Tag 2 auf dem Mosel-Camino von Alken nach Engelport: alle Wege führen nach Hatzenport, nicht jede Burg liegt auf einem Berg, Singen gegen Wildschweine und schlechtes Timing beim Schweigegelübde (22.09.2017, 25 km+3)
Der Tag fängt hervorragend an. Meine Gastgeberin, Frau Hein, hat ein bombastisches Frühstück für mich gezaubert, inklusive Ei, selbstgemachter Marmelade und einem Joghurt mit frischen Johannisbeeren. Für alles, was nicht in meinen Magen passt, liegen Butterbrottütchen bereit. Darauf besteht sie! Beim Frühstück unterhalten wir uns über Veränderungen im Berufsleben und meine Gastgeberin schwärmt von ihrem neuen „Job“ im Tourismus und ist froh über ihre Entscheidung, Gäste aufzunehmen. Sie drückt mir die Daumen, dass ich ein ähnliches Erfolgserlebnis haben werde und wünscht mir alles Gute bei meinen Branchenwechsel.
An der Kirche vom rechten Weg abkommen
Der heutige Weg beginnt direkt vor meiner Haustür. Um viertel vor zehn mache ich mich etwas später als gedacht auf den Weg. Vor mir liegen gute 25 km.
Ich will unbedingt im Kloster Maria Engelport hinter Treis-Karden übernachten. Da Frau Hein der Meinung war, dass man dort nicht mehr übernachten könne, habe ich sicherheitshalber heute Morgen angerufen. Doch, das gehe wieder, und man freue sich auf mein Kommen.
Für mein Bett ist somit gesorgt, was mir nach hinten ein wenig Zeit verschafft. Bei einer so abgelegenen Unterkunft (7 km Wald in beide Richtungen) will man ja nicht blind auf sein Glück vertrauen, dass vor Ort schon etwas frei sein wird.
Das Land liegt noch im Nebel und wirkt wie verzaubert. Es wird also wieder ein schöner Tag werden.
Schnell bin ich auf der Brücke nach Löf, von wo mich mein Weg in Richtung Kirche führt. Ich will sie mir gern anschauen, doch niemand ist zuhause, die Türe ist verschlossen. Schlaufuchs, der ich bin, gehe ich auf der anderen Seite der Kirche wieder runter und setze meinen Weg fort. Jakobswege führen schließlich immer [sic!] an den Kirchen vorbei.
Alle Wege führen nach Hatzenport – leider
Nach ca. 10 Minuten fällt mir auf, dass ich schon länger keine Muschelzeichen mehr gesehen habe, dafür aber zunehmend Moselhöhenweg- und Moselsteigschilder. Alle Wege führen nach Hatzenport oder zumindest Burg Eltz, denke ich mir. Zur Sicherheit frage ich noch einen älteren Herrn auf seinem Balkon. Ja, ja, da gehe es auch nach Hatzenport. Und es sei auch ein viel schönerer Weg. Dass der Weg auch deutlich weiter ist, verschweigt mir der Gute.
Ich nehme also Anlauf und Attacke: ran an den ersten Anstieg. Wenn ich bereits jetzt etwas gelernt habe, dann dass es auf dem Mosel-Camino immer rauf und runter geht. Schnell befinde ich mich in einem Urwald saftigen Grüns, die Sonne scheint, unter mit plätschert ein Bach, über mir zwitschern Vögel und neben mir – na klar – befinden sich Kreuzwegstationen. Ob die heute noch genutzt werden? Ungefährlich ist das sicher nicht, denn die Wege sind manchmal gerade mal 50 cm breit. Die Katholiken an der Mosel scheinen auf alle Fälle abenteuerlustig zu sein!
Nach einer Dreiviertelstunde gelange ich an einen Aussichtspunkt. Und eieiei, was sehe ich da? Unter mir liegt gefühlt 200 Meter entfernt die Kirche von Löf, an der ich vom Weg abgekommen war. Danke, lieber Gott. Erst nicht zuhause sein und dann auch noch auf den falschen Pfad schicken. So mag ich das.
