Tag 1 auf dem Mosel-Camino von Koblenz nach Alken: Bäckereifachangestellte, die auch mal ausbrechen wollen, Taxifahrten, die teurer sind als Zugfahrten, Wege, die über Leitern führen und Gott, der sah, dass es gut war (21.09.2017, 18 km).
Sie läuft also wieder. Endlich.
Obwohl die letzte Wanderung gerade einmal viereinhalb Monate her ist, kommt es mir wie eine Ewigkeit vor. Ich will wieder nach draußen, alles was ich brauche in einen Rucksack packen, Landschaften im Schneckentempo genießen, den Kopf so frei kriegen, dass dort wieder ungefragt schlechte Musik läuft, mich bewegen und – ja – so viel Eitelkeit darf ja wohl sein, nebenbei noch die Figur optimieren. Die Freude ist riesig.
Ich habe einen Hochzeitskoffer in Bonn
Vor mir liegen knapp vier Wochen, die nur von wenigen Fixpunkten bestimmt sind: Anreise am 21.09., Hochzeitsfeier am 30.09. und Gas-Mann am 19. Oktober in meine Hamburger Wohnung lassen. Ansonsten liegt es an mir. Klar habe ich eine ungefähre Route mit Etappen ausgearbeitet, aber bis zur Hochzeit in Bonn habe ich zwei Puffertage, um ein wenig flexibel zu sein.
Gestern hatte ich einen sehr schönen Nachmittag mit meiner Bonner Freundin und ihrer Familie. Fangen und Feuerwehr spielen mit den Kleinen und später auf meinen neuen Job und das Leben anstoßen mit der Hausherrin. Um halb elf waren wir beide reif fürs Bett. Traf sich gut, denn der Tag heute beginnt früh. Um 6:30 Uhr klingelt mein Wecker. Die beiden Kids sind schon wach und deutlich fitter als ich.
Ein letzter wehmütiger Blick auf meinen „Hochzeitskoffer“, in dem sich mein normales Leben in Form von Jeans, Pulli und Beautykrams sowie das Kleid für die Hochzeit meiner Freunde befindet. Und dann heißt es: „Bye bye, Zivilisation, hallo Multifunktionsklamotten. Eitelkeit ist was für Stadtmädchen.“
Im Schweinsgalopp nach Koblenz
Ich gebe Gas – schließlich habe ich einen Bus und einen Zug zu erwischen, um nach Koblenz zu kommen. Nach dem Frühstück stehe ich überpünktlich an der Bushaltestelle vor dem Haus. Die Kinder winken durchs Fenster. Nach fünf Minuten werden sie des Winkens überdrüssig, während ich mich frage, wo mein Freund der Bus bleibt. Der sollte längst da sein. Ich warte. Und warte. 10 Minuten später kommt der nachfolgende Bus, und ich bin innerlich in etwa so ausgeglichen wie Donald Trump beim Twittern.
Das ist hier keine Spaßveranstaltung. Müßiggang und freie Zeiteinteilung gibt es erst ab Stolzenfels. Bis dahin habe ich einen hart durchgetakteten Zeitplan, der von langer Hand geplant ist: mit dem Bus nach Bad Godesberg – dort in den Zug nach Koblenz HBF – den Bus nach Stolzenfels erwischen (der fährt nämlich nur zweimal die Stunde) – auf in die dortige Ortsverwaltung, den Pilgerpass besorgen (Öffnungszeiten für die Ausweisausgabe von 9 bis 10 Uhr – ja-haaa!!) und dann los, um gegen fünf am Ziel zu sein. 20 km laufen sich schließlich auch nicht von selbst.
Mein Plan interessiert den Bus offensichtlich nicht. Also wie immer: tief durchatmen und darauf vertrauen, dass es schon trotzdem klappen wird. Camino eben. Und siehe da, ich habe Glück. Der Zug nach Koblenz hat ebenfalls Verspätung. Kleiner Augenzwinker nach oben. Nach einem Sprint (macht mit einem 10-kg-Rucksack RICHTIG Spaß) zum Bahnhof, bei dem die Hauptherausforderung darin besteht, nicht sämtlichen Passanten mit dem Rucksack eins über zu braten, erreichen der Zug und ich zeitgleich den Bahnsteig.
