Camino Frances #16: Von Agés nach Burgos

Etappe 14 auf dem Jakobsweg. Die Awesome-Girls-Gang stört mein Frühstück, der Todesmatsch wirft sich mir in den Weg, ein Masochist schleppt mich nach Burgos, mein Kulturbeutel macht sein Seepferdchen und ich bewege mich ausschließlich im Radius eines Schoko-Croissants (12. Mai 2016, 20 Kilometer)

Anders als die meisten Mitpilger in unserem Zimmer gehen Bettnachbar Wim und ich den Tag ruhig an. Gemütlich stehen wir erst um 7:15 Uhr auf, nachdem um uns herum bereits alle wie wild zusammengepackt haben.

Frühstück mit der Awesome-Girls-Gang

Nachdem unsere Rucksäcke wieder gefüllt sind, geht es erst mal in die Bar „El Alquemisto“ zu Antonio und seiner Frau auf ein Frühstück mit Café con leche, Zumo Naranja und einem Bocadillo – wobei die Verniedlichung nicht angebracht ist und man eher von einem Laib Brot sprechen sollte, der ausufernd mit Käse und Chorizo belegt ist.

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Die Portion ist so gewaltig, dass ich sie mit Wim teile. Einen Tisch neben uns sitzen drei Amerikanerinnen, die uns unglaublich auf die Nerven gehen. Sie haben genau eine Vokabel in ihrem Wortschatz, die immer und immer wieder fällt: Awsome. Alles ist aaa-söm. Aaasöm käffie kown lätschie. Aaasöm bocködiljo. Aaasöm tzuhmow.

Wenn nicht gerade eine aus der Gang aaa-söm quietsch, ranzt Maria ihren Mann an. Alle Nase lang erschallt ein vorwurfsvolles „Antooooonio“, gefolgt von einer Salve spanischer Revolverschussvokabeln. Scheint, als könne der arme Mann es seiner Frau einfach nie recht machen.

20 Kilometer – (k)ein Kinderspiel

Gegen 9:00 Uhr brechen wir auf. Wim hat mich gefragt, ob wir gemeinsam laufen wollen. Ich habe keine Ahnung, ob das passt, aber den Versuch ist es definitiv wert. Wie sich herausstellt, hat Wim ein zügiges Tempo drauf, ich komme jedoch ganz passabel mit.

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Ratzfatz sind wir in Atapuerca, dem zwei Kilometer entfernten Ort, in dem es noch ältere Funde menschlichen Lebens gibt als im Neandertal.

Wir gehen weiter. Dummerweise hat keiner von uns die Streckenbeschreibung des heutigen Tages aufmerksam gelesen, so dass wir ganz schön dumm aus der Wäsche gucken, als es auf einmal eine 2,5 Kilometer lange Piste mit spitzen, kantigen Steinen bergauf geht. Das einzige, das wir uns gemerkt hatten, war die vermeintliche Kürze dieser Strecke, 20 km. Deswegen sind wir ja auch völlig dekadent zum ersten Mal überhaupt zum Frühstück gegangen, ohne auch nur einen Meter Camino hinter uns gebracht zu haben. Man wird wirklich überheblich. 20 km sind immer noch ein ordentliches Stück Weg. Und von einer Flachetappe kann heute leider auch wirklich nicht die Rede sein. Vor allem bei dem einsetzenden Regen macht es mäßig Spaß. Es ist mal wieder Poncho-Time.

Ich stemme mich mit meinen Stöcken langsam nach oben, wo ich für mein Engagement jedoch nicht mal im Ansatz belohnt werde. Man sieht nämlich nicht wirklich viel. Es ist grau und trüb und nass und so geht es ohne Aussicht auf der gleichen spitzsteinigen Wegbeschaffenheit im direkten Anschluss sofort wieder nach unten. Träumchen.

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Ich fluche leise vor mich hin. Das ist das erste Mal, dass mir schwant, dass der heutige Tag nicht zwangsläufig mit dem Siegel unendlicher Spaß ausgezeichnet werden wird. Auf die alte Römerstraße folgt asphaltierte Straße – nach steinigen, kantigen, nassen Bergen mein zweitliebster Untergrund zum Wandern. Wir laufen vier Kilometer, bis wir im nächsten Ort ankommen. Die erste Bar, die wir als Unterschlupf vor dem Regen nutzen wollen, verlassen wir fluchtartig wieder, denn wir entdecken die awesome Girls.

