Camino Frances #17: Burgos

Pausentag auf dem Jakobsweg: Wer stöhnt da vor meinem Fenster? Was ist eine Matroschkathedrale? Gibt es den Stairway to Heaven wirklich? Und wieso bemitleide ich mich, obwohl ich als einzige keine Wehwehchen habe? (13. Mai 2016)

Stöhngeräusche auf nüchternem Magen

Heute Morgen werden Kati und ich von merkwürdigen Stöhngeräuschen gleich unter unserem Fenster wach. Ein ausdauerndes, rhythmisches Oh Oh Oh lässt an Schlaf nicht mehr denken. Kichernd malen wir uns aus, wie jemand im Zimmer unter uns gerade richtig Spaß hat. Als es nach zwanzig Minuten immer noch weitergeht, werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Das Geräusch ist so nah, da muss man schon beinahe etwas sehen können! Und tatsächlich – gleich vor unserem Fenster sitzt der Übeltäter auf dem Fenstersims und lässt sich auch von meinem skeptischen Blick nicht weiter stören. Ich klatsche einmal laut in die Hände. Daraufhin fliegt die Taube endlich weg.

Leider begleiten mich heute fiese Bauchkrämpfen. Absolut überflüssige Geschichte, aber lieber im gemütlichen Hotelzimmer als unterwegs. Ich habe die Pintxos von gestern Abend im Verdacht. Draußen prasselt der Regen. Und auch da freut man sich, im Hotelzimmer zu sein. Wir haben stundenlang geschlafen und genießen den Luxus, mit nur zwei Menschen in einem Zimmer mit sauberer Bettwäsche und riesigen Kissen liegen zu dürfen. Erst um zwölf verlassen wir die heiligen Hallen und suchen uns eine kleine Konditorei, in der wir frühstücken. Wir müssen uns schließlich für unseren Touritag rüsten.

img_3674Wir haben Glück, denn als wir nach dem Frühstück wieder nach draußen kommen, hat der Regen aufgehört. Erste Sehenswürdigkeit ist das reich geschmückte Stadttor, das gleich an der Brücke über den Fluss liegt (ja, genau DER Fluss, an dem ich gestern wenig begeistert vorbei geschlurft bin).

img_3669Dann geht es zur imposanten Kathedrale. Auf dem Vorplatz machen wir uns noch einen Spaß daraus, in möglichst quicklebendigen Posen mit der müden Pilger-Statue zu posieren bevor wir dann mit dem nötigen Ernst die gotische Kathedrale betreten, die immerhin zum Weltkulturerbe zählt.

In der Matroschka(ka)thedrale

Wir besorgen uns Kopfhörer für die geführte Tour und werden in den nächsten drei Stunden von Kirchengeschichte erschlagen.

img_3679Das Gebäude besteht im Innenraum aus sicher 20 Einzelkapellen in verschiedensten Baustilen. Das Konzept erinnert mich ein bisschen an die russischen Matroschka-Püppchen. Es kommt so viel dicht auf dicht, dass man gar nicht weiß, wo man als erstes hinschauen soll.

Und nicht nur die Kapellen, auch ihre künstlerisch aufwändig gestalteten Gitter am Kapelleneingang lassen mich staunen.img_3675

Besonders beeindruckt mich die Vierung mit dem Sternenhimmel, die Schuld daran hat, dass mir vom vielen an die Decke Starren, schwindelig wird.

Die Vorgängerversion, die mit unzähliger Malerei ausgeschmückt gewesen sein soll und achteckig daher kam, stürzte nur wenige Jahrzehnte nach Fertigstellung ein. img_3691Doch auch ihr Nachfolger, der bis heute gehalten hat, kann sich sehen lassen.

img_3694Wie so häufig in spanischen Kirchen, gibt es ein kunstfertig geschnitztes Chorgestühl zu bestaunen, in dem sich lauter Bibelszenen finden.

Wir schlendern, geleitet vom kleinen Mann in unserem Ohr von Station zu Station und lassen uns kulturell berieseln. Ab einer gewissen Menge von Eindrücken kann ich diese meist gar nicht mehr verarbeiten. Ich fühle mich etwas erschlagen von so viel Bildgewaltigkeit und bin wie so häufig fasziniert, was Menschen für beeindruckende Dinge erschaffen können.