Keuchend sinke ich auf meinen Platz. Der Rhein liegt im frühmorgendlichen Nebel, und ich lasse mich genau so lange von der Rhein-Romantik mitreißen, bis der Geruch von Sekt zu mir herüberwabert. Na herrlich. Mutti und Vati am Tisch neben mir picheln sich schon mal schön einen rein (es ist 8:30 Uhr!), um sich auf den Urlaubstag bei Väterchen Rhein (oder wo auch immer die Reise hingeht) einzustimmen. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Für olfaktorische Belästigung bin ich durchaus empfänglich, vor allem morgens.
Allein als Frau mit einem großen Rucksack
In Koblenz angekommen suche ich erst einmal eine Bäckerei auf. Durch die Verspätung des Zuges ist mein Bus natürlich längst über alle Berge. Die junge Dame hinter dem Tresen schaut entgeistert auf meinen Rucksack. Was ich denn vorhabe? Ich erzähle bereitwillig, dass ich von hier nach Trier laufen werde. Und gegebenenfalls noch von Bonn nach Wiesbaden im direkten Anschluss. Insgesamt also bummelige 500 Kilometer zu Fuß.
Sie seufzt. So etwas würde sie auch gern mal machen. Einfach mal raus. Aber mit so einem Rucksack? Zu Fuß? Das klinge ja doch recht anstrengend. Außerdem würde ihr Mann sie das sicherlich sowieso nicht machen lassen. Ob ich das wirklich alleine täte? Als Frau??? Diese Frage wird mir in den nächsten Wochen noch häufiger gestellt werden.
Taxifahrt ins Glück
Ich entscheide mich dagegen, auf den nächsten Bus zu warten. Das wird zu knapp bei den generösen Öffnungszeiten des Amtes und beschließe, mit dem Taxi zu fahren. Laufen kann ich in den nächsten Tagen noch genug, außerdem habe ich noch einen Gutschein von MyTaxi. Tja, da habe ich die Rechnung ohne Koblenz gemacht. Meine App zeigt mir im Umkreis von x Kilometern nicht ein einziges Taxi an. Als ich den Taxifahrer, der am Bahnhof steht, danach frage, faucht er mich an: „So ne Scheiß brauche mer hier nisch.“ Aha. Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Also kein Gutschein.
Stattdessen dehnen wir die Fahrt noch unnötig aus. Mein Fahrtziel „Ortsverwaltung Stolzenfels“ in der Rhenser Straße wird geflissentlich ignoriert. Der Charmebolzen fährt mich lieber am Ziel vorbei und weiter Richtung Rhens. Ich habe parallel Google Maps offen und wage, darauf hinzuweisen, dass wir am Ziel vorbeigeschossen seien. Genervter Blick. Unfreundliches Grunzen. Aber man bremst. „Sie wollen doch nach Rhens!“ Nein, will ich nicht. Ja dann müsse ich das halt sagen. Meine Herren. Also Taxameter aus und wieder zurück.
Endlich zum Schnäppchenpreis von 17 Euro an der Ortsverwaltung angekommen, werde ich von einer netten älteren Dame freundlich begrüßt. „Ach, eine Pilgerin! Allein unterwegs?“ Ich bekomme für vier Euro meinen Pilgerpass, und wir unterhalten uns noch ein bisschen. Doch, doch, es seien viele Pilger unterwegs. Sicher 15 in den letzten sechs Wochen. Tja, Menge liegt eben immer im Auge des Betrachters. Um überfüllte Unterkünfte wie auf dem Camino Frances, wo es vermutlich 15 Pilger alle zehn Minuten gab, muss ich mir also keine Sorgen machen.
Ich gehe noch mal für kleine Pilgerinnen und will gerade meine Wanderstöcke auf die richtige Höhe einstellen, als mir kurz das Herz stehen bleibt. Der eine klemmt. Irgendwie kriege ich ihn doch noch auseinander geschraubt, aber so ganz traue ich dem Braten nicht. Das wäre es jetzt noch. Meine Stöcke sind mir heilig – egal wie bescheuert ich damit aussehe. Sie reduzieren das Gewicht des Rucksacks, helfen beim Balancieren und machen mich schneller.
