Camino Frances #18: Von Burgos nach Hornillos

Etappe 15 auf dem Jakobsweg. Ich mutiere zum Einzelgänger, finde den mephistophelischen Pilgerbrunnen, nehme mir ein gutes Beispiel, gehe mit den legendären Fab Four quasi auf Tuchfühlung und bekomme Einblicke in das Leben der Anderen (14. Mai 2016, 20 Kilometer)

Kati und ich stehen um halb sieben auf. Meine Lust, unser nettes Hotelzimmer zu verlassen, ist wirklich überschaubar. Aber was muss, dass muss, von alleine kommt niemand nach Santiago. Also zur Abwechslung mal wieder die Sachen in den Rucksack stopfen und dann nichts wie raus.

Wir kommen nicht allzu weit, denn gleich draußen vor dem Hotel gibt es eine kleine Bar, in der ich einen Kaffee bekomme. Wie immer steigt meine Laune quasi unmittelbar nach dem Konsum. Als dann auch noch der Wirt nach draußen geeilt kommt und den Peregrinas einen harten Fettgebäck-Kringel schenkt, ist meine Welt wieder in Ordnung. Kati witzelt, dass man mit dem Keks sicher auch eine Scheibe einschlagen könne. Ich find ihn super und vertilge ihren gleich mit.

Ich mutiere zum Einzelgänger

Wir laufen los. Langsam. Kati setzt vorsichtig Fuß vor Fuß und testet die Belastung durch den Rucksack. Gemeinsam geht es über den Fluss und durch einen Park in Richtung der juristischen Fakultät von Burgos. Ich beneide die Studenten um ihr wunderschönes Seminar, das einst eine Pilgerherberge war.img_3730

Hier warte ich auf Kati. Bereits auf diesen ersten drei Kilometern ist klar geworden, dass wir nicht gemeinsam werden laufen können. So langsam wie Kati momentan ist, würde es nur Frustration mit sich bringen – für uns beide. Und so verabschiede ich meine liebgewonnene Freundin, drücke sie ein letztes Mal und wünsche ihr einen guten restlichen Weg. Buen Camino, meine Liebe. Selten habe ich das jemandem so von Herzen gewünscht.

Kaum allein, gebe ich ordentlich Gas. Die Lust am Laufen kommt beim Laufen und schnell habe ich Burgos hinter mir gelassen. Es geht über Feldwege auf eine Kreuzung zu, die selbst ganz talentfreien Pilgern den rechten Weg weist.img_3731 Durch Felder, später an der Autobahn vorbei, dann wieder ab in die Natur – ich bin überrascht, wie schnell ich das Dorf Tardajos erreiche. In einer Gebäudereihung entlang der Straße entdecke ich ein Café, indem ich mir, nachdem ich mich samt Rucksack durch eine Saloon-Klapptür gewunden habe, Kaffee und Kaz Limon besorge und anschließend auf der Terrasse mit zwei deutschen Frauen ins Gespräch komme.

Die eine habe ich schon mal gesehen. Sie hat in Santo Domingo ein Foto von Kati und mir gemacht. Ihre Freundin ist genervt. Sie hatte heute nicht die Möglichkeit, ihren Rucksack abzugeben und lamentiert nun vor sich hin. Ich muss bei so was immer tief in den Bauch atmen. Ja, es stimmt, jeder soll seinen Weg gehen, aber ich finde diese Gepäckschicknummer prima für Menschen mit Beschwerden, während es mich nach wie vor ärgert, wenn fitte Leute meines Alters den Komfort nutzen und dazu am besten auch noch ihre Unterkunft vorher reservieren. Keine Ahnung, warum mich das so stört. Irgendwie empfinde ich es als eine Art Betrug. Es ist nämlich schon nervig, wenn dann genau diese Leute beschwingt an einem vorbeiziehen und sich später auf die gleiche Stufe stellen mit Leuten, die ihr Päckchen selbst getragen haben. Ich muss wirklich an meiner Toleranz arbeiten, ich weiß.