Ich entscheide, es mit Humor zu nehmen. Es ist eh zu spät und immerhin war der Weg hübsch. So ein Umweg ist nur etwas ärgerlich an einem Tag, an dem man auch ohne Zusatzschlenker bereits 25 km vor der Brust hat.
Die Loreley von der Mosel
Ich setze meinen Weg singend fort. Ein paar Runden Dona Nobis Pacem, auserkorener Lieblingskanon beim Wandern, erschallt, bis mir das Lied auf den Lippen erstirbt. In einiger Entfernung sehe ich Menschen. Oh Mann, wie peinlich. Als ich die drei Wanderer kurz darauf überhole, sagt der Mann mit breitem niederländischen Akzent: „Ik dachte schon, ik hör de Loreley!“ Ich muss lachen, auch wenn es mir ein bisschen unangenehm ist.
Es dauert nicht lange, bis ich auf eine Frau auflaufe, die mit ihren beiden Hunden unterwegs ist. Ich frage sie nach dem besten Weg in Richtung Rabenlay und Lassserg und erzähle von meinem Missgeschick. Sie bestätigt meine Vermutung: ich hätte in Löf einfach entlang der Bahnschienen laufen sollen. Aber von hier gehe es auch, und ich könne einen Teil der Höhenmeter beibehalten, wenn ich hier links, dort rechts, dann usw. gehe. Ich ahne schon, dass ich mir das wohl kaum werde merken können. Wir laufen noch ein Stück gemeinsam, und sie fragt mich über meine Caminos in Spanien aus. Davon träume sie auch. Zumindest den an der Mosel wolle sie aber tatsächlich auch mal machen, denn da könne sie ihre Hunde mitnehmen.
Als sich unsere Wege getrennt haben, kann ich ihrer Beschreibung noch ein Stück weit folgen, doch dann stehe ich vor drei Schildern, die in drei Richtungen Hatzenport ankündigen (mein persönlicher Hass-Ort für heute). Um nicht noch mehr Zeit und Energie zu verlieren, mache ich mich wohl oder übel an den Abstieg, auch wenn das heißt, dass ich später wieder hoch gehen muss.
Drei Höhepunkte und eine Burg im Tal
So ist es dann auch. Nachdem ich kurz durch Hatzenport gelaufen bin, darf ich eine halbe Stunde später wieder hoch. Es geht zum Küppchen, einem Startplatz für Drachenflieger.
Am Küppchen um viertel nach zwölf angekommen, gönne ich mir trotz miserablem Zeitmanagement eine Pause. Als ich noch mal den Etappenführer im Internet lese, sehe ich die Ausrufezeichen die darauf hinweisen, dass man an den Bahngleisen in Löf rechts gehen soll. Ja, wer lesen kann, ist klar im Vorteil, denke ich und genieße die Aussicht. Das ist jetzt mein dritter „Höhepunkt“ heute, wäre aber laut offiziellem Weg erst mein Erster gewesen.
Zwei Frauen laufen an mir vorbei. Großes Hallo – es sind die beiden Ladies von gestern. Sie hätten nicht damit gerechnet, mich noch mal zu sehen. So schnell wie ich gestern den Abstieg von der Kapelle gemacht hätte, dachten sie, ich sei jetzt schon an Burg Eltz. Das hätte ich vorher ehrlich gesagt auch gedacht, aber dazu hätte ich wohl auf dem richtigen Weg bleiben müssen.
Erst eine Stunde später ist es soweit. Ich stehe vor einem Wegweiser, bei dem die offizielle Version nach rechts zeigt und die Camino–Muschel geradeaus. Engel links, Teufel rechts, oder so ähnlich. Irgendwie unterstelle ich dem roten Schild, den kürzeren Weg zu zeigen, aber ich halte mich brav an die offizielle Muschel-Richtung.
Doch auch mit dieser Variante habe ich zehn Minuten später freien Blick auf die Burg, die man vorher nicht sehen konnte, da sie – anders als viele ihrer Artgenossen – nicht auf einem Hügel sondern im Tal liegt. In den nächsten Wochen werde ich noch viele Burgen sehen, aber dieses Märchenschloss wird mein Favorit bleiben. Es ist einfach zu nah an allen Klischeevorstellungen, die ich als Siebenjährige von meinem künftigen Heim als Prinzessin hatte.