Wasser vom lieben Gott
Ich gehe los. Erste Zigarettenpause an der Bushaltestelle nach zwei Minuten. So viel Zeit muss sein. Noch mal sammeln. Und dann die nächste Erkenntnis: Mist. Der Ort besteht aus einer einzigen Straße. Es gibt weder eine Bank noch einen Supermarkt. Wer konnte das ahnen? Trifft sich gut, wenn man Bargeld braucht und nur noch einen Klecks Apfelschorle in seiner Trinkflasche hat. Ich bin halt Profi.
Ich ärgere mich über mich selbst. Wieso habe ich das nicht am Bahnhof erledigt? Kurz überlege ich, noch einmal zu der netten Dame zurückzugehen und zumindest das Wasserproblem zu lösen, entscheide mich dann aber dagegen. Es wird sich schon ein Weg finden, wenn man auf den Weg vertraut.
So biege ich also der ersten Muschel folgend links ab in Richtung Schloss Stolzenfels. Es geht durch ein beeindruckendes Aquädukt (glaube ich zumindest).
Nur wenige Meter links davon liegt eine hübsche, alte Kirche (St. Menas), die ich mir anschauen möchte. Auch so ein Tick von mir – ich kann immer nur schwer an Kirchen vorbei gehen, ohne nicht zumindest einen kurzen Blick rein zu werfen und vielleicht sogar ein Kerzchen anzumachen. Leider stehe ich bei dieser vor verschlossener Tür.
Als ich gerade wieder zurückgehen will, sticht mir etwas Grünes ins Auge: eine Gießkanne. Hinter der Kirche befindet sich der Friedhof, und es gibt natürlich alles, was zum Blumengießen benötigt wird, so auch einen Wasserhahn. Zack – Problem leere Wasserflasche gelöst. Ich laufe den Weg, den ich hochgelaufen bin, zurück, um der Markierung wieder zu folgen, nur um wenige Minuten später festzustellen, dass ich auch gleich von der Kirche hätte weiter hoch gehen können. Das kommt davon, wenn man alles hyper korrekt ausführen will.
An die Markierungsweise muss ich mich eh noch gewöhnen. Von meinen letzten Jakobswegen bin ich hauptsächlich gelbe Pfeile gewohnt, die manchmal noch zusätzlich von einer Muschel begleitet werden. Hier gibt es nur selten Pfeile. Die Muschel zeigt den Weg – ihre Strahlen gebündelt geben die Richtung vor. Sprich: das „dicke Ende“ zeigt in die richtige Richtung. Irgendwie erscheint es mir andersrum sinnvoller, so dass ich ein paar Mal in die falsche Richtung will, aber das wird sich sicher schnell legen.
Um zehn bin ich am Schloss, das gerade öffnet. Es ist nach wie vor sehr neblig, so dass die Aussicht leider nur wenige Meter zulässt. Die nette Dame am Schalter erklärt sich sofort bereit, meinen Pilgerausweis zu stempeln. Als sie sieht, dass der reguläre Stempel von Stolzenfels bereits drin ist, überlegt sie kurz und meint dann: „Na dann bekommen sie eben unseren besonderen Stempel“ und kurz darauf prangt ein edler Schloss-Stempel in meinem Credencial.
Am Getränkeautomaten besorge ich mir noch eine Limo und dann geht es wirklich los. Und wie. Es geht steil bergauf, und ich ertappe mich schon nach kurzer Zeit beim Keuchen. Die hartnäckige Erkältung, die mich die letzten zwei Wochen im Griff hatte, ist noch immer nicht ganz weg. Wie gut dass ich meine Stöcke habe.
Die nächste Stunde führt mich quer durch den Wald, in dem Muscheln und Pfeile auf Vogelhäuschen und Fledermauskästen den Weg weisen.
Göttliche Erleuchtung
Ich sehe keine Menschenseele. Um halb elf bricht plötzlich die Sonne durch den Nebel. Ich stehe mitten im Wald und kriege den Mund nicht mehr zu. Dicke Sonnenstrahlen liegen so deutlich vor mir, dass man meinen könnte, sie ließen sich berühren. Es sieht aus wie ein überdimensionaler Heiligenschein und ist fast unwirklich.