Pilger, Tod und Teufel

img_3732Zwei Kilometer später bin ich in Rabé de las Calzadas, dem Ort mit dem letzten Bankautomaten vor Castrojeriz. Spricht nicht für den Ort, wenn das seine einzige Auszeichnung ist. Doch Halt, der Ort hat ja noch mehr zu bieten, nämlich einen äußerst hässlichen Pilgerbrunnen, der mich persönlich in seiner absurden Ausgestaltung eher an Mephistopheles oder irgendwelche kranken Albtraumgestalten-Zombies erinnert.

Schnell lasse ich ihn hinter mir und erreiche dann endlich die Meseta. img_3733Auf diese Gegend bin ich irgendwie schon die ganze Zeit gespannt. Vermutlich, weil ich mich so gut an Hape Kerkelings Schilderung erinnere, wie er in dieser unendlich weiten Hochebene ohne Bäume bei flirrender Hitze unterwegs war und weil Rob hier vor wenigen Tagen mit Matsch und nassen Schuhen zu kämpfen hatte. Nun, die Meseta und ich haben ein friedliches, erstes Rendezvous. img_3734Es ist keineswegs öde, sondern ich schaue über weite, grüne Grasteppiche und genieße meinen freien Blick auf wieder trockenen Wegen, nehme noch einen Anstieg in Kauf und kann wenig später in der Ferne im Tal vor mir Hornillos de Calzadas ausmachen.

Should I stay or should I go

Es ist gerade mal zwölf Uhr, als ich Hornillos erreiche. Das ist so früh, dass ich ernsthaft darüber nachdenke, einfach weiter zu laufen. Auf einer Brücke in der Sonne lasse ich mich nieder und mir die Sache durch den Kopf gehen. In fünf Kilometern gibt es einen kleinen Ort mit gerade einmal zwölf Betten. Der nächstgrößere Ort mit einer großen Unterkunft ist hingegen ganze elf Kilometer entfernt, was mir doch etwas zu viel erscheint. Ich muss an Rob denken, der mir genau dieses Dilemma geschildert hat. Läuft man allein, läuft man tendenziell schneller, kommt dann früh an und weiß nichts mit dem Rest des Tages anzufangen, so dass man aus Langeweile weiterläuft, nur um sich dann mittelfristig zu übernehmen. Vor zwei Tagen habe ich ihn dafür noch getadelt, und nun durchlebe ich dieselbe Situation.

Auf der Brücke spricht mich ein Schwede namens Bo an, der mich offensichtlich bereits ein paar Mal gesehen hat (ich hingegen muss passen). Er erzählt, dass die schöne Unterkunft hier im Ort bereits jetzt, zur Mittagszeit, belegt ist. Es ist eine der privaten Herbergen, die Reservierungen entgegennimmt, und so ist sie bereits jetzt voll, obwohl die Leute noch gar nicht da sind und auch niemand weiß, ob sie überhaupt jemal kommen werden.

Taxifahrten für lückenlose Laufbilanzen

Die Geschichten von Pilgern, die mehrere Ortschaften infolge Zimmer vorreservieren, damit sie dann ganz flexibel entscheiden können, wo sie ihre jeweilige Tagesetappe beenden wollen, dann aber die nicht in Anspruch genommenen Betten nicht stornieren, häufen sich. Immerhin ergreifen einige private Hospitaleros inzwischen erste Gegenmaßnahmen und heben Reservierungen Nachmittags auf, wenn der Gast nicht bis zu einer bestimmten Uhrzeit da ist. Dann stehen die Betten immerhin anderen zur Verfügung.