Stairway to heaven

img_3689Zum Ende unseres Rundgangs landen wir an der „goldenen Treppe“, die ihren Namen den Geländern verdankt. Sie wurde errichtet, um den Höhenunterschied der am Hang liegenden Kathedrale auszugleichen. Für mich wirkt sie etwas deplatziert, so als habe man sie einem ganz anderen Gebäude weggenommen, Stein für Stein abgetragen und hier nun wieder neu aufgebaut. Schön ist sie natürlich trotzdem.

img_3712Als wir mit dem Innenteil fertig sind, laufen wir, froh über ein wenig frische Luft, durch den Kreuzgang. Auch hier gibt es wieder eine Menge zu sehen, denn jeder Bogen ist mit reichlich Stuck und einer Heiligen- oder Königsfigur versehen, die über einem Grab oder einem kleinen Altar hängen.

img_3685Bevor wir die Kathedrale endgültig verlassen, werfen wir noch mal einen Blick auf die Uhr mit dem Papamoscas, einer Figur aus dem Mittelalter, die zu jeder Viertelstunde das Kinn bewegt und den Mund aufreißt, um nach Fliegen zu schnappen. Wir haben Glück und sehen die Figur in Aktion.

Leicht erschlagen fallen wir aus dem Prachtbau. Noch schnell ein Gruppenbild zusammen mit der Pilgerstatue – inzwischen fühlen wir uns ähnlich müde, wie der arme Wanderer. img_9990Wir lassen uns noch ein wenig durch die Stadt treiben. Der Regen ist vorüber, und zwischendurch bekommen wir sogar ein paar Sonnenstrahlen ab. img_3724Auf dem Rückweg zum Hotel finde ich noch eine weitere Statue, mit der ich Fotos machen kann.

Erschöpft von so viel Kultur lassen wir uns im Hotel auf unsere Betten fallen und chillen für die nächsten zwei Stunden gemütlich die Basis, wie sich das an einem Pausentag gehört. Mit der Entspannung ist es ab morgen wieder vorbei. Den Gedanken an erneutes Rucksackpacken verdrängen wir vorerst. Wenn man sich einmal an das Dolcefarniente im eigenen Hotelzimmer gewöhnt hat, halten sich die Verlockungen des Streetlifes ehrlich gesagt ziemlich in Grenzen.

Gesund aber nicht munter

Meine Lust, erneut loszulaufen, ist gerade wirklich überschaubar. Dabei sollte ich mich freuen, dass ich zumindest beschwerdefrei bin und so weit laufen kann, wie ich möchte. Bei meinen Camigos sieht das nämlich durch die Bank weg anders aus.

Von Olli und Torsten haben wir gehört, dass sich ihr Zustand leider noch nicht normalisiert hat. Der eine hat Schwierigkeiten mit den Füßen, der andere mit den Schienbeinen. Kati geht es zwar besser, doch sie will den Fuß nicht überbeanspruchen. Alle drei gehen davon aus, dass sie morgen lediglich 10 km machen werden. Ich hingegen plane 20. Das heißt dann aber auch, dass ich ab morgen alleine unterwegs sein werde, was mich ein wenig zum Rumjammern verleitet. Ich muss mich zwischen Gesellschaft und Weiterkommen entscheiden. Keine leichte Wahl.

Der Wunsch, weiterzulaufen, überwiegt meine Traurigkeit, Kati ab dann hinter mir zu wissen. Ich laufe einen Weg, der 800 Kilometer lang ist. Ich bin bewusst alleine auf diesen Weg gegangen und war auf den ersten 300 Kilometern doch nie lange allein. Jeder läuft hier seinen eigenen Weg. Jeder muss ihn auf seine Art schaffen. Der Weg wird einem das bringen, was man braucht. Man macht ihn für sich und sollte ihn nicht nach jemand anderem ausrichten. Sollte Kati also ab nun hinter mir bleiben und ich weitergehen, so hat das einen Grund für sie und für mich. Es sind andere Pilger vor mir und sie werden auf den verbleibenden 500 Kilometern zum richtigen Zeitpunkt in mein Leben treten. Dass Kati und ich uns beide in Deutschland wiedersehen werden, ist längst beschlossene Sache. Traurigkeit ist also nicht angebracht.

Passend zum Thema Einsamkeit geht es morgen in Richtung Meseta. Diese Gegend ist bekannt für ihre Weite, Trockenheit, Ödnis und Hitze. Der ein oder andere Pilger ist dort wohl schon hart an seine Grenzen gelangt und hat in der flirrenden Hitze Halluzinationen gehabt. Was Hitze anbelangt, muss ich mir eine Sorgen machen. a82391645ef0a24c7be1745b6ffa7f8eRob ist bereits dort und hat mir ein Foto der aktuellen Wegbeschaffenheit geschickt. Der Arme ist nach dem Durchwaten der Pfützenlandschaften mit völlig durchweichten Schuhen in Castrojeriz angekommen. Dort werde ich vermutlich in drei Tagen sein, hoffentlich dann mit trockenen Schuhen.