Die darauffolgende Bar wird dann tatsächlich unsere. Nachdem wir kurz gesessen und einen Milchkaffee getrunken haben, fühle ich mich halbwegs erholt. Da weiß ich ja noch nicht, welches Highlight der Weg als Nächstes für mich bereithält.

Waten im Todesschlamm

Wir nähern uns dem Schwebeflugplatz und dort wartet – nennen wir ihn doch einfach den Todesschlamm. Denn für mindestens 4 km (gefühlt 20) kämpfen wir uns fortan durch eine breiige, zähe Masse, die glitschig ist, an den Schuhen kleben bleibt, diese um zwei Kilo schwerer macht, und auf bzw. in der jeder Schritt beschwerlich ist, weil einem der Fuß wegrutscht. Es ist ein bisschen wie auf Glatteis laufen. Zudem zieht die Nässe unangenehm das Bein entlang nach oben und ich bin bald von den Knien abwärts nass. Großartiges Gefühl bei sieben Grad Außentemperatur.img_3662

Es gibt kein Entkommen, und es ist mit Abstand das Beschissenste, was mir bisher untergekommen ist.

Wäre Wim nicht an meiner Seite, ich hätte mich irgendwann mit meinem feuerroten Poncho in den Matsch gesetzt und geheult. Später soll ich erfahren, dass ein gestandener Franzosen genau das gemacht hat. Es ist nicht überliefert, ob er dabei einen feuerroten Poncho trug. Ich reiße mich also irgendwie zusammen und stoße trotzig meine Stöcke in den Matsch.

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Wim mustert mich immer mal wieder von der Seite und kann sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Aus heutiger Sicht finde auch ich es einigermaßen amüsant, wie ich da wie ein bockiges Kind durch den Schlamm wate. In der Situation kann ich euch aber versichern, dass mir jegliche Energie fehlt, das Ganze mit Humor zu nehmen und so verfalle ich stattdessen in dumpfes Schweigen. Wer mich kennt, weiß, dass das die absolute Ausnahme ist und in der Regel nichts Gutes bedeutet. Der arme Wim hat sich vermutlich auch einen höheren Unterhaltungsfaktor und etwas weniger mentales Coaching von unserem gemeinsamen Lauf versprochen. Ich sage sehr lange gar nichts.

Endlich erreichen wir das Industriegebiet von Burgos. Der Schlamm weicht erneut Asphalt. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so über den schwarzen Belag entzückt gewesen zu sein. Ich stürze in die nächste Bar, die sich uns bietet. Nach einem Pizza-Bocadillo und einer großen Cola lasse ich mich schweren Herzens von Wim überzeugen, dass wir weiter müssen. Immerhin puscht mich der Zucker ein wenig nach vorn. Zwischendurch texte ich immer wieder mit Kati, die mit einem Schoko-Croissant und Badezubehör im Hotel auf mich wartet. Leider liegen zwischen ihr und mir nach wie vor 11 km. Dafür, dass wir dachten, dass wir „nur“ 20 km laufen müssen, fühlt es sich ganz schön lang an.

Auf der Schlamm-Stein-Trasse durch grünes Nichts

Und auch das letzte Stück ist kein Zuckerschlecken. Der empfohlene Alternativweg, der uns das Industriegebiet weitestgehend erspart und der so idyllisch klang (am Fluss entlang), entpuppt sich als Schlamm-Stein-Trasse durch grünes Nichts.

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Der Regen setzt wieder ein, und der eigentlich hübsche Fluss kann mich mal. Zu allem Überfluss entdecke ich auch noch, dass mein Handy Display einen Sprung in der oberen Ecke hat. Das muss irgendwie beim Bergsteigen passiert sein. Ich bewahre mir meine restliche Energie, und verzichte auf lange Schimpftiraden.

Wir brauchen noch weitere 2 Stunden, bis wir endlich um viertel nach drei in Burgos ankommen. Auf dem letzten Kilometer laufe ich mir zu allem Überfluss eine Blase auf dem mittleren Zeh, die ich zu spät bemerke, dann aber trotzig im Regen, auf eine kleine Mauer gestützt, tape. Ich wechsle die Schuhe und schlüpfe in meine Turnschuhe. Manchmal ist halt einfach der Wurm drin.

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500 m vor dem Hotel mache ich eine letzte Raucherpause mit Wim. Wie zum Hohn ist inzwischen die Sonne rausgekommen, und ich gestehe Wim, dass ich ohne ihn heute sicher niemals angekommen wäre. Er lacht immer noch beim Gedanken an meine heutige Performance und sagt, es sei doch eigentlich ganz nett gewesen. Der Mann muss Masochist sein. Dann verabschieden wir uns vorerst und suchen unsere jeweilige Unterkunft.