Von Schlangen und Schneckenhäusern
Ich liege schlecht in der Zeit, aber das ist mir herzlich egal. Ich brauche jetzt einen Kaffee – so wie auch gefühlt 40 anderen Leute. Die wollen außerdem ein Stück Kuchen und ein Schnitzel und Pommes und ein Bier. Und das Tollste? Es wird alles an der gleichen Stelle bestellt und ausgegeben, das heißt, ich warte, bis man den lieben Menschen vor mir das Essen zubereitet und aufgetan hat.
Auf die Idee, eine Ausgabe für das Essen und eine für die Getränke zu machen, ist offensichtlich noch keiner gekommen. Das verstehen auch die Herrschaften um mich rum nicht, so dass die nächsten 15 Minuten heiß darüber diskutiert wird, wie diese knifflige Situation in sämtlichen anderen Bundesländern bzw. Ortschaften geregelt wird („Also bei uns in Bayern [Bai-aaahn] bekommt man da so a Beeper, der vibriert, wenn’s fertig is!“).
Gute 25 Minuten stehe ich mit Rucksack auf dem Rücken in der Schlange und warte. Alleine wandern hat manchmal wirklich Nachteile. Ich kann mein Schneckenhaus nicht unbeaufsichtigt an irgendeinem Tisch parken und mich unbeschwert anstellen, sondern warte mit Sack und Pack. Meine tatsächliche Pause schrumpft durch die Warterei. Ich muss dringend weiter. Vor mir liegen noch 13 km, also die Hälfte der Etappe, und es ist bereits drei Uhr. Immerhin entdecke ich auf diese Weises noch einen kleinen Drachen, der dekorativ unterhalb eines Türmchens angebrahct wurde.
Nachdem ich noch schnell einen Stempel im Burgladen abgegriffen habe, umrunde im im Eiltempo die Burg, von wo ein schmaler Weg in den Wald hinaufführt.
Beim Anstieg überhole ich ein Pärchen. Er Marke sportlich, sie eher Marke I love my Couch und merklich außer Atem. „Wenn die das mit einem Rucksack schafft, kriegst du das ohne ja wohl hoffentlich auch hin!“, faucht er charmant in die Richtung ihres roten Kopfes. Mir tut die Frau leid. Ich weiß schon, wieso ich am liebsten alleine laufe. Es gibt einfach nichts Schlimmeres, als auf jemanden warten zu müssen, der langsamer ist. Oder doch – noch schlimmer ist es, jemandem hinterher zu hetzen, der schneller ist. Das eigene Tempo einhalten zu können, ist für mich eines der Geheimrezepte für erfolgreiche Fernwanderungen.
Ich laufe am nächsten Kreuzweg vorbei, wo mir ein Mann mit Hund entgegenkommt. Als ich die beiden 15 Minuten später auf einmal in der Ferne vor mir sehe, während ich gerade leicht gelangweilt auf der K 32 vor mich hin getrottet bin, frage ich mich zum wiederholten Male, ob es nicht an Tagen wie heute, wo ich gegen die Zeit laufe, sinnvoll wäre, mehr auf Google Maps und weniger auf Muscheln zu vertrauen.
Abstieg nach Karden – Achterbahnfahrt inklusive
Wälder und Felder wechseln sich für das Nächste ab. Dann balanciere ich auf Pfaden entlang eines Flusses, die stellenweise so schmal sind, dass ich froh bin, dass mir niemand begegnet, weil man gar nicht aneinander vorbeikäme. Der anschließende Buchsbaumpfad führt mich wieder schön aufwärts, hoch zum Aussichtspunkt Kompes Köpfchen, wo die ortsansässige Feuerwehr eine stattliche Hütte samt Grillstelle hingezimmert hat. Unmengen von Bänken bieten einen beeindruckenden Ausblick auf das tief unter mir liegende Treis-Karden.
Der Abstieg, der mich nach der Raucherpause erwartet, lässt mich hingegen schaudern, denn der Weg sieht nicht sonderlich vertrauenserweckend aus. Er geht vor allem extrem steil abwärts. Ich sammle noch einmal alle Kräfte, genieße den Ausblick und stürze mich ins Abenteuer. Über Geröll und Schiefer geht es steil dem Nullpunkt entgegen. Mein Rucksack schiebt mich dabei liebevoll von hinten an.