In drei Tagen verspricht die Wettervorhersage zumindest endlich Besserung, und ich hoffe, dass Robs Schlamm bis dahin weg ist. Seit gestern kann ich nämlich ein Liedchen von den Freuden des Schlammlaufs singen. Ich habe Rob meinen matschigen Burgos-Einzug geschildert und fühle daher heute absolut mit ihm. Auch er berichtet von Schmerzen. Sein Rücken tut weh, wenn er weiter als 20 Kilometer läuft. Ich schimpfe mit ihm, wieso er das dann überhaupt macht, er habe schließlich genug Zeit. Nach 20 Kilometern sei es immer erst halb eins, erklärt er mir. Da haben die Herbergen noch gar nicht geöffnet und man hätte außerdem noch so viel Tag vor sich, mit dem man dann nicht so recht etwas anzufangen wisse. Da laufe er lieber weiter. Rob ist momentan allein unterwegs.

Ob es mir ab morgen auch so ergehen wird, dass ich lieber weiterlaufe und mich übernehme, als es langsam angehen zu lassen, weil niemand da ist, mit dem ich meine Zeit verbringen kann?

Abschlussabend

Gegen sechs raffen wir uns aus der stabilen Seitenlage auf. Ich brauche noch einen neuen Credencial, da mein erster Pilgerausweis schon fast vollgestempelt ist und ich meine Sammelwut auch in den nächsten Wochen fortsetzen möchte. Außerdem müssen wir uns noch mit den üblichen Überlebensdingen eindecken und Wasser, Obst und abgepackte Minikuchen kaufen.

img_3727Auf dem Weg entdecken wir eine weitere Kirche gleich um die Ecke der Kathedrale, auf deren Westfassade wir von hier noch einmal einen schönen Blick haben. Diese deutlich schlichtere Kirche San Nicolás, birgt von innen jedoch ebenfalls einen Schatz:

img_3728 Den Altar schmückt eine Retabel, die ausnahmsweise mal nicht mit Gold überzogen worden ist, sondern aus Kalkstein ist. Sie hat auf mich aber eine fast noch stärkere Wirkung als ihre güldenen Geschwister.

Wir wollen unseren letzten Abend mit der angeblich besten Pizza Burgos ausklingen lassen. Es dauert ein wenig, bis wir die Pizzeria finden, denn aktuell liegt sie noch verborgen hinter einem Rollgitter. Leider öffnet sie erst um halb acht. Hungrig pesen wir von A nach B. So richtig will uns nichts gefallen. Wir haben uns bereits so sehr auf Pizza eingeschossen, dass uns ein Menu del Peregrino nicht so richtig kickt und auf Pintxos habe ich nach gestern auch keine rechte Lust. Also beschließen wir, bis halb acht zu warten und setzen uns jede mit unserem Tagebuch bei einem Glas Wein in eine Bar.

Pünktlich um 19:30 Uhr sind wir zurück an der Pizzaquelle die sich als ein minikleiner Laden herausstellt, in dem es gerade mal drei Stehtisch gibt. Wir schnappen uns einen und ziehen uns wenig später jede begeistert zwei Riesenstücke Pizza rein. Eine Stunde später fallen wir satt und zufrieden ins Bett. Der Rucksack ist gepackt, der Wecker steht auf 6:30 Uhr. Morgen geht das Abenteuer weiter. Es wird anders werden, so viel ist sicher. Das nächste Kapitel liegt in der Luft. Ich bin gespannt, was es für mich bereithalten wird.

Zeitreise

Vorwärts: Pausieren ist schön und gut, aber du willst wieder mehr Bewegung? Dann begleite mich doch bei meinem Auszug aus Burgos nach Hornillos und sei dabei, wenn ich unfrewillig zum Einzelgänger mutiere, mir eine Entscheidung von meinem Handy abgenommen wird und ich beim Abendessen völlig überraschend auf musikalische Zeitgeschichte stoße, die mich vor Ehrfurcht verstummen lässt.

Rückwärts: Hast du meinen Einzug nach Burgos verpasst und weißt nichts von der Schlammschlacht, die es zu bewältigen gab und wieso ein Niederländer mich davon abgehalten hat, mich in einem feuerroten Poncho in den Matsch zu setzen und zu heulen? Dann komm doch noch mal mit von Agés nach Burgos.

Bist du heute vielleicht sogar zum allerersten Mal hier und möchtest bei der ersten Etappe anfangen? Dann klick einfach hier.

Kommentare und Ergänzungen

Bist du auf dem Jakobsweg gelaufen und in Burgos gewesen oder hast du das vor? Kennst du das Warst du vielleicht sogar auf meinem Weg mit dabei und hast noch etwas zu ergänzen oder zu korrigieren? Hat dir etwas besonders gefallen oder hat dich etwas gestört? Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.

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