dass er hier keine habe, sein Kumpel aber welche für mich besorgen wird. Ich bin ein wenig skeptisch, ob wir uns hier alle richtig verstehen, als besagter Kumpel mit meinem Geld in sein Auto steigt, aber gebe dem Ganzen eine Chance. Und tatsächlich, 15 Minuten später kommt der Kumpel mit meiner Wunschpackung zurück. Der Kellner serviert sie mir auf einem kleinen Teller, macht mit den Händen ein Herzzeichen und fragt, ob ich einen Freund habe. Als ich nicke, murmelt er, dass dieser ein glücklicher Mann sei. Wir lachen alle. In der Bar bekommen wir noch einen richtig schönen Stempel, der ein Taufbecken zeigt. Dieser Ort ist nämlich der Geburtsort von Santo Domingo, dem Kollegen mit dem Hühnerwunder.

Wir machen auf unserer heutigen Etappe noch zwei weitere Pausen. Das Konzept Bummelzug von gestern setzen wir einfach fort. Es hat sich bewährt, und wir sind heute so früh aufgebrochen, dass wir es uns leisten können. img_3636Auf einer Bank vor einer Kirche machen wir nochmal Pause und testen essend unsere Beweglichkeit – Dehnen hat ja noch niemandem geschadet. Unseren Weg begleitet heute immer wieder die Nationalstraße. Vor allem das letzte Stück ab Villamayor glänzt nicht gerade durch Beschaulichkeit. Knapp fünf Kilometer geht es auf einem schnurgeraden Schotterweg immer an den Leitplanken entlang. Kati und ich sind beide ziemlich bedient.

Kati sammelt Fünfmarkstücke

Wir beschließen, dieses unangenehme Stück mit Musik auszutricksen, und es einfach so schnell wie möglich hinter uns zu bringen. Beherzten Schrittes pese ich die Strecke in Begleitung der Traveling Wilburys entlang und bin schneller am Ende angelangt, als anfangs befürchtet. Es ist noch nicht mal ein Uhr und ich überlege, die fünf Kilometer bis zum nächsten Ort noch dran zu hängen. Dort erwartet einen angeblich eine aufstrebende Kultherberge mit Matten auf dem Boden und gemeinsamen Kochaktionen. Klingt irgendwie interessant.

Kati erreicht das Ziel mit etwas Verzögerung, vor allem aber mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie befürchtet, dass sie sich Blasen gelaufen hat. Wir begutachten auf der nächsten Bank den Zustand ihrer Füße. Leider hat sie richtig vermutet. Unter beiden Fersen haben sich Blasen gebildet, die eine hat die Größe eines Fünfmarkstücks und Katis Knöchel tut weh, weil sie versucht hat, die Stellen zu entlasten, dadurch aber insgesamt die Füße ungünstig aufgesetzt hat. Die Herberge, die wir ursprünglich vorgesehen hatten, ein großes Ding mit Billard- und Kickertischen gleich am Ortseingang, lassen wir sofort links (bzw. rechts) liegen. Das Ding sieht aus wie eine Mischung aus Autobahnraststätte und Freizeitpark. Es hat sogar eigene Maskottchen, die als mannshohe Plastikfiguren den Aufgang zur Herberge zieren. Das ist nun wirklich überhaupt nicht unser Ding. img_3635Wir finden stattdessen eine nette, private Herberge im Ort, in der es um diese Uhrzeit sogar noch Plätze gibt und vor deren Tür lediglich ein einziges Maskottchen steht. Gute Bewertungen hat sie ebenfalls bekommen.

Die fabelhafte Welt der Tiere

Nach der üblichen Routine des Pilger- und Wäschewaschens setzen wir uns in den wunderschönen Garten, der nicht nur mit üppigem Grün auf uns wartet, sondern auch noch Mitbewohner hat. Gänse, Hühner, Kaninchen und ein Pfau teilen sich brüderlich ein Gehege. Das Pfauenmännchen ist sogar so freundlich, ein spektakuläres Rad für mich zu schlagen.img_3630

Wir sitzen gemeinsam mit anderen, deutschen Pilgern in der Sonne, die sich nach einem wolkenverhangenen Tag den Weg zurück gesucht hat und unterhalten uns. Viele sind heute wie wir in Santo Domingo gestartet und waren in der gleichen Herberge. Die dortigen Duschen sind Hauptthema, denn alle schwelgen in Erinnerungen an die herrliche Erfrischung. Da sieht man mal, welche Kleinigkeiten uns in Begeisterung versetzen können! Es werden Wehwehchen ausgetauscht. Katis Blasen sind in der Top Drei.