Karden gefällt mir überraschenderweise richtig gut. Trotz Zeitmangel (inzwischen ist es sechzehn Uhr) schaue ich mir die wunderschöne Stiftskirche St. Castor samt Reliquienschrein an. Das einstige 340-Seelen-Dorf verdankt seinen „Moseldom“, eine der wichtigen Kirchen zwischen Koblenz und Trier, dem gleichnamigen Castor, der um 400 nach Christus in Karden wirkte und gute Konnegge zum Trierer Bischof hatte. Das erzählt zumindest die Dame, die gerade eine Reisegruppe durch das Gemäuer führt (ok, sie formuliert es etwas anders). Dreimal dürft ihr raten, wessen Reliquien also im Schrein liegen. Vor lauter Hektik mache ich keine Bilder, aber die gibt es auf der Seite der Pfarrgemeinde.
Was reimt sich auf Treis?
Der Camino führt mich durch den Ort, unter hübschen, alten Schildern von Gasthöfen und Weinwirtschaften hindurch bis ans Wasser. Ein Graffiti versucht, mir noch ein wenig Mut durch Mosel-Power zu machen.
Über die Moselbrücke geht es auf die andere Seite nach Treis. Was für ein ätzendes Kaff! So romantisch und adrett Karden, so ramschig und unspektakulär Treis. Da möchte ich echt nicht tot über dem Zaun hängen – aber muss ich ja auch nicht. Ich muss weiter. Und zwar auf einer Straße ohne Bürgersteig. Mein Weg passt sich der Schönheit der Umgebung direkt mal an. Stellenweise drücke ich mich an die Hauswände, weil der Autofahrer hier auch gern mal Gas gibt (kann ich ja verstehen, aber hallo, muss man dann gleich kleine Wanderer über den Haufen fahren?). Geht eben nichts über ne ordentliche Ladung Asphalt mit dem Geruch von Benzin in der Nase.
Das Schild eines Winzers, das einen Pilger-Stempel verheißt, macht mich neugierig, und ich gehe hinein. An diesem Mammut-Tag habe ich ein Glas Wein verdient, bevor ich mich an die letzten sieben Kilometer mache. Ärgerlicherweise öffnet die Bar erst um 17 Uhr. Das ist in einer halben Stunde. Meinen Stempel bekomme ich trotzdem.
Wo ich denn noch hin wolle? Oh weia, bis nach Engelport. Das solle ich mir doch bitte gut überlegen. Das sei ja noch ein ordentliches Stück. Da müsse ich mich aber ranhalten, um noch vor der einsetzenden Dunkelheit anzukommen. Die Dame weiß wirklich, wie sie mir ein gutes Gefühl gibt, während sie mir den Wein vorenthält. Mir geht eh schon leicht die Düse. Sie sagt es zwar nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass auch sie an meine Freunde, die Wildschweine, denkt. Und dann die nächste Frage: „Sind sie ganz allein unterwegs?“ Ich beruhige sie (und mich), dass man in Engelport über mein Kommen informiert sei und dass ich es liebe, allein unterwegs zu sein.
Laufen gegen die Uhr
Obwohl ich es mir nicht eingestehen will, sitzt mir die Angst, in der Dämmerung noch im Wald unterwegs zu sein, latent im Nacken und so hetze ich weiter, in Richtung Ortsausgang, wo von jetzt auf gleich die Markierung abbricht. Zumindest sehe ich für meinen Teil keine Muschel mehr. Das fehlte mir gerade noch. Ich bin genervt, ich bin müde, ich mag nicht mehr – erst recht nicht nach dem Weg suchen.
