Etappe 31 auf dem Jakobsweg: ich mutiere zu Muskelmarie, verliere mein Herz an Fatdog, verzweifle an der Schweizer Langsamkeit und beende den Tag mit einer Sangria am Pool als 5 Sterne Deluxe Tourigrino (31. Mai 2016, 23,5 km).
Heute ist Tag 35 meiner Wanderung. So langsam summiere ich die Kilometer nicht mehr auf, sondern zähle sie rückwärts runter. Das gleiche gilt für die Tage. Ich nähere mich der Phase, wo die Gedanken darüber, dass es bald vorbei ist, zunehmen und gelegentlich eine gewisse Melancholie einsetzt, weil es bald vorbei ist.
Call me Muskelmarie
Momentan könnte ich ewig weiterlaufen. Ich habe inzwischen eine Fitness aufgebaut, die mich das tägliche Wandern nicht mehr wirklich spüren lässt. Mein Körper hat Muskeln an Stellen ausgebildet, von denen ich nicht wusste, dass sie Muskeln haben. Meine Arme sind total trainiert – liebe Grüße an meine Stöcke. Wenn ich winke, wackelt nichts (Ladies, ihr wisst, was ich meine). Von den Beinen brauchen wir gar nicht zu sprechen. Papas anfangs noch sehr enge Hose schlackert. Beim Einschlafen bleibe ich abends im Bett regelmäßig an meinen Hüftknochen hängen. Wo wart ihr vorher, Freunde? Ich habe vermutlich mindestens sieben Kilo auf dem Weg verloren.
Wir schlafen heute aus und stehen ganz gemütlich um viertel nach sieben auf. Es ist so angenehm, einmal nicht vom Packen und Knistern anderer Leute geweckt zu werden. Zu dritt in unserem Viererzimmer entscheiden wir ganz allein, wann es losgeht. Geschlafen habe ich wie meistens eher mittelmäßig. Tinas Schnarchen wurde im Laufe der Nacht um Bens Tonspur ergänzt. Mein Einzelbett quietschte im Gegenzug. Aber Schlaf wird überbewertet. Wirklich müde bin ich trotzdem fast nie. Irgendwie erholt man sich beim Pilgern offensichtlich auch beim Laufen.
Die wichtigste Mahlzeit des Tages
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite unserer Herberge ist ein süßes, kleines Café, in dem wir in Ruhe frühstücken. Es gibt Kaffee, frischen O-Saft und belegte Brötchen, und vor allem überraschend wenige Pilger. Die sind vermutlich alle längst unterwegs, um sich mit den Pussygrinos, die ab Sarria starten, um die Betten zu prügeln. Wir hetzen uns hingegen nicht und sind erst um halb neun auf der Bahn.
Kaum aus Triacastela raus, umgibt uns das saftige Grün Galiciens. Für irgendwas muss der ganze Regen hier ja gut sein. Heute beehrt uns blauer Himmel. Ich kann mein Glück einmal mehr kaum fassen. Der Streckenabschnitt ist herrlich. Es geht durch Wiesen und Wälder. Immer wieder enthüllen Weitblicke die hügelige Schönheit dieses Landstrichs. Nach den 48 Stunden mit Nebel und Regen, die hinter mir liegen, genieße ich den freundlichen Tag noch sehr viel mehr. Hügelig ist das Stichwort, denn auch heute geht es überraschend häufig rauf und runter. Aber was sind schon 200 Höhenmeter aus dem Stand nach den Auf- und Abstiegen der letzten Tage?
Rhythm is a dancer
Ben und ich laufen die ganze Zeit nebeneinander her. Das befeuert die Kommunikation, wirkt sich aber zu Lasten meines Fotografieverhaltens aus, denn bei Bildern bin ich heute eher sparsam. Tina fällt schon bald hinter uns zurück, während wir weiter über unsere Beziehungen, das Wandern und unsere Jugend in den Neunzigern sprechen. Die Musik wird dabei zu unserem Steckenpferd, und so erinnern wir uns lachend an die Sünden der damaligen Zeit. Von Rhythm is a dancer geht es über All that she wants hin zu No Limit.