Ich mache mir Sorgen, denn vor allem das Riesending sieht alles andere als gut aus. Dass sie darauf überhaupt noch laufen konnte, ist mehr als erstaunlich. Erste Bedenken werden laut. Kati bezweifelt, dass sie morgen weitergehen kann und schaut sich schon einmal nach Busverbindungen um. Ich bin geschockt. Als ich heute Morgen den Wunsch verspürte, mal wieder allein zu laufen, ging es mir um etwas Temporäres, das sich mit Sicherheit nicht auf Pausen und schon mal gar nicht auf die gemeinsamen Abende bezog.

Während wir beisammen sitzen, kommt eine weitere Pilgerin in den Garten. „Hallo Mädels!“ schallt es in unsere Richtung, und ich muss mich gar nicht umdrehen. Ich weiß, wer das ist. Natürlich keine Geringere als die Deutsche, die mich seit Obanos, dem Kaff hinter Eunate, verfolgt und die ich auf den Namen Mädels getauft hatte. Nun bekomme ich endlich mein Gespräch mit ihr. Wie sich herausstellt, heißt sie in Wirklichkeit Sabrina und ist eigentlich wirklich nett. Ihre dominant-resolute Art ließ mich in der Vergangenheit bereits spekulieren, dass sie Grundschullehrerin ist. Wie sich nun zeigt, lag ich damit gar nicht so falsch, denn sie ist tatsächlich im pädagogischen Bereich unterwegs und arbeitet mit Waisenkindern. Spätestens als sie von ihrem Job erzählt, hat sie meine volle Anerkennung. Lustiger Zufall – Sabrina, die uns ebenfalls vom Sehen kennt, erzählt, dass sie in ihrer Herberge gestern die beiden Jungs getroffen hat. Offensichtlich hatte sie auf dem Schirm, dass wir eine Zeit lang zusammen unterwegs waren. Sie will wissen, was los ist. Die beiden wären gestern ganz schön grummelig gewesen. Unklar, ob es bei den beiden schlechte Stimmung untereinander gibt, oder ob es vielleicht an Sabrina lag.

img_3628Blasen-Kati und ich machen uns nach Ende der Siesta auf die Suche nach einer Apotheke. Wir wollen schauen, ob es irgendwo Geleinlagen für sie gibt. Auf dem Weg durch Belorado entdecken wir wieder eine Vielzahl Storchennester. Diesmal bekomme ich gleich ein Mehrparteienhaus vor die Linse, und bei einem ist der Bewohner sogar zuhause.

Gegessen wird heute direkt in der Herberge. Das spart Kati einen weiteren Weg. Pünktlich warten wir zusammen mit vielen anderen auf der Treppe vor dem Eingang zum Speisesaal. Wir müssen lachen, denn neben uns stehen einmal mehr die beiden Holländer „Hase und Igel“, die wir in den letzten Tagen immer wieder getroffen haben. Diesmal reicht es zu mehr als dem obligatorischen Buen Camino. Jos und Rob (der Dritte auf dem Weg) sind beide aus Limburg und sie lachen, als ich kurz mein Niederländisch auspacke. Sie haben noch einen dritten dabei namens Wim. Wir werden an verschiedene Tische gesetzt, so dass unser Gespräch abrupt endet.

Kati und ich landen zusammen mit Mädels und einer Kanadierin an einem Tisch. Die Runde ist überraschend amüsant. img_3632Gemeinsam bewundern wir die hübsch gestaltete Weinflasche im Camino-Style, in der der Hauswein zum Pilgermenu serviert wird und die mit Pfeilen, Rucksäcken und kleinen Pilgern verziert ist. Auch das Essens weiß angenehm zu überraschen und ist wirklich sehr gut. Im Anschluss ist der Weg ins Bett herrlich kurz.