Ganz ehrlich: würde ich nicht mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, würde ich denken, ich hätte gerade eine Erscheinung. Anders als bei Kollege Moses brennt hier aber kein Dornbusch und keine Stimme spricht. Ist mir ehrlich gesagt ganz lieb. Wir wollen es an Tag Eins ja nicht übertreiben. Und erst recht nicht, wenn ich allein im Wald bin.
Wieder „cash in de Täsch“
Nach einer halben Stunde, laufe ich an den Grundmauern des Merkurtempels aus der Römerzeit vorbei. Ganz ehrlich, stünde dort kein Schild, ich hätte das Häufchen Elend vermutlich übersehen.
Nach sieben Kilometern komme ich an die Ausläufer des Ortes Waldesch. Eigentlich führt der Weg am Ort vorbei, aber ich beschließe, dass ich erst mal mein Bargeld-Problem in den Griff bekommen muss, sodass ich nach rechts statt nach links abbiege. Eine Passantin frage ich nach der nächsten Bank. Ihr verwunderter Blick streift meinen Rucksack, dann hilft sie mir weiter. Ihren Anweisungen folgend, stehe ich wenig später mitten im Wohngebiet vor einer Bankfiliale. Wieder ein Problem weniger.
Als ich zurück auf den Weg will (diesmal gehe ich nicht exakt die gleiche Route zurück), entdecke ich am Ortseingang einen Norma-Supermarkt. Das passt ja hervorragend. Da kann ich gleich ein paar Dinge fürs Mittagessen zu besorgen. Et voilá – kurz darauf bin ich stolzer Besitzer von Kartoffelsalat mit Frikadellen, einem Apfel, einem Joghurt und einer Laugenstange. Die verständnislosen Blicke der anderen Kunden, die sich doch ein wenig wundern, dass jemand mit Wanderstöcken durch den Norma stiefelt, gibt es umsonst on top. Der im Komplex ansässige Bäcker verfügt über eine Toilette. Welch ausgemachter Glückspilz ich doch bin.
Schnell führt mich der Weg nun unter Apfelbäumen hindurch und auf Feldwegen entlang. Die Ausblicke in die Landschaft sind sagenhaft. Bis zu meiner Mittagspause begegnen mir auf dem Weg genau zwei Menschen und ein Hund. Ständige Begleiter sind mir dafür Mistkäfer, die offensichtlich auch alle pilgern.
Die Pause zelebriere ich dann aber in Gesellschaft, bzw. unter dem wachsamen Blick des Bauern, der gerade sein Feld umpflügt. Ich bin ihm dankbar, dass er nicht düngt und genieße die Ruhe, die Sonne und schicke ein paar gut gemeinte „hoffe, euch geht es auch gut“ Bilder an die lieben Freunde und Kollegen zuhause. Ha! Welch Luxus. Es ist Mittwoch, alle arbeiten, und ich laufe im Sonnenschein durch Rheinland-Pfalz.
Von Leitern und anderen Erhebungen
Kauend begutachte ich das nächste Stück Camino vor mir. Es geht hoch hinaus. Und zwar über eine (kleine) Leiter. Why not – der Kartoffelsalat verleiht mir Flügel, und ich tauche erneut in den Wald ab.
Alle zehn Schritte taucht ein weiteres Vogel- oder Fledermaushaus mit gelber Muschel und Pfeil auf. Verlaufen kann man sich hier wirklich nicht.
Als ich gerade auf eine Lichtung zusteuere, höre ich Geplapper und bin kurz versucht, wie im Kino ein ärgerliches „Pscht!“ zu zischen. Wie schnell man sich an die Ruhe gewöhnt! Vor mir tauchen zwei Damen in den 60ern auf, beide mit Rucksäcken samt Muschel. Ich weiß augenblicklich Bescheid – wir sind Brüder bzw. Schwestern im Geiste. Die Jakobsmuschel am Rucksack ist DAS Erkennungszeichen der Jakobspilger.