Unterwegs überholen wir plötzlich den Eisklötzchen-Ignoranten, den ich seit Trabadelo nicht mehr gesehen habe. Ich berichte Ben von seinen Untaten. Wir müssen beide lachen. Das war am Tag der nassen Füße, dem Tag, an dem wir beide uns das erste Mal im Café getroffen haben. Wie immer hat der Camino seine eigenen Zeitgesetze. Dieser Tag ist gerade mal 48 Stunden her. Doch zwei Tage fühlen sich hier wie zwei Wochen an. Ich habe das Gefühl, mit Ben einen alten Freund an meiner Seite zu haben, den ich ewig kenne.
Auftritt Fadog
Schneller als erwartet sind die ersten zehn Kilometer geschafft, und wir landen in einer kleinen Bar in Furela. Zeit für ein zweites Frühstück. Ich bestelle ein Bocadillo mit Tortilla. Francesa oder Española, will der Kellner wissen, und so erschließt sich mir endlich, dass Tortilla Francesa ein stinknormales Omelette ist. Da muss man also erst 35 Tage laufen, bis einem aufgeht, dass es das Zeug auch ohne Kartoffeln gibt.
Die größte Attraktion in der Bar ist eine kleine Babykatze, die so tapsig und flauschig ist, dass man sie am liebsten gleich einpacken würde, während sie von Tisch zu Tisch streunt, auf der Suche nach der nächsten Streicheleinheit. Sie bekommt reichlich. Doch die lustige Welt der Tiere ist damit noch nicht vollends ausgeschöpft. Aus dem Inneren der Bar ertönt ein kleines Grunzen, dann schleicht ein unfassbar dicker, kleiner Hund nach draußen. Das Bezeichnendste an diesem Kollegen ist sein kleiner Kopf. Er steht in einem so unausgeglichenen Verhältnis zu seinem wuchtigen Körper, dass ich ihn gleich Fatdog taufe.
Ben und Tina können nicht mehr aufhören zu lachen, während ich darüber philosophiere, dass Fatdog auch mal einen Camino laufen sollte, und wir sein Herrchen fragen sollten, ob er uns auf den letzten 100 Kilometern begleiten darf. Fatdog mag mich, trotz des wenig schmeichelhaften Namens, den ich ihm verpasst habe. Er hört interessiert zu, während ich ihm unsere gemeinsamen Abenteuer ausmale, die uns auf dem letzten Stück bis Santiago bevorstehen und ihm beschreibe, wie er dort als schlanker, beweglicher Hund ankommen wird und als attraktivster Dog in town nach Furela zurückkehren wird.
Er lässt sich derweil ausdauernd von mir streicheln. Bloß nicht rühren. Wenn Fatdog besser in der Schule bei den Fremdsprachen aufgepasst hätte, würde er jetzt sicher schnurren. Bewegung kommt nur dann in ihn, wenn jemand mit Essen aus der Bar kommt. Dann büßen meine Liebkosungen augenblicklich an Attraktivität ein, und der ganze Hund rollt in Richtung Teller, um mit herzzerreißendem Blick den Besitzer des Tellers anzuschmachten. Wenn es dort nichts zu holen gibt, kehrt Fatdog wieder zu uns zurück.
Die deutsche Reiseapotheke
Ben macht mir derweil Sorgen. Er hat Fieber und will nicht zugeben, dass es ihm schlecht geht. Wenn er sich unbeobachtet fühlt, fasst er sich an die verschwitzte Stirn und stöhnt leise vor sich hin. Wenn ich ihn darauf anspreche, sagt er, alles sei okay. Ich glaube ihm kein Wort, und auch Tina schimpft, dass er sagen soll, wenn es ihm nicht gut gehe. Sie könnten jederzeit aufhören. Davon will er nichts hören. Es sei alles in Ordnung. Tina legt ihre Hand auf seine Stirn und ergießt eine schwedische Schimpfkaskade über den großen Kerl. Er sei krank, so viel Schwedisch verstehe selbst ich. Tina habe mehrere Kinder großgezogen, sie wisse, wovon sie spreche, beendet sie die Diskussion.