Einzugsbereich Schoko-Croissant

Bei mir dauert das länger als nötig, denn ich laufe gleich zweimal an unserem Hotel vorbei und lasse mich schließlich entnervt von Kati einsammeln. Sie nimmt mir Stöcke und Schuhe ab und bugsiert mich durch die Lobby, in den Aufzug und direkt in unser Zimmer. Oben angekommen falle ich erst mal ins Bett und bewege mich für die nächsten zwei Stunden genau so viel, wie nötig ist, um nach dem Schoko-Croissant zu angeln.

So langsam komme ich dann doch wieder zu Kräften und freue mich auf den absoluten Höhepunkt des Tages, dem ich seit mindestens 48 Stunden entgegenfiebere: die Badewanne. Und so raffe ich mich aus dem Bett auf, gehe ins Nebenzimmer und lasse Wasser ein. Ich bin gerade wieder in unserem Zimmer angekommen, als ich ein komisches Geräusch aus dem Bad höre. Da war ein lautes Platschen.

Mein Kulturbeutel macht sein Seepferdchen

Zurück im Badezimmer stelle ich fest, was los ist: mein Kulturbeutel treibt auf dem Badewasser. Irgendwie ist er von seinem Haken gerutscht. Versteht sich von selbst, dass alles darin nass ist. Ich habe irgendwie nicht mehr die Kraft, mich aufzuregen, breite einfach alles zum Trocknen aus, und lege mich mit Buch in die Wanne.

Kati und ich verbringen den Rest des Tages sinnentleert im völligen Relax-Modus: wir spielen mindestens drei Stunden lang Candy Crush und andere Intellektuellen-Spiele. Zwischendurch dämmern wir weg kichern rum und freuen uns, dass es endlich Pausentag ist und wir ein ganzes Hotelzimmer für uns alleine haben und morgen nichts packen müssen, weil es erst übermorgen weitergeht.

Torsten und Olli, die eine mindestens genauso ätzende Tour wie ich hinter sich haben, schicken uns eine WhatsApp und schlagen vor, die Stadt unsicher zu machen. Ich sage ihnen ab. Ich will heute mit Kati einen ruhigen Abend machen. Burgos interessiert mich gerade überhaupt nicht. Wir hatten einen wirklich denkbar schlechten Start. Ich habe morgen ausreichend Zeit, mir mit Kati die Sehenswürdigkeiten anzuschauen, heute bevorzuge ich den Boykott.

Klassentreffen in der Pintxos-Bar

Um halb acht verlassen wir dann doch mal unsere vier Wände und gehen in eine Pintxos-Bar in der Altstadt, wo wir zu den kleinen Schweinereien Gin-Tonic bestellen. Die Pintxos sind zwar nur mittelmäßig, dafür ist der Gin-Tonic Weltklasse. In der Bar fühlen wir uns wenig später wie beim Klassentreffen. Kurz nachdem wir angekommen sind, laufen uns Passau-Olli und Pfarrer Wolfgang über den Weg. Sie gesellen sich auf ein Getränk, um genau zu sein wohl eher vier, zu uns. Im Laufe des Abends taucht dann auch Wim auf. Er ist in Begleitung von Rob und Jos (Hase und Igel), die wiederum Thijs und Marco dabei haben. Ich bestätige noch einmal allen, dass ich den Tag heute ohne Wim nicht überstanden hätte. Der nimmt mich in den Arm und gibt dann eine kleine Schauspieleinlage zur allgemeinen Belustigung, die mich zeigt, wie ich trotzig Fuß vor Fuß gesetzt habe.

Als mir später der 70-jährige Thijs erklärt, die Etappe heute sei leicht gewesen, und Marco und er hätten sie in vier dreiviertel Stunden geschafft, bin ich doch sehr überrascht. Er selbst gibt meiner Bier-Wein-Kombi vom Vorabend die Schuld an meiner schlechten Verfassung. Ich glaube, dass die beiden entweder einen anderen Weg gegangen sein müssen oder so früh dran waren, dass es noch nicht so nass war.

Der Einzige, der mir in unserer illustren Runde fehlt, ist Rob. Ich hatte ursprünglich gehofft, dass wir uns hier in Burgos wiedersehen, doch mein alter Freund hat sich vom ungemütlichen Wetter in die Flucht schlagen lassen und ist weitergezogen. Will heißen, dass er zwei Tagesetappen vor mir sein wird, wenn ich übermorgen starte. Die Chancen, ihn wiederzusehen, schwinden. Gut, dass wir zumindest über WhatsApp den Weg weiterhin gemeinsam bestreiten.