Nur habe ich gerade überhaupt keine Lust auf Gesellschaft. Also grüße ich kurz und flitze an den beiden vorbei, nicht ohne zu hören, wie sie sagen: „Ach schau! Noch eine Pilgerin! Ob sie allein unterwegs ist?“
Um 14:45 Uhr taucht auf einmal die Dreifaltigkeitskirche auf dem Bleidenberg auf. Der Blick von dort ist umwerfend: vor mir liegt auf einem Hügel Burg Thurant und zum ersten Mal heute erspähe ich die Mosel und ihre Weinberge. Von der Bank vor der Kirche genieße ich die wunderbare Aussicht. Ich bin ganz schön hoch oben, fällt mir auf.
Als ich wenig später die kleine Wallfahrtskirche betrete, schlägt sie mich augenblicklich in ihren Bann. Sie ist ganz schlicht gehalten und mit einer tollen Holzdecke versehen.
Ich mache mein obligatorisches Kerzchen mit der Bitte an, dass ich meine Füße an die rechten Stellen setzen werde und trage mich in das Gästebuch ein.
Als ich aus der Kirche komme, sitzen die beiden Pilgerinnen von vorhin davor. Wir kommen ins Gespräch. Die beiden sind vor einem Monat bereits in einer geführten Gruppe mit Gepäcktransport von Treis-Karden nach Trier gelaufen und möchten das ausstehende Anfangsstück jetzt noch nachholen und diesmal „richtig“ pilgern. Die beiden, die mit Wanderführer ausgestattet sind, geben mir netterweise noch Übernachtungstipps für Alken.
Prozessieren am Limit
Dann mache ich mich an den Abstieg, der laut Streckenführer „recht steil hinunter“ geht. Ja-ha-ha. So kann man es auch nennen. Besonders schön dabei ist die Kombination aus steil, Schiefer, Schotter und Geröll auf diesem Trampelpfad. Das Schild, das einem rät, bei schlechtem Wetter diesen Weg nicht zu gehen, steht da sicher auch nicht zum Spaß.
Zu allem Überfluss ist das aber nicht nur ein Weg, sondern ein Kreuzweg. Wie sich hier eine ganze Prozession hinauf- und später wieder hinunterwinden soll, ist mir, gelinde gesagt, schleierhaft. Ich hingegen bin einmal mehr froh, dass ich meine Stöcke dabei habe und kraxle, das ein oder andere Stoßgebet auf den Lippen, durch den Weinberg gen Tal.
In Alken angekommen biege ich sogleich nach links ab, um ein Bett in der hiesigen privaten Pilgerunterkunft zu erhaschen. Leider ist niemand zuhause, so dass ich erst einmal eine Weinschänke (Weingut Anton Hammes) aufsuche. Bei einem großen Wasser und einem sehr leckeren Riesling (0,2l für € 2,50, take that, Hamburg!) bin ich schnell wieder bei Kräften und komme mit umsitzenden Gästen ins Gespräch, die über meinen Rucksack staunen. Wow – 180 km laufen. Ich versuche noch ein paar Mal telefonisch mein Glück bei der Unterkunft, doch es soll nicht sein.
So begebe ich mich zur Tourist Information gleich am Moselufer, wo eine nette Dame für mich solange rumtelefoniert, bis sie mir schließlich eine Übernachtung mit Frühstück zum Schnäppchenpreis von €45,- anbieten kann. Ich schlucke kurz (zum Vergleich: die Unterkünfte in Spanien oder Portugal bewegen sich bei ca. 10-12€), aber nehme es gelassen. Wie sagt Papa so gern? „Es trifft keinen Armen.“ An der Mosel mag es zwar nicht von Pilgern wimmeln, die Annahme, dass ich von daher problemlos eine Unterkunft finden werde, scheint aber dennoch nicht hinzuhauen, denn ich habe meine Rechnung ohne die Touristen gemacht.