Ich muss große Überzeugungsarbeit leisten, bis er sich endlich zwei Grippostad andrehen lässt. Ich erzähle, wie diese deutschen Wunderpillen mich bis León gedopt haben. Das Schlimmste, was passieren könne, sei, dass sie ihm nicht helfen, dann sei es eben so, aber auf den Versuch komme es an, wir hätten beide keine Lust, ihn auf der letzten Rille mitzuschleppen. Er fügt sich und stürzt die Tabletten mit einem großen Glas Wasser hinunter. Ob wir jetzt zufrieden seien? Wir warten noch ein wenig, dann brechen wir auf. Die Tabletten schlagen Gott sei Dank schnell an. Ich merke, wie wieder Leben in den Schweden kommt.
Es geht weiter durch Wälder, hinab in Richtung Sarria. Ben scheint zu alter Form zurückgefunden zu haben, denn er läuft wie immer vorneweg. Die Sonne scheint, als wäre sie nie weggewesen. Die Licht- und Schattenwechsel, die von den Blättern verursacht werden, springen über den Weg. Das sind so Momente, wo ich mir eine Sonnenbrille wünsche. Beim Wandern hat sie sich als eher lästig herausgestellt und befindet sich daher ganz unten im Rucksack.. Eigentlich braucht man sie auf dem Camino sowieso nicht. Wir laufen nach Osten und haben die Sonne daher eigentlich immer im Rücken.
Waldschrat trifft Stadtrat
Gegen zwei betreten wir den Boden Sarrias. Es ist nicht so schlimm wie gedacht. Keine Heerscharen von Pilgern, nur der übliche Schock, wenn man eine Stadt betritt, nachdem man mehrere Tage im Wald und den Bergen in kleinen Nestern verbracht hat. Überall laufen ansprechend gekleidete Menschen herum, überall gibt es Restaurants und bemühte Kellner, die einen zu sich hereinbitten. Ich muss schmunzelnd an Fatdog denken. Der würde vermutlich explodieren, wenn er hier wäre.
Wir entscheiden schnell, noch eine Pause zu machen. Dass ich nicht über Nacht bleibe, stand für mich schon die ganze Zeit fest, aber auch meine beiden Schweden können der Stadt nicht viel abgewöhnen. So wollen wir uns noch einmal stärken und dann noch ein wenig weiterlaufen. Ich habe den beiden von einer Entdeckung in meinem Reiseführer erzählt. Es gäbe knapp fünf Kilometer von hier im ziemlichen Nirgendwo eine Hotel-ähnliche Unterkunft, bei der ein Pool in Planung sei, weiß mein Guide. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, genau dahin zu gehen. Ich glaube fest an diesen Pool. Und da Team Schweden nichts besseres vorhat, schließen sie sich mir an.
Wir sitzen gleich dort, wo der Camino die Pilger ausspuckt, unter der Markise eines der vielen Restaurants. Ich bestelle Mini-Empanadas und bin kurz darauf satt und zufrieden. Meine Zigaretten sind gestern zur Neige gegangen, Ben hat netterweise ausgeholfen. Das entwickelt sich langsam zum Running Gag, dass immer einer von uns den anderen anschnorrt. Aber so lange wenigstens einer von uns versorgt ist, passt es ja. Dennoch möchte ich gegen diesen Missstand vorgehen. Tina ist mehr als gern bereit, noch ein wenig sitzen zu bleiben und auf unsere Rucksäcke aufzupassen, während Ben und ich uns auf die Suche nach einer Tabaquería machen.
Ich stehe auf und stolpere fast beim Losgehen. Wenn man nach so langer Zeit ohne Rucksack losläuft, ist es immer kurz befremdlich-faszinierend. Man fühlt sich wie eine Aufziehfigur, die losgelassen wird, so leicht, dass man aufpassen muss, nicht vornüber zu kippen.