Inzwischen bin ich auf einer stark befahrenen Straße, die ich immer schön in entgegengesetzter Fahrtrichtung begehe. Ein Mann ruft mir besorgt durch sein Autofenster zu, ob ich noch weit müsse. Ich rufe gut gelaunt: „Nur bis Engelport“ und denke innerlich, dass ich meinen nach außen verkündeten Optimismus zu gern auch selbst teilen würde. Kurz darauf hält ein Motorradfahrer nicht weit vor mir an. Der Typ nimmt seinen Helm nicht ab und starrt mir durch sein offenes Visier unverwandt, aber ohne mit der Wimper zu zucken, entgegen. Ich gehe irritiert an ihm vorbei. Massenmörder? Psycho? Jetzt mal den Ball flach halten, Audrey. Die meinen es sicher alle gut.
Wenig später entdecke ich eine junge Frau, die mit ihrem Auto in einer Feldstraße vor einem Haus steht. Ob sie mir sagen könne, wie ich nach Engelport komme? Kann sie nicht. Aber sie ruft nach ihrer Freundin drinnen im Haus, die weiterhilft. Ich hätte zwei Möglichkeiten: auf dieser Straße bleiben, was sie mir nicht empfehlen würde (ich bin nicht lebensmüde) oder mitten durch den Wald, was deutlich kürzer sei. Der Weg sei sehr schön, und sie zeigt netterweise, wo ich lang muss. Kaum bin ich auf dem von ihr gezeigten Weg zwischen zwei älteren Häusern abgetaucht, sehe ich auch schon wieder eine Muschel. Alles gut. Alles richtig.
Singen gegen Wildschweine
Am Waldrand angekommen, geht es ein hoffentlich letztes Mal ordentlich hinauf. Ich bin platt. Meine Füße tun weh. An den Seiten ist der Weg überall heftig aufgewühlt. Meine kleinen, grunzenden Freunde sind auf jeden Fall in dieser Ecke zuhause. Der Wald schluckt eine Menge Licht, und ich frage mich, ob das jetzt schon als Dämmerung zählt? Dämmer-Time ist Wildschwein-Time.
Ich gehe mir mit meiner Schweinophobie gehörig auf die Nerven. Man weiß ja, dass die Tiere mindestens so viel Schiss vor mir haben wie ich vor ihnen. Außerdem ist gerade keine Frischlingszeit. Und doch behalte ich mein Unwohlsein. So versuche ich mich in einer neuen Überlebenstaktik und beginne laut zu singen. Wenn sie mich hören, haben sie ja vielleicht genauso wenig Lust auf eine Begegnung wie ich, denke ich mir und lege mit einer Mischung aus Cher, Mariah Carey, Volks- und Kirchenliedern Kilometer um Kilometer zurück.
Trotzdem laufe ich so angespannt, wie man es beim Joggen tut, wenn man das Gefühl hat, dass einem jemand auf den Fersen sei. Immer wieder drehe ich mich leicht panisch um. Nein, da ist im wahrsten Sinne „kein Schwein“. Die sieben Kilometer lege ich in einer Stunde und zwanzig Minuten zurück – neuer Rekord. Angst scheint ein guter Motivator zu sein.
Engelport und Wildschwein fort
Um viertel vor sechs spuckt mich der Wald aus. Ich stehe in strahlendem Sonnenschein. In der Ferne zeichnet sich das Kloster ab. Herrgott, was bin ich erleichtert. Viel weiter hätte ich nicht mehr gehen können. Für die nächsten 20 Minuten entspanne ich mich mit Zigaretten und ein paar WhatsApps auf einer Bank in der Abendsonne.
Als ich um kurz nach sechs die Eingangstür des Klosters Engelport öffne, findet gerade die Vesper statt. Mir gegenüber befindet sich der Eingang zur Kapelle, und ich höre ergreifenden, gregorianischen Gesang der Nonnen. Er schlägt mich so in seinen Bann, dass ich 15 Minuten auf dem Boden hockend zuhöre, bevor ich, wie vereinbart, zum alten Telefon greife, das im Eingangsbereich steht und meine Anwesenheit verkünde.
Mit: „Da ist ja unsere Pilgerin“, werde ich herzlich von einer jungen Nonne in Empfang genommen. Ja, ich sei die einzige Pilgerin, aber es gäbe noch andere Gäste. Wir würden alle gemeinsam um sieben zu Abend essen. Sie führt mich in ein schmuckloses Nebengebäude und zeigt mir mein Sechser-Zimmer mit drei Stockbetten.