Die Pension Hein ist dann aber jeden Cent wert. Sehr ansprechend mit einem wunderschön bepflanzten Innenhof ausgestattet, gibt es in einem separaten Teil des Hauses ein Zimmer mit großem Bett und Badezimmer nur für mich allein, darin eine Dusche, die ordentlich heißes Wasser prasseln lässt. Auf den anderen Caminos war nach dem Duschen immer Zeit fürs Wäschewaschen. Ich frage ich mich jetzt schon, wie ich das machen werde, denn anders als in Spanien, gibt es hier draußen keine Waschvorrichtungen, und es ist nicht warm genug, um die Sachen über Nacht draußen trocknen zu lassen. Da läuft es wohl auf Waschsalons hinaus. Hoffentlich. Schlüppis am Rucksack trocknen lassen, finde ich nämlich eher semi-cool.
Die Journalistin und der Eifelverein
Ich widersetze mich meinem Impuls, mich „kurz“ hinzulegen (und dann nie wieder aufzustehen) und gehe raus an die Mosel. Leider kommt die Sonne nicht mehr bis an uns heran – ein Hügel ist im Weg. Dennoch sitze ich lange auf meiner Bank am Wasser, rauche entspannt und schaue mir die Fotos des heutigen Tages an. Was für eine surreale Vorstellung, dass, während ich hier in Multifunktionsklamotten relaxe, mein Team (bzw. Ex-Team) sich vermutlich gerade für die Gala eines jährlich stattfindenden Kongresses in Berlin in Schale wirft. Das ist jetzt schon so weit weg! Ich bin fasziniert, wie schnell das geht.
Meine Energie ist seit Tag Eins nach der Kündigung auf dem Rückmarsch, und ich bin absolut überzeugt, dass die Kündigung absolut richtig ist. Ich freue mich tierisch darauf, jetzt erst mal Zeit für mich zu haben und im Anschluss etwas Neues anzufangen, neu zu lernen, sich neu in ein Team einzufügen. Aber bis dahin konzentriere ich mich erst mal auf das Jetzt. Und das sagt mir klar: ich habe nach knapp 600 Höhenmetern rauf und auch wieder runter JETZT schon ordentlich Muskelkater im Po.
Der Tag klingt bei Käsespätzle in einem der vielen Restaurants aus, wo ich noch Tagebuch schreibe. Das ältere Ehepaar, zu dem ich an den Tisch gesetzt worden bin, fragt, ob ich Journalistin sei, weil ich so schnell schreibe. Ich erzähle, dass ich meine heutigen Wandererlebnisse festhalte und da sagt sie zu ihm: „Hättest du das auch mal gemacht, da wäre einiges herausgekommen.“ Wie sich herausstellt, ist der Herr Mitglied im Eifelverein, aber leider ohne Schreib- oder sonstige Kommunikationsambitionen. Auf meine Frage, worauf ich mich am meisten freuen kann, sagt er nur „alles schön“. So sei es. Ich falle nur noch ins Bett und schlafe tief und fest.
Zeitreise
Vorschau: An Tag zwei erwarten mich einige Umwege, ein Abstecher in meine Zeit als Prinzessin, und ein Lauf gegen die Zeit bzw. einbrechende Dunkelheit. Neugierig? Dann hier entlang auf meinem Weg von Alken nach Engelport.
Rückblick: Du fragst dich, wieso ich mir den Mosel-Camino ausgesucht habe? Hintergründe findest du hier.
Erfahrungsaustausch und Feedback
Bist du selbst schon einmal einen Jakobsweg gelaufen? Vielleicht sogar den Mosel-Camino? Was hast du dabei erlebt? Gibt es etwas, das dir an meinem Beitrag besonders gefallen hat, was du vermisst oder was dich gestört hat? Immer raus damit. Ich freue mich wirklich über Kommentare.
Liebe Audrey,
du schreibst so schön und anschaulich – so ehrlich und authentisch. Ich habe auch mehrmals laut gelacht und kann Vieles von dem Beschriebenen so gut nachvollziehen.
Freue mich auf weitere Berichte!
Aurora
Danke dir 🙂 Ich gebe mir Mühe und habe mich sehr gefreut, bei dir auf Rheinsteig-Erfahrung zu stoßen. Aber Schritt für Schritt – erstmal den Mosel-Camino zu Ende erzählen
Ja stimmt, ich komme neben der Arbeit auch nicht hinterher mit dem Schreiben meiner Wander-Erlebnisse.