Als wir den zweiten Gin-Tonic serviert bekommen, fallen mir bereits fast die Augen zu, doch ich halte tapfer durch. Schließlich könnten wir heute so richtig einen drauf machen, weil wir morgen ausschlafen können. Aber wir bzw. ich können nicht mehr. Um viertel nach neun machen wir uns auf den Weg zurück.

Als wir dann in unseren Betten liegen, führen wir noch eins dieser wundervollen Mädchengespräche, in denen sich Lachsalven, Sexgeschichten, peinliche Momente, Ex Freunde und Ähnliches die Klinke in die Hand geben. Es ist wirklich krass, wie schnell man auf dem Camino Nähe aufbaut und tief in den Fundus persönlicher Geschichten greift. Nach gerade einmal einer Woche habe ich das Gefühl, Kati seit Ewigkeiten zu kennen. Das ist wirklich toll. Man begegnet sich hier irgendwie von Anfang an ohne Mäuerchen und Fassade und kommt dadurch auch schneller ans Eingemachte, was einen wiederum schnell verbindet.

Katis Fuß geht es übrigens Gott sei Dank etwas besser, und sie hofft, dass sie Samstagmorgen ganz normal mit mir starten kann. Morgen werden wir einen richtigen Touristentag machen und uns die beeindruckende Kathedrale von Burgos anschauen, die für ihre vielen, verschiedenen Kapellen berühmt ist. Ich bin gespannt, was uns erwartet.

Wir schlafen beide anschließend tief und fest in unseren herrlichen Betten mit richtigen Decken. So eine Nacht ohne Rucksack auspacken, Schlafsack ausbreiten etc. ist wirklich auch mal etwas Feines.

Zeitreise

Vorwärts: Willst du wissen, was uns morgen erwartet und welche Eindrücke wir beim Sightseeing während unseres Pausentages bekommen? Dann mach doch mit mir Pause in Burgos.

Rolle Rückwärts: Du hast den gestrigen Tag verpasst und weißt gar nicht, wie viel Glück ich hatte, ein Bett in Ages zu kriegen? Und den nervigen Trompeter und die Indianer-Oase hast du auch verpasst? Na dann geh doch noch mal mit mir von Belorado nach Ages.

Bist du heute zum allerersten Mal hier und möchtest bei der ersten Etappe anfangen? Dann geht es hier entlang.

Kommentare und Ergänzungen

Warst du schon mal auf dem Jakobsweg? Kennst du das Gefühl, wenn du dich am liebsten in den Matsch setzen, den Rucksack von dir schleudern und nur noch heulen willst? Hast du vielleicht ähnliches rund um Burgos erlebt? Oder hast du dir den Einzug in die Stadt gespart und bist mit dem Bus gefahren? Warst du vielleicht sogar auf meinem Stück dabei und hast noch etwas zu ergänzen oder zu korrigieren? Hat dir etwas besonders gefallen oder hat dich etwas gestört? Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.

Ich muss das weitersagen

4 Gedanken zu „Camino Frances #16: Von Agés nach Burgos&8220;

  1. Hi Audrey , Ich schreibe lieber ins Amerikanisch Regarding the easy day. We left early . That’s why we avoided the muddy mountain trail you encountered, because it started raining around 9 in the morning and we passed there at around 8 . Thijs

  2. An Antonios Leiden erinnere ich mich auch noch sehr gut bzw. seine Sandwichs sind im Tagebuch gelandet…immerhin hat er es mindestens noch 3 Jahre mit ihr ausgehalten:) Unsere Herberge war auch besonders…bei der Begrüßung wurden wir erstmal darüber informiert, dass Duschen nicht optional sondern verpflichtend sei…morgens wurden wir dann mit Live-Gesang geweckt, welchen man auch auf CD gepresst kaufen konnte:) Auf dem Weg durch die Stadt traf ich einen „alten“ Bekannten, ein notorischer, tonal ausgeprägter Schnarcher aus den Nächten zuvor. Auf die Frage, wo wir nächtigen würden, musste ich ihm entgegen, dass wir noch weitergehen würden. Für die Lüge werde ich zwar in der Hölle schmoren, aber 20 Menschen hatten dafür eine ruhige Nacht:)

  3. Das ist ja ein Kracher, dass Antonio offensichtlich ein Camino-Maskottchen ist. „An – tooo – nio ….“ und das in diesem leidenden Tonfall, als sei der arme Kerl an allem Schuld 😂😂

Und was sagst Du?