Auch wenn ich glaube, dass es den Gastgebern dabei eher darum geht, sicherzustellen, dass sie auch wirklich jedes Bett abrechnen können und nicht so sehr darum, müden, anderen Wanderern eine Unterkunft bieten zu können, bin ich dennoch froh, dass so zumindest ein wenig mehr Gerechtigkeit einkehrt. Am Schlimmsten sind nämlich immer die Geschichten von Pilgern, die, nachdem sie keine Unterkunft mehr finden konnten und auch zu müde zum Weiterlaufen waren, per Taxi zur nächstmöglichen Unterkunft gefahren sind, um am nächsten Tag wieder per Taxi zu der Stelle zurückzufahren, an der sie losgefahren sind. Die wenigsten möchten nämlich Lücken in ihrem Weg lassen. Verrückt genug, aber irgendwie geht das gegen die Ehre. Ich erinnere Leute, die noch in Santiago ein schlechtes Gefühl hatten, weil sei fünf Kilometer übersprungen hatten. Wenn man den ganzen Taxi-Tanz auch noch völlig umsonst aufgeführt hat, weil zur Schlafenszeit dann doch noch Betten frei bleiben, die eigentlich reserviert waren, bekommt man echt schlechte Laune.

Ich nehme mir ein Beispiel

Zurück zur Brücke. Bo sagt, er werde trotzdem hier in Hornillos bleiben und dann eben die öffentliche Municipal aufsuchen. Ich bin immer noch unsicher und schaue auf meinem Handy nach der Uhrzeit. Auf mich wartet eine Nachricht von Kati, die schreibt, sie sitze im Taxi nach Burgos. Nach elf Kilometern hätten sie so schlimme Schmerzen heimgesucht, dass sie nun auf dem Weg ins Krankenhaus sei, damit sich das mal ein Arzt anschaue. Sie befürchtet, ganz abbrechen zu müssen. Ich kann es gar nicht glauben. Was für ein Desaster.

Sie hat auf ihrem Schleichweg außerdem Torsten und Oli getroffen. Torsten ist genauso langsam wie sie unterwegs, weil seine Schienbeine so schlimm angeschwollen sind. Auch die beiden Jungs denken über Abbrechen nach und ziehen in Erwägung, mit dem Bus nach Leon zu fahren. Bis Santiago hätten sie es in ihrem knappen Zeitfenster sowieso nie geschafft. Was sollen sie dann überhaupt noch weiterlaufen.

Ich treffe meine Entscheidung binnen Sekunden. Ich werde heute ganz sicher nirgendwo mehr hinlaufen. Nicht nur, dass die Gefahr besteht, kein Bett mehr zu erhalten, ich möchte mir vor allem die Luxussituation erhalten, keine körperlichen Beschwerden zu haben. So langsam bin ich nämlich die Einäugige unter den Blinden – zumindest innerhalb meines Camigo-Kreises. Und es ist jetzt wahrlich nicht so, dass diese Leute unter schlechteren Bedingungen gestartet wären als ich. Im Gegenteil, gefühlt haben sich alle anderen besser auf dieses Unterfangen vorbereitet als ich und dennoch sind sie raus oder zumindest mit Einschränkungen unterwegs.

Und so schließe ich mich Bo an, und wir machen uns auf den wundervollen, schnurgeraden Weg durch die Mittagshitze zur öffentlichen Herberge, einer absoluten Kaschemme. Das Ding hat seine besten Zeiten lange hinter sich, falls es jemals gute Zeiten hatte. Es herrscht schummriges Licht. Über ausgetretene Stufen geht es in den Keller, wo im Halbdunkeln eine Señora sitzt und mit mittelmäßiger Begeisterung die Pilger in ihr Register einträgt und uns die obligatorischen Schutzhüllen für die Betten aushändigt, denn natürlich hat sie noch Platz für uns – was mich jetzt nicht wirklich wundert.

Nach dem üblichen Waschprozedere flüchte ich aus dem Dunkeln nach draußen. Gleich vor unserer Herberge, die sich neben der Kirche befindet, welche gerade renoviert wird und vor sich hin staubt, befindet sich ein größerer Platz, auf dem die Bar von gegenüber ausreichend Stühle und Sonnenschirme platziert hat. Mit meinem Tagebuch und einer großen Cola bewaffnet, schaue ich vorbeilaufenden Pilgern hinterher. Es ist niemand dabei, den ich kenne. Kurz darauf gesellt sich Bo zu mir und wir unterhalten uns noch ein Weilchen, bevor ich, inzwischen mit ihm zum späteren Abendessen verabredet, anfange mein Tagebuch zu befüllen.