Meine Freude über diese einfache Unterkunft ist riesig. Endlich kommt richtiges Pilger-Feeling auf. Und dabei habe ich das Zimmer für mich allein. Was für ein Luxus. Im nahegelgenen Waschraum springe ich unter die Dusche und bin wie so häufig erstaunt, wie schnell das die Lebensgeister wieder weckt.
Das Schweigen wird gebrochen
Der Speisesaal wird von einer lebhaften, ca. 20-köpfigen Damengruppe an einem langen Tisch dominiert. Ich hingegen sitze mit vier weiteren Leuten an einem Katzentisch. Da sind ein polnisches Ehepaar aus Köln, das hier urlaubt und dabei Wandern mit Spiritualität verbinden möchte, ein Mann, der knapp vor der Achtzig steht und eine Frau undefinierbaren Alters, beide aus Süddeutschland. Sie haben unabhängig voneinader Schweige-Exerzitien gemacht, er fünf Tage, sie sogar acht. Er mache das jedes Jahr, erzählt er mir, weil es ihm gut tue.
Ich frage, ob man singen dürfe, wenn man schon nicht sprechen könne. Der Mann lacht. Singen sei Beten nur besser und zähle doppelt. Nun lache ich ebenfalls. Ohne es zu wissen, habe ich dann ja heute im Wildschweinwald geradezu overperformed. Ich hoffe, Gott steht auf die größten Hits der 90er und das Beste von vorgestern.
Wirklich schade, dass der Schweigezeitraum der Dame ausgerechnet heute abgelaufen ist, denke ich kurz darauf, während sie uns allen ungefragt erzählt, wie ihr das Leben übel mitgespielt habe. Nachdem ich mehrfach von „den Ausländern“ gehört habe, die sie überfallen haben und denen in Deutschland trotzdem alles in den Hintern geschoben werde, entscheide ich mich, für die nächste halbe Stunde auch mal Exerzitien zu machen.
Living without Edge
Schweigend falle ich über Tomatensuppe, Brot, Kartoffelsalat und Früchtequark her. Im Anschluss erzähle ich dem Kölner Ehepaar von meinem 2016er Jakobsweg. Er ist besonders interessiert und stellt viele Fragen, weil er seit Jahren davon träumt, diesen (zumindest ein Stück weit) in Spanien zu pilgern.
Um halb neun löst sich unsere Runde auf und ich wende mich meinem Wanderbericht für den täglichen WhatsApp-Ticker zu. Anschließend verbringe ich sicher eine halbe Stunde in verschiedensten Positionen: auf einem Bein stehend, den Arm ganz weit nach oben gereckt, auf Zehenspitzend balancierend, in der Hocke. Doch so sehr ich mich auch verbiege, es gelingt mir nicht, an den verschiedensten Stellen des Klosterhofs auch nur eine Hauch von Telefonnetz zu finden. Vergebens.
Es ist stockdunkel, totenstill, bis auf die Geräusche des Waldes, und absolut empfangsbefreit. Ich kenne es ja, dass man in ländlichen Regionen manchmal nur Edge hat, aber dass es rein gar nichts gibt, nicht mal schnöden Handyempfang, hätte ich für unmöglich gehalten. Aber so sei es.
Ich verkrieche mich ins Bett und schaue mir noch tränenreich einen Kitschfilm auf meinem Tablet an. Goldrichtige Entscheidung, keinen Schlafsack mitzubringen und dafür Fön und iPad einzupacken. Morgen geht es dann nach Marienburg in eine Jugendbildungsstätte, die mitten in der Moselschleife liegt. Ich hoffe, ich bekomme dort ein Bett. Auf meine Facebook-Nachricht hat leider niemand mehr geantwortet.
Zeitreise
Vorschau: An Tag drei ist wie so häufig Schluss mit lustig. Morgens mache ich noch Frühstport zu Kastagnetten-Geräuschen, doch dann schlägt die Erschöpfung zu. Schaffe ich es bis nach Marienport und gibt es dort ein Bett? Finde es raus auf meinem Weg von Engelport nach Marienburg.
Rückblick: Du hast die Erlebnisse des ersten Tages verpasst und willst wissen, wieso ich behaupte, gleich mehrfach Unterstützung von oben erhalten zu haben? Na dann schau doch mal in den Bericht von Koblenz-Stolzenfels nach Alken.