I’m an alien
Wir folgen der Hauptstraße mit ihren zahlreichen Geschäften. Die Schaufenster wirken wie aus einer anderen Welt, unsere Reflexion in den Scheiben bestätigt den Eindruck. Zwei Backpacker, die nicht so ganz in das bunte Treiben passen. „I’m an alien, I’m a legal alien“ summt es in meinem Kopf.
Wir laufen fast einen Kilometer, bis wir endlich fündig werden. Dafür bekomme ich aber endlich die Zigarettensorte meiner Wahl, die es in Spanien offensichtlich nur in größeren Städten gibt. Auch Ben kann sich mit Schnupftabak (komische Eigenheit) eindecken. Für den Rückweg wählen wir die Parallelstraße. Vielleicht ist es da nicht ganz so trubelig. Und siehe da, kurz bevor wir wieder bei Tina ankommen, finden wir einen weiteren Tabakladen, der gerade mal 150 Meter von ihr entfernt ist. Das hätten wir also auch einfacher haben können. Aber immerhin sind wir jetzt wieder auf dem neusten Stand, was Mode und sonstige Konsumgüter anbelangt.
Ich bin dennoch erleichtert, als wir uns aus der Stadt rausgeschlängelt haben. Der Trubel stresst mich inzwischen ziemlich, und ich ziehe die Ruhe der Wälder eindeutig vor. Der Jakobsweg führt uns erst zu einem Kloster hoch und dann, kaum haben wir Sarria verlassen, steil aufwärts durch einen Wald. Uns kommt ein schwer bepackter Asiate auf einem Fahrrad entgegen, der wissen will, ob dies der Weg nach Santiago sei. Wir erklären ihm, dass er in die falsche Richtung fahre, doch er schenkt unseren Ratschlägen keine weitere Notiz und fährt einfach weiter. Wir hingegen steigen Schritt für Schritt aufwärts. Wie so häufig zieht sich das letzte Stück. Man denkt immer, fünf Kilometer ließen sich noch schnell machen und erkennt spätestens nach einer halben Stunde, dass man noch nicht mal die Hälfte gemacht hat.
Wir queren einen kleinen Bach, und Ben trinkt begierig das kalte, klare Wasser. Dann zieht er kurz entschlossen seine Schuhe aus und kühlt seine Füße. Ich verzichte, auch wenn es verlockend ist. Meine Angst vor Blasen ist zu groß, seit ich gehört habe, dass nasse Füße sich dafür hervorragend eignen. Da bin ich wirklich abergläubisch. Never change a running system. Seit ich gestartet bin, habe ich gerade mal drei kleine Blasen gehabt. Die einzige, die stört, ist unter dem Fußballen und sitzt so tief, dass sie vermutlich rauswachsen muss. Im Vergleich zu vielen anderen Pilgern habe ich aber wirklich Glück. Das möchte ich gern so beibehalten, also kein Fußbad.
Ich laufe an einem beeindruckenden Baumstamm vorbei. Obwohl ein Großteil des Baumes vor langer Zeit abgebrochen sein muss, sprießen überall neue Blätter. Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie die Natur sich nicht unterkriegen lässt und weiter ihre Wege geht. Davon kann man sich durchaus ein Scheibchen abschneiden.
Als ich den Wald verlasse, bietet sich ein weiter Blick über die Wiesen. Man kann Barbadelo schon in der Ferne liegen sehen. Ich finde eine kleine Bank, hocke mich hin und lege noch eine kleine Raucherpause ein. Ben sinkt neben mich. Wir sind beide irgendwie ganz schön platt.