Kati meldet sich noch mal. Sie war beim Arzt, der ihr für die nächsten Tage erst einmal strickte Ruhe verschrieben hat. Es ist wohl Gott sei Dank nur ein überreizter Muskel, den sie mit ordentlich Ibuprofen zur Ruhe bringen soll.  Sie ist jetzt wieder in einer Unterkunft in Burgos und will sich im Laufe des Abends bei einem Gin Tonic überlegen, wie bzw. wohin es weitergeht. Sie will auf keinen Fall noch drei bis fünf Tage in Burgos rumhängen und denkt darüber nach, mit dem Bus ans Meer nach Santander zu fahren, in der Hoffnung dann in fünf Tagen weiterzulaufen. Sollte das gar nicht gehen, dann wird sie einfach noch ein bisschen Urlaub in ein paar Orten am Meer machen. Ich bin verdammt stolz auf sie, dass sie es so konstruktiv nimmt. Ich säße jetzt vermutlich heulend in meinem Zimmer und würde mit meinem Schicksal hadern.

Aber auch so gibt es ein bisschen was zu klagen. Als Dankeschön für den stressigen Einzug in Burgos macht sich bei mir gerade ein fetter Herpes auf der Lippe breit – meine übliche Reaktion, wenn ich mich über etwas emotional stark aufgeregt habe. Danke, an die Schlammschlacht vom Flugplatz. Jeder hat halt sein Päckchen zu tragen, auch wenn das bei mir Klagen auf sehr hohem Niveau ist.

Against all Odds auf Koreanisch

Am Tisch neben mir nimmt eine junge Koreanerin Platz, und wir kommen schnell ins Gespräch. Hier gibt es ja wirklich nichts zu tun. Sie ist nur auf der Durchreise und möchte kurz pausieren. Ta-Ün (man möge mir mein mangelndes Koreanisch verzeihen) hat einen harten Kampf ausgefochten, um ihren Camino laufen zu können. Die 23-jährige wollte Abenteuer und hat sich entschlossen, gegen den Willen ihrer Eltern, das Unterfangen Jakobsweg durchzuziehen, hat sich einen anstrengenden, aber sehr gut bezahlten Job in einer Kanzlei gesucht, das Geld gespart und sich sofort in den Flieger nach Spanien gesetzt, als sie genug zusammen hatte.

Ich bin wirklich beeindruckt. Ich dachte ja immer, ich würde mir hier einen verrückten Wunsch erfüllen, aber im Vergleich zu den Kosten und Mühen, elterlichen Überwerfungen und auch der schlichten Distanzbewältigung, die Ta-Ün auf sich genommen hat, sehe ich ziemlich alt aus. Ich frage sie, wie sie überhaupt auf diese Idee gekommen sei und woran es liege, dass so viele Koreaner den Camino pilgerten -er ist ja nicht gerade um die Ecke. Sie erzählt mir, dass es im Reisebereich koreanischer Buchhandlungen eine ganze Wand voll Camino-Lektüre gäbe und dass jeder, der gerade etwas auf sich halte, diesen Weg gehen möchte. Außerdem erfahre ich, dass der Koreaner an sich gerne wandert und dass gut ein Zehntel der Südkoreaner katholisch sind. Ich muss zugeben, dass ich keine Ahnung hatte. Ich beglückwünsche meine Tischnachbarin zu so viel Courage, und sie freut sich sichtlich. Dann muss sie weiter. „Sicher sehen wir uns wieder, Frau mit dem unbeschwerten Lachen“, sagt sie und ist fort. Es sind diese Menschen, an die man sich auch nach zwei Jahren noch erinnert.