Erfahrungsaustausch und Feedback
Warst du auch schon auf dem Mosel-Camino unterwegs? Was hast du erlebt? Oder gibt es etwas, das dir an meinem Beitrag besonders gefallen hat, was du vermisst oder das dich gestört hat? Immer raus damit. Ich freue mich wirklich immer über Kommentare.
Liebe Audrey,
und wieder ein hinreißender und so lustiger Bericht! Danke!!
Ich hab auch mal gehört, dass man mit Singen Wildschweine vertreiben kann und habe es in einer ängstlichen Situation auch schon mal probiert. Aber beim Wandern werde ich singend immer so atemlos – das geht bei mir einfach nicht!!
Den Weg zwischen Löf, Burg Eltz und Treis-Karden bin ich in den Osterferien gelaufen – auf dem Moselsteig. Sehr schön, besonders der Buchsbaumwanderweg.
Aber interessant, wie du Karden und Treis wahrgenommen hast. Wir haben damals in Karden gewohnt und bis auf unser Hotel fanden wir abends den Ort absolut schnarchig. Zwei Weinstuben hatten nur geschlossene Gesellschaft und alles war dunkel. Wir dachten, dass Treis besser sein müsste. Wir haben es aber nicht überprüft. Ist ja jetzt nicht mehr nötig 🙂
Gruß, Aurora
Ich weiß nicht, wie es gewesen wäre, wenn ich da über Nacht geblieben wäre.
Ich fand es nur sehr hübsch da (im Vergleich zu seinem Zwillingsbruder)
Ehrliche Leute unterwegs!
Handy am Ende der Etappe vor Treis-Karden verloren. Schrecklich.
Nach zwei Tagen meldet sich David per Mail (WLAN auf dem Tab) : Handy gefunden. Er hatte Adressen, auch meine eigene, auf dem Sperrbildschirm abgelesen.
David wird es mir aus Holland zuschicken – dorthin ist meine elektronische Krücke nun gereist…
Ralph
Oh wie ätzend! Das wäre mein Ende gewesen. Gut dass ihr zu zweit seid! Seid ihr in Treis-Karden geblieben oder habt ihr es nach Engelport geschafft?
Das hat Frau Klein mir ja auch schon erzählt und es war Quatsch 😊
Jetzt wo Frau Klein den Blog gelesen hat, weiß sie es hoffentlich besser.
Wo seid ihr jetzt und wie läuft es?
Buen Camino 😉
Auf ein Wildschwein zu treffen macht keinen Spaß… Ich habe mal die Erfahrung gemacht. Auf deinem Teilstück des via scandinavica in der Lüneburger Heide, habe ich eins in einem Gebüsch aufgeschreckt. Nach klatschen und lautem pfeifen hat es sich für die andere Richtung entschieden… seit dem fange ich in Wäldern immer an zu singen. Das funktioniert super.
Wenn ich endlich meine wanderschuhe eingelaufen habe, möchte ich den via scandinavica vom Start an laufen (sehr empfeindliche füße).
Lg Ramona
Liebe Ramona,
beruhigend, dass ich nicht die Einzige bin, die Singen als ein probates Mittel gegen Wildschweine einschätzt. Bisher bin ich Gott sei Dank von BEgegnungen verschont geblieben. Ich glaube, ich würde mir in die Hosen machen.
Ich drück dir die Daumen mit den Schuhen. Das wird schon.
LG Audrey
Liebe Audrey,
vielen Dank für deinen Blog über den Mosel-Camino 🙂 Man findet im Internet echt wenig Erfahrungen oder Infos dazu. Dein Blog hat mich jetzt aber wieder ermutigt, den Weg zu gehen!
Grüße aus Hamburg,
Sandrina
Liebe Sandrina,
Wenn du noch ein bisschen mehr Zuspruch brauchst, lass es mich wissen. Von Hamburg nach Hamburg ist es ja nicht so weit 😉
Habe mir übrigens sagen lassen, dass man im Kloster Engelport nicht mehr übernachten kann. Keine Ahnung, ob das stimmt.