Übrigens kenne ich auch die Kirche auf dem Bleidenberg vom Traumpfad „Bleidenberger Ausblicke“, den ich um Ostern während eines Kurzurlaubs an der Mosel gewandert bin. Leider war die Kirche zu als ich da war. Schön, jetzt mal ein Bild vom Innenraum zu sehen!
Und den steilen, schotterigen Kreuzweg hinab nach Alken bin ich damals hoch gelaufen. 🙂
Sehr schön geschrieben…amüsiere mich köstlich beim Lesen! Da hab ich ja jetzt was zum nachlesen, die nächsten Tage! Danke für den Link 👍🏽
Liebe Rosi, das freut mich sehr. Ich wollte mich nicht aufdrängen, aber hatte die leise Vermutung, dass es passen könnte 😉
„Das WLAN ist offen. “
Liebe Audrey, liebe Wanderwoman.
Sitze gerade im Flixbus von B nach KO und habe Zeit für eine Lobeshymne.
Bereits vor Wochen habe ich dein Mosel Camino Tagebuch mit großer Begeisterung verschlungen. Ich lese ja sonst nicht gern lange Texte auf dem Handy, aber deine Abenteuerberichte können gar nicht lang genug sein, je mehr, desto Spaß.
Selten sind Blogs mit soviel Überlegung gestaltet. Vor allem natürlich textlich, Teaser, Zwischenüberschriften, Cliffhanger, getextete Navi vor und zurück… alles passt wunderbar. RESPEKT, RESPEKT. Mach nur weiter so… 😉
Heute gehts also nach Koblenz, noch Seilbahn über den Rhein und Altstadt, morgen dann der Einstieg, Etappe Eins zu Frau Hein. Sollen wir grüßen?
Und dann das noch: fahren gerade nahe Wolfenbüttel vorbei. Das durftest du ja kennenlernen. Es ist meine Heimatstadt… Dein Blogger Workshop Bericht war eine amüsante Erinnerung für mich…
Alles Gute, ich bin bei Dir 🙂
Ralph
Lieber Ralph,
ich bin gerade ziemlich heftig gerührt von deiner langen Lobeshymne, die für meinen Geschmack gar nicht lang genug sein könnte 🙂 Also erstmal vielen Dank!
Bitte, bitte grüßt Frau Hein (falls sie sich erinnert – zu der Zeit habe ich noch nicht gebloggt, so dass der Hinweis „die mit dem Wanderblog“ nicht viel bringen wird, aber vielleicht hilft ja ein Foto) und dan genießt das Frühstück. Und natürlich den ganzen Weg.
Ihr geht doch den ganzen Weg?
Würde mich tierisch freuen, wenn du im Anschluss an eure Etappen, mal deine Erlebnisse hier hinterlässt. Vielleicht habe ich ja noch was übersehen / vergessen etc., was für andere Leute hilfreich sein könnte.
Die Hoffnung beim Schreiben war tatsächlich, dass es anderen Leuten einen Überblick verschafft UND Lust auf die Wanderung macht.
Also Buen Camino und bleib dran. Ich bin zumindest wieder mega motiviert, weiter zu schreiben.
Cheers,
Audrey
Du bist ja auf Draht… !
Ja, ich MUSSTE mir doch Mühe geben..
Und ja, wir – Froindin und ich – wollen bis Trier, den Martin wecken.
Rechts das Navi am Rucksack, bloß nicht verlaufen… und links dein Blog unterm Arm. Also keine Stützstöcke. Aber neue Pilgersocken…
Was soll da schief gehen, werden ja auch Riesling gedoped sein 🙂
Ich werde berichten, wie du es bestellt hast.
Liebe Grüsze
Ralph
Martin oder doch eher den Matthias 🤣🤣🤣?
Waaas? Der schläft auch…!? … Nicht reingefallen, Du.
Menno, hatte auch schon Koblenz und Konstanz verwechselt 😅.
Kenn mich im Westen doch nicht so aus.