Für mich ein Stück Musikgeschichte, bitte

Wie verabredet, treffe ich Bo um sechs zum Abendessen. Wir haben uns angesichts der überschäumenden Möglichkeiten in Hornillos (nicht!) nach langem Hin und Her für die Bar gegenüber entschieden. Ob wir reserviert hätten, fragt die Kellnerin. Wir machen große Augen. Herr Gott, muss man jetzt künftig auch noch in Bars einen Tisch reservieren? „Kein Problem“, sagt sie, als wir verneinen, dann würden wir eben zu anderen Leuten dazu gesetzt, wenn das für uns okay wäre. Klar ist das für uns okay. Wir haben Hunger. Punkt (auch wenn es etwas befremdlich wirkt, in einem fast leeren Laden an einen der wenigen, besetzten Tische gesetzt zu werden).

Und so landen wir am Tisch von Joe und June aus Nordengland, die auch nichts gegen Gesellschaft einzuwenden haben. Ich habe mit den Dreien im Alter meiner Eltern einen unglaublich unterhaltsamen Abend.img_3735 Ich beobachte June aus dem Augenwinkel. Sie hat bei ein paar Gesten und Blicke frappierende Ähnlichkeit mit meiner Mutter, und ich werde ein wenig sentimental. Ich bin jetzt seit knapp drei Wochen unterwegs und auch wenn der Kontakt – vor allem dank Mamas neu errungener WhatsApp-Fähigkeit – da ist, fehlt sie mir in diesem Moment. Schon komisch, wie man manchmal über bestimmte Distanzen ein ganz anderes Vermiss-Verhältnis entwickelt. In Hamburg bin ich gefühlt genauso weit weg, aber solche Sentimentalitäten bleiben dort aus.

June will wissen, was los sei und ich erzähle, dass sie mich an meine Mutter erinnere. Wir müssen alle lachen. Und dann hat die Engländerin noch ein ganz besonderes Geschenk für mich, das mich vor Ehrfurcht erstarren lässt. Wie auch immer wir auf das Thema gekommen sind, auf einmal geht es um die Beatles und June erzählt völlig beiläufig (wie kann man das bittschön völlig beiläufig erzählen???), dass sie als junge Frau natürlich auf einem Beatles Konzert war (natürlich!!!). Ich staune Bauklötze. Sie hat die Beatles leibhaftig live erlebt? Meine Herren! Ich bin total platt. Aus meiner Sicht ist das überhaupt nicht vorstellbar. Meine drei Gesprächspartner amüsieren sich schon wieder über mich. Naja, sie seien eben zu der Zeit jung gewesen, und in der nächstgrößeren Stadt hätten natürlich Konzerte stattgefunden, lacht June. Ich denke schon wieder an meine Eltern, die ebenfalls Fans der Beatles waren, die aber in ihren jeweiligen Dörfern im Leben nicht die Chance gehabt hätten, diese Band live zu sehen.

Gegen halb neun brechen wir auf und gehen zurück in die Albergue. Die drei verabschieden sich ins Bett. Ich will noch nicht in die dunkle Muffbude und bleibe zum Rauchen und Telefonieren noch ein wenig draußen. Ich will mit meinem Freund sprechen. Während ich mir von Masterarbeitsvorbereitungen und Tisch-Bauprojekten für unseren Garten erzählen lasse, beobachte ich eine Pilgerin, die nur wenig älter ist als ich und sich, ein paar Meter weiter sitzend, missmutig aus den letzten Krumen ihres Tabaks eine Zigarette dreht. Wie kann man nur so übellaunig sein, denke ich mir. Die ganze Person strahlt so viel negative Energie aus, dass ich nur hoffen kann, dass sie mir erspart bleibt. Aber da das hier ja kein Wunschkonzert ist, kommt es wie es kommen muss, nämlich anders.

Das Leben der Anderen

Ich habe mein Telefonat gerade beendet, als sie auf mich zukommt, auf meine Zigaretten zeigt und mich auf Englisch fragt, ob ich ihr eine geben könnte. An ihrer Aussprache höre ich sofort, dass sie Deutsche ist. Ich überlege noch kurz, ob ich auf Englisch antworten soll, in der Hoffnung, dass sie mit ihrem schlechten Karma und meiner Zigarette verschwindet, reiße mich dann aber zusammen und reiche ihr eine Zigarette zusammen mit einem „Na klar, gerne.“ Sie schaut überrascht, lächelt kurz und lässt sich dann ungefragt neben mir nieder. Hallo Peng, hier kommt mein Gespräch. Es war eigentlich schon vorher klar. Ich habe einfach ein unglaubliches Talent, solche Leute anzuziehen und zum Reden zu bringen. Herzlichen Glückwunsch Audrey. Na dann mal los.