Ein paar Minuten später, taucht auch Tina auf. Sie gesellt sich nicht zu uns. Wenn sie sich jetzt hinsetze, stehe sie nicht mehr auf, sagt sie lachend und geht langsam weiter. Ich rufe ihr noch den Namen der besagten Unterkunft zu, falls sie vor uns ankommen sollte. Dann lehne ich mich wieder zurück. Die Ruhe hält nicht lange an. Am Waldrand tauchen drei weitere Pilger auf. Die Vorstellung, wie sich diese Drei eventuell mein Bett sichern, macht mir Beine. Sicherheitshalber gehen Ben und ich schnell weiter, bevor uns die Drei überholen.
Fünf Sterne Deluxe Tourigrino
Um viertel vor vier sind wir am Ziel. Die Anlage ist riesig. So wirklich pilgermäßig ist sie nicht. Es gibt ein Restaurant, eine Terrasse mit vielen Tischen und Stühlen, einen kleinen Souvenirshop und, Trommelwirbel, den besagten Pool. Tina kommt gerade von der Rezeption zurück und strahlt über das ganze Gesicht. „Du bist unser Glücksbringer“, sagt sie, „seit wir dich getroffen haben, schlafen wir nur noch in tollen Unterkünften.“ Ich kann ihr da nur zustimmen. Mir geht es ja genauso. Bis ich die beiden getroffen habe, war ich ja auch immer nur in öffentlichen Herbergen, aber mit Team Schweden haben sich jetzt tatsächlich schon zwei echte Glücksgriffe ergeben. Wir scheinen es verdient zu haben.
Unseren Schlafsaal teilen wir mit ein paar älteren, schnatternden Französinnen. Die Räumlichkeiten sind wirklich toll. Die Sonne scheint und Tina lotst uns auf die Terrasse, wo wir Sangria bestellen. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Wer hätte gedacht, dass wir heute so dekadent absteigen? Die Stimmung ist ausgelassen, und ich bedanke mich mal wieder still bei Raimund Joos für seinen Hinweis. Hier wären wir sonst vermutlich nicht abgestiegen. Salud!
Bevor wir endlich waschen und uns fertig machen, flitzen wir natürlich noch an den Pool. Es gibt Sonnenliegen, und ich mache es mir gemütlich. Endlich kommt mal mein Bikini zum Einsatz. Ich hatte schon befürchtet, ihn umsonst über die Pyrenäen geschleppt zu haben. Das Leben ist ein Fest. Meine Herren, das haben wir uns wirklich verdient.
Obwohl das Wasser schweinekalt ist, drehen Ben und ich ein paar Bahnen. Es ist herrlich erfrischend, und meine Energie ist sofort zurück. Als ich meinen täglichen WhatsApp-Bericht samt Fotos nach Hause schicke, sticheln dann auch gleich ein paar meiner Freunde, dass das, was ich da veranstalte, mit Pilgern wohl nicht mehr allzu viel zu tun habe. Ich muss grinsen. Auch ich hätte es für eher unwahrscheinlich gehalten, dass ich mal ein Pool-Bild vom Jakobsweg schicken würde. Aber wieso nicht mal für ein paar Stunden Tourigrino spielen?
Die Entdeckung der Schweizer Langsamkeit
Zum Abendessen werden wir an verschiedene Tische verteilt. Unser Dreiergrüppchen komplettiert ein Schweizer namens Urs. Die beiden Schweden kichern, als sie versuchen, seinen Namen richtig auszusprechen, dabei aber hauptsächlich gutturale Würgelaute produzieren. Ich bewundere derweil Urs‘ Ohrring. Er trägt eine Jakobsmuschel. Jeder Jeck is anders.
Urs hat viel zu erzählen. Anfangs höre ich ihm noch gern zu, aber zunehmend geht er mir auf die Nerven. Er erzählt uns gefühlt von jedem einzelnen Pilger, den er auf dem Weg getroffen hat. Der Haken daran: immer wenn Urs erzählt, kann er nicht essen. Während wir alle längst vor leeren Tellern sitzen, ist er noch nicht mal auf der Hälfte angekommen. Ben und ich warten zunehmend ungeduldig darauf, dass er fertig wird, damit wir endlich rauchen können. Das Ganze wird zu einer echten Geduldsprüfung für uns. Immer wieder führt Urs seine Gabel zum Mund, um dann kurz vor dem Ziel innezuhalten und die nächste Geschichte „damals auf dem Camino habe ich xyz getroffen“ anzustimmen. Wie hypnotisiert beobachte ich seine Gabel, die daraufhin erneut nach unten sinkt, gemeinsam mit meiner Stimme. Nächster Anlauf, gleiches Spiel.