Liebe Audrey,
nach meinem Camino Frances gegen Ende letzten Jahres hat mich das Camino-Fieber wieder gepackt und ich werde mich ab 8. April auf den Mosel-Camino begeben. Nicht zuletzt Dein Blog hat den Ausschlag gegenüber dem Camino Portugues gegeben 🙂
Auch wenn ich zumindest die erste Etappen außerhalb der Osterferien pilgere, mache ich mir ein paar Gedanken wegen der Unterkünfte. Ich würde mich eigentlich nur sehr ungerne durch Reservierungen vorab auf Etappenziele festlegen – wie spontan ging das bei Dir? Kloster Engelport und die Lateinschule in Traben-Trabach möchte ich mir nicht entgehen lassen, aber ob es da reicht, einen Tag vorher anzurufen?
Viele Grüße und schreib weiter so begeistert und begeisternd,
Stefan
Hallo Stefan, lieben Dank für deine Rückmeldung. Das freut mich wirklich sehr. Was die Wegfindung anbelangt, so könnte ich beide Wege uneingeschränkt empfehlen. Der Mosel-Camino ist wunderschön, aber stell dich darauf ein, dass du ihn komplett alleine gehst.
Was die Unterkünfte anbelangt, so kannst du davon ausgehen, dass sowohl Lateinschule als auch Engelport mit einem Tag Vorlauf ausreichend sind. Klausen kann ich dir ebenfalls empfehlen. Das ist die einzige „richtige“ Pilgerherberge auf dem ganzen Weg.
Ich kann total verstehen, dass du wenig Lust auf durchgetaktete Unterkünfte hast. Ich würde mir aber trotzdem einen Plan machen und vorher schon mal nachfragen, wie stark die ausgelastet sind. Und sei es auch nur für dein Gefühl. In den Ferien ist sicher einiges los.
Ich wünsche dir wahnsinnig viel Spaß – Buen Camino, Audrey
Hallo Audrey,
vielen lieben Dank für Deine Tipps! Dass ich alleine gehe, ist vollkommen beabsichtigt. Wie in der Mesata das Kopfkino klein kriegen, nur mir mehr Bergen und Bäumen 😅 …und wenn ich unterwegs jemanden treffe, freue ich mich umso mehr.
Der Portugues steht auch nach wie vor ganz weit oben auf meiner Liste. Aber ich habe aktuell noch zu viel Respekt, um nicht zu sagen ein bisschen Schiss davor, nur ein knappes halbes Jahr nach meinem Einlauf in Santiago wieder dort zu sein…
Wenn du darüber blogst, werde ich auf jeden Fall jede Silbe verschlingen und mich hinterher noch mehr auf diesen Weg freuen!
Grüße und Buen Camino
Stefan
Ich werde darüber schreiben, aber nach dem Hexenstieg ist jetzt zu 90% erst mal der Norte an der Reihe, denn den setze ich im Mai fort. Dann kann ich mich gleich darauf einstellen. Und wenn ich damit durch bin, ist Zeit für den Portuguese.
Wenn du Bock auf Einsamkeit hast, ist der Mosel-Camino definitiv die beste Wahl. Und wenn ich noch einen Tipp zum Besten geben darf: versuche gar nicht erst, ihn mit deinem Frances zu vergleichen. Das ist mir beim Portuguese passiert und die ersten Tage waren eine riesige Enttäuschung 😊
Keine Ahung, ob ich enttäuscht sein würde. Aber es wäre wohl in jedem Fall anders – und die frischen Erinnerungen und Erlebnisse vom Frances will ich nicht schon wieder überschreiben.
Glücklicherweise ist der Portugues ja kurz genug, dass man ihn in einem „normalen“ Urlaub pilgern kann. Von daher ist er nur einen Urlaubsantrag entfernt.
Liebe Audrey,
es ist soweit. Am 29.04.22 beginne ich meinen Mosel Camino. Deine Erfahrungen aus 2017 haben sich bei fest eingebrannt. Nun werde ich deinen Spuren folgen.
Fürs Erste, freue ich mich zum wiederholten mal auf deinen Blog.
Lieber Hans,
Ich hoffe, dass du eine tolle Wanderung vor dir hast. An der Strecke wird es jedenfalls nicht scheitern und auch nicht am Wein 😉
Genieß es,
Audrey