Sabine* braucht nicht lange, um genug Vertrauen zu fassen, um sich bei mir auszukotzen, dass sie gerade von einem Spanier abgezockt worden ist. Sie habe nach Zigaretten gefragt, weil man hier ja nirgendwo Tabak bekomme und der Typ habe versprochen, ihr welche zu besorgen. Dann habe er ihr Geld genommen, sei in sein Auto gestiegen und ward darauf nicht mehr gesehen. Das wäre mal wieder typisch, schimpft sie. Der Teufel scheiße halt immer auf den dicksten Haufen. Ich nicke innerlich konsterniert und denke mir, dass bei so viel Charme der Spanier seine anfängliche Hilfsbereitschaft eventuell schnell bereut habe. Sabine sage ich, dass es doch gut sein könne, dass er tatsächlich ein Stück fahren müsse und das gegebenenfalls mit etwas anderem, was er eh erledigen müsse, kombiniere, weil er ja vermutlich nicht ausschließlich für ihre Zigaretten in sein Auto gestiegen sei. Sie glaubt das nicht. Der wollte sie von Anfang an beklauen.

Ich erzähle ihr von dem netten Freund des Barkeepers in dem Ort mit dem Taufbecken Santo Domingos, der ebenfalls extra mit dem Auto losgefahren sei, um mir Zigaretten zu besorgen und dann genau das in die Tat umgesetzt habe. Gut, der hat dafür keine zwei Stunden gebraucht, das muss ich wohl zugeben. Schnell erfahre ich, dass Sabine leider jeden Cent zweimal umdrehen muss und ihr die besagten zehn Euro sehr viel mehr wehtun, als sie es mir tun würden. Die Norddeutsche kommt ins Reden und lässt mich wissen, dass ihr Mann und ihr jüngster Sohne für sie gespart und extra Jobs gemacht haben, damit sie sich den Traum vom Jakobsweg erfüllen kann. Ich muss schlucken. Sabine ist momentan arbeitslos, hatte ein Burnout und auch sonst spielt ihr das Leben nicht sonderlich freundlich mit. Auch wenn ich nach unserem Gespräch schon sehr viel besser verstehe, warum sie auf mich gewirkt hat, wie sie auf mich gewirkt hat, werde ich nicht so richtig warm mit ihr. Sie hat eine ziemlich schroffe Art und ihr Glas ist per se maximal halb leer. Dennoch lässt mich ihre Lebenswirklichkeit mal wieder kurz realisieren, in welch luxuriöser Situation ich mich befinde.

Ich mache mir meine Müdigkeit zu Nutze, lasse ihr noch eine Zigarette da, drücke ihr die Daumen, dass der Zigarettenmann doch noch auftaucht und gehe rein, wo eine durchgelegene Matratze und ein schnarchendes Orchester auf mich warten. Morgen möchte ich es bis zu einer ganz besonderen Unterkunft schaffen, die 30 Kilometer von hier entfernt ist. Es handelt sich um eine völlig abgelegene Albergue ohne Strom, die mit viel Liebe von italienischen Jakobusfreunden betrieben wird, die hier für die Pilger kochen und die noch die inzwischen sehr selten gewordene Tradition der rituellen Fußwaschung durchführen. Ursula mit dem ganz besonderen Hut hat Kati in Navarrete davon erzählt. Diese wiederum hat es mir berichtet. 30 Kilometer sind ein ordentliches Stück, aber ich möchte unbedingt in einem der zwölf Betten einen Platz finden.