Aus der Not heraus drehe ich den Spieß um und erzähle ihm von Dingen, die ich bisher erlebt habe. Mein Plan, dass er dann hoffentlich endlich mal isst, geht nicht auf. Er unterbricht mich immer wieder, um ähnliche Geschichte beizusteuern, oder meine noch irgendwie zu übertreffen. Irgendwann ist aber auch das ausgestanden und Urs Teller leer. Kaum legt der Schweizer Gabel und Messer beiseite, springen Ben und ich wie auf Kommando auf und stürmen nach draußen.
Als wir draußen endlich unserem Laster nachkommen können, schaut mich Ben ernst an und sagt: „Damals auf dem Camino habe ich ein Mädchen aus Deutschland getroffen.“ Wir brechen in schallendes Gelächter aus. Ich frage ihn, ob er American Pie gesehen hat. „Damals im Ferienlager…“. Erneut lachen wir uns schlapp. Als wir anschließend wieder nach drinnen gehen, um Tina aus den Fängen von Urs zu retten, packt sie gerade zusammen. Sie wolle früh ins Bett, so wie die letzten Abende auch.
Ich vermute, dass sie die ausdauernden Gespräche auf Englisch anstrengen. Je später es wird, desto häufiger spricht sie Schwedisch mit mir und bemerkt es erst, wenn ich sie mit drei Fragezeichen im Gesicht anschaue. Ben und ich sitzen noch bis kurz vor zehn zusammen und weiten das Thema 90er Jahre Musik bei einer Flasche Wein aus. Ich genieße es so sehr, endlich mal wieder jemandem in meinem Alter um mich zu haben. Das kann ich gar nicht oft genug sagen. Was für ein Glück, dass der Schwede mir für meine letzten Tage als Gesellschaft vorbeigeschickt wurde.
Morgen werden wir tatsächlich die Hundertkilometermarke knacken. Wir können es beide noch gar nicht glauben. Ich bin gespannt, wie viel auf dem Weg los sein wird, und ob wir problemlos ein Bett finden. Momentan bin ich noch unschlüssig, wie weit ich gehen werde. Portomarin wäre die nächstgrößere Stadt, aber vielleicht schaffe ich es ja auch bis kurz dahinter. Das wird sich morgen zeigen.
Zeitreise:
Vorwärts: Du willst wissen, ob uns nach unserem kleinen Hotelaufenthalt wieder die raue Pilgerwirklichkeit erwartet? Dann komm mit mir von Barbadelo nach Portomarin und sei dabei, wenn ich Paradiesvögel, Hat-Boy, Andy Warhol und die Sommerjungs treffe, das 90er Jahre ABC erfinde, einen Meilenstein erreiche und im Ort der nummerierten Kirche, gleich neben Atlantis, übernachte.
Rückwärts: Du hast verpasst, wie ich gestern erst einen Riesen im Nebel traf und dann von den beiden Schweden vor den Höllenhunden bewahrt wurde? Dann komm mit mir von O Cebreiro nach Triacastela und suche mit mir den Gin des Lebens.
Du bist hier heute durch Zufall gelandet und möchtest das Abenteuer von Anfang an erleben? Dann geht es hier entlang.
Kommentare und Ergänzungen
Bist du selbst den Jakobsweg gelaufen? Warst du vielleicht sogar in der gleichen Unterkunft in Barbadelo wie ich? Was war dein Luxusmoment auf dem Camino? Und wie viel Luxus darf es aus deiner Sicht unterwegs sein? Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.
Bin gespannt wie es weitergeht 😊