Ich bin wirklich gespannt, ob Blasen-Kati morgen Bus fahren muss oder mit mir laufen kann. Sonst muss ich tatsächlich allein gehen, das wäre jammerschade. Ich habe bereits Rob verloren. Wir stehen weiterhin per WhatsApp in Verbindung und ich weiß, dass auch er gerade allein unterwegs ist. Er ist ein paar Kilometer vor mir. Ich hoffe, ich sehe ihn noch mal wieder. Beim Einschlafen ist die Vorstellung, alleine zu laufen, jedenfalls nicht sonderlich anziehend. Ich drücke Kati und mir die Daumen. Sonst muss ich nachher doch noch best friends mit Mädels werden. Oder es setzt in der Einsamkeit endlich die Erleuchtung ein, die bisher noch auf sich warten lässt. Wir werden sehen.

 

Zeitreise

Vorwärts: Jetzt willst du wissen, wie ob ich morgen zu zweit oder allein unterwegs bin? Dann komm mit von Belorado nach Ages, denn ich stoße auf eine Indianer-Oase, verliere beinahe meine Identität an der Theke und meine Nerven an einen Trompeter und finde in einem komplett ausgebuchten Ort das Glück bzw. das Glück findet mich.

Rückwärts: Du bist zufällig auf diesem Beitrag gelandet und fragst dich, wieso sämtliche Pilger von einer Dusche am Vortag schwärmen? Dann geh noch mal zurück mit mir von Azofra nach Santo Domingo, wo Heilige und Hühner in einer Kirche auf uns gewartet haben.

Bist du heute zum allerersten Mal hier und möchtest bei der ersten Etappe anfangen? Dann geht es hier entlang.

Kommentare und Ergänzungen

Bist du selbst dieses Stück des Jakobsweges gelaufen oder hast du vielleicht vor, das irgendwann einmal zu tun? Kennst du das niederschmetternde Gefühl, nicht mehr weiter zu können? Warst du vielleicht sogar auf meinem Stück dabei und hast noch etwas zu ergänzen oder zu korrigieren? Hat dir etwas besonders gefallen oder hat dich etwas gestört? Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.

Ich muss das weitersagen

9 Gedanken zu „Camino Frances #14: Von Santo Domingo de la Calzada nach Belorado&8220;

  1. Moin moin, wahrscheinlich ist es nichts Neues für Dich. Aber wenn Du Dich auf Burgos zu bewegst, fahr die letzten Kilometer vom Stadtrand ins Zentrum mit dem Bus. Es sei denn, Du hast Lust auf sechs Kilometer Gewerbegebiet 😳
    Ansonsten ein toller Blog. Liebe Grüße Christian

    1. Hallo Christian, lieb von dir, dass du mich warnst. Ich bin damals die vermeintlich schönere Alternative am Flughafen und Fluss entlang gelaufen und es sollte einer der schlimmsten Tage auf dem ganzen Weg werden. Das erzähle ich dann Sonntag in zwei Wochen 🙂

    2. Hi Christian, das wäre aber schade den weg rein nach Burgos nicht zu laufen. Du musst nur nach der Autobahnunterführung an der dortigen Siedlung links abbiegen und links um den Flugplatz. Dann kannst du an einem Fluß bis zur Stadtmitte. Hat uns ein Spanier auf hochspanisch erklärt und wir haben kein Wort verstanden, aber es war irgendwie klar, dass wir hier nicht mehr den Pfeilen folgen sollten. Gottseidank!!!!! buen camino

  2. Die Blasen hatte ich in meinem Gedächtnis schon verdrängt 😄 mein Tagebuch sagt mir sogar, dass ich eigentlich durch war mit dem Blasen-Thema und dann schwuppdiwupp in unserer Pause eine Mini-Blase auftauchte, die ich mit Blasenpflaster behandelt habe. “Frische Socken an & weiter geht’s” hat in dem Fall nicht geholfen🙈

  3. Ich kann mich noch gut bzw. ungern an das Stück nach Granon erinnern, da kamen bei mir Zweifel, warum man sich das Ganze antut…Körper und Geist waren sich da uneins…aber geistreiche und unterhaltsame Gespräche am Abend haben mir dann den Kopf „gewaschen“:)

Und was sagst Du?