Zeitreise

Vorwärts: Du willst wissen, wie es weitergeht? Dann komm mit von Hornillos nach San Nicolás und erfahre, wie ich von einem Spatz begleitet, meine erste Ü30-Party feiere, den Weihnachtsmann treffe und babylonische Zustände beim Beten erlebe.

Rückwärts: Du hast die gestrige Sightseeing-Tour durch Burgos und unser Herumlungern im Hotel verpasst und weißt gar nicht, dass wir von lustvollem Stöhnen gleich unter unserem Fenster geweckt wurden, später den Stairway to Heaven gefunden haben und was eine MatroSch(ka)kathedrale ist, weißt du auch nicht? Na dann komm doch noch mal mit zum Pausentag in Burgos.

Bist du heute zum allerersten Mal hier und möchtest lieber bei der ersten Etappe anfangen? Dann geht es hier entlang.

Kommentare und Ergänzungen

Warst du schon mal auf dem Jakobsweg? Bist du vielleicht ebenfalls alleine gelaufen und kennst das Gefühl, vor Langeweile trotz Erschöpfung weiterlaufen zu wollen? Hast du ähnliches erlebt oder vielleicht etwas ganz anderes? Warst du vielleicht sogar auf meinem heutigen Stück dabei und hast noch etwas zu ergänzen oder zu korrigieren? Hat dir etwas besonders gefallen oder hat dich etwas gestört? Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.

*Ich ändere grundsätzlich die Namen von Mitpilgern, wenn ich sie nicht um Erlaubnis fragen konnte, ob ich ihre persönliche Geschichte hier im Blog wiedergeben darf, weil sie mit meiner verwickelt war. Sollte sich jemand hier ungewollt wiederfinden, möge er sich melden, und ich ändere, ergänze oder streiche umgehend.

14 Gedanken zu „Camino Frances #18: Von Burgos nach Hornillos&8220;

  1. Da kriege ich gleich wieder feuchte Augen, wenn ich an diesen Tag denke. Natürlich habe ich geheult wie ein Schloßhund… so hatte ich mir meinen Jakobsweg nicht vorgestellt. Enttäuschung, Neid, Schmerzen… Gefuhlschaos schlechthin. Da konnte kein Auge trocken bleiben. 😉

    Aber schon vor dem Abflug lag Plan B im Hinterkopf parat, falls irgendwas schief geht. Wohl eher Plan Z, weil er nie in Kraft treten sollte. Vielleicht fiel mir das Umdenken an dem Tag deshalb so leicht.

  2. Respekt, Respekt, Audrey.
    Du bist wieder sooo schreibfleißig, da kommt der geneigte Leser nicht mehr aus dem Staunen heraus.
    Wie machst du das nur, zwei Jahre alte Erinnerungen so detailreich und unterhaltsam wieder hervorzuholen? Hattest du ein Tagebuch als Rohtext verfasst?
    Verbringst du gerade die Sommerferien an der Tastatur? 😉
    Guten Morgen, liebe Grüße
    Ralph

    1. Danke, Ralph, ich bin eben ein Streber und ziehe das durch mit dem allsonntäglichen Schreiben 😊
      Mein Tagebuch steuert den Großteil bei, die Fotos ebenso und dann kommen eigentlich beim Schreiben immer noch Erinnerungen hoch, die ich ganz vergessen hatte.

          1. … Der Harzer Hexenstieg???
            Ooch, meine Heimat, im mittleren Umfeld.
            Also, doch, ich freu mich auch auf die Geschichte.
            Was sollte dich davon abhalten? 😉
            Danke.

  3. Bin sehr auf deine Ankunft in Santiago gespannt. Dort soll es sich ja besonders lustig drängeln.
    Danke dass Du es für mich, für uns, auf Dich genommen hast, ich werde dort sicher nicht entlang stolpern auf der Pilgerautobahn. Dein Blog kann es fast ersetzen.

      1. Ich rechne erneut nach.
        Also sieben Wochen insgesamt!?
        Heftig – aber das war dann wohl das, was man Pilger-Leid nennt.
        Es _muss_ weh tun 😉

Und was sagst Du?