Camino Francés #21: Von Fromista nach Carrión de los Condes

Etappe 18 auf dem Jakobsweg bietet uns einen Showdown mit dem Camino-Schatten, eine Fahrt auf der Pilgerautobahn, gastronomische Irrungen und Wirrungen, spätes Essen und erzürnte Nonnen – außerdem habe ich eine Wassermelone getragen und lasse mir von Antonio Banderas die Hand auflegen (17.05.2016 – 21 Kilometer)

Ganz entspannt wache ich heute Morgen um 7:15 Uhr in der privaten Herberge auf. Ich habe gut geschlafen – welch seltene Aussage! Die Betten waren aber auch wirklich bequem. Da startet man gleich viel energiegeladener in den Tag.

Schattenattacke

Sabine und ich frühstücken gerade in einem Café im Ort, als sie neben mir einfriert. Regungslos sitzt sie da und murmelt: „Ist nicht wahr!“ Was sehen meine entzündeten Augen: Sandras Camino-Schatten, Angsthäschen, gestern noch Thema, ist auf einmal leibhaftig auf dem Platz vor unserem Café, zusammen mit ein paar weiteren Pilgern. Ich fange an zu kichern. Als hätte ich es gewusst. Genau das habe ich Sabine gestern prognostiziert. „Untersteh dich“, zischt sie, als ich mit ernstem Gesicht vorschlage, dass wir die gute Frau und ihre Truppe ja zu uns rüberbitten könnten, damit die beiden sich mal aussprechen. Sabine würde am liebsten unter den Tisch klettern. Aber alle Angst ist unnötig. Sie entdecken uns nicht und gehen weiter.

Um halb neun machen auch wir uns auf den Weg. Heute wird es nochmal entspannt. Wir haben gerade mal 21 Kilometer zu laufen – wie passend, an Tag 21. Es ist unfassbar, dass ich jetzt schon seit drei Wochen unterwegs bin. Mein altes Leben scheint unendlich weit weg, während ich hier meiner täglichen Routine folge. Morgen habe ich 400 Kilometer geknackt. Muss man sich mal vorstellen! Zu Fuß!! Und damit bin ich dann Camino-technisch auf der Hälfte angekommen. Auch Wahnsinn.

Auf Abwegen

img_3814Wir verlassen Fromista und sind nach der Überquerung einiger Brücken und Kreisverkehre auf der wundervollen Pilgerautobahn. Die Beschreibung aus meinem Wanderführer ist absolut treffend, denn es geht gefühlt immer geradeaus auf einem Feldweg, an einer Straße entlang. Vor einem Leute, hinter einem Leute – eine aufgereihte Körperkette.

Der Wanderführer lobt eine Umleitung aus, die zwar 800 Meter länger ist, dafür aber zumindest zwischenzeitlich ein wenig Natur im Angebot hat. Nehmen wir. img_3815Und tatsächlich, nach dreieinhalb Kilometern bringt uns besagter Abzweig schnell zu Feldern, Blumenwiesen und Waldstücken. Wir gehen entlang eines Bachlaufs und finden in einem Waldstück eine versteckte Bar, die auch schon bessere Zeiten gesehen hat, aber wir finden es herrlich hier im Schatten und pausieren, bis wir Stimmen hören. Es nähert sich eine Gruppe deutscher Pilger. Ich weiß nicht, ob man für die eigene Sprache einfach ein besseres Ohr hat oder ob der deutsche Pilger per se gern so spricht, als ob er ein Megafon dabei hätte.

Sabines Augenbrauen neben mir ziehen sich kritisch zusammen. Ich muss mich gar nicht umdrehen, um zu wissen, wer da gerade angekommen ist. Es ist Angsthäschen samt Anhang, die sich krakeelend am Nachbartisch niederlassen. Diesmal gibt es kein Entkommen. Beide Damen sehen sich, aber zu mehr als einem frostigen, beidseitigen Hallo kommt es nicht. Anschließend kichert die Tante aber in einer Tour überflüssig laut über das, was ihr kurzärmeliger Karohemdbegleiter Kluges von sich gegeben hat. Sie hat halt eine richtig gute Zeit ohne Sabine, das soll uns bitte nicht entgehen. Die wiederum setzt ihren verächtlichsten Blick auf. Kurz darauf gehen wir weiter. Die Angst, dass Angsthäschen sich erneut an sie ranhängen könnte, ist abgehakt. Die Fronten sind geklärt.

An jeder Kaffeekanne vorbei

Wir nehmen die zweite Hälfte des Alternativwegs in Angriff, der uns nach einer Stunde zielstrebig durch einen Ort führt – und zwar auf einem völlig unnötigen Umweg, der nichts weiter im Sinn hat, als uns an jeder Bar vorbeizuführen. Jeder will hier Umsatz machen – da kann man auch mal die Pfeile, die uns den Weg weisen, kreativ übermalen. img_3817Wir versuchen, uns nicht zu ärgern. Gelingt nur mäßig. Inzwischen laufen wir nämlich schon wieder durch die ballernde Mittagshitze, die uns zu schaffen macht. Da ist jeder überflüssige Schritt noch überflüssiger als sowieso schon. Zurück in den Feldern werden wir dann ein wenig versöhnt, denn wir sehen immer wieder Störche.

Gegen Mittag gönnen wir uns noch eine Pause. Diesmal lassen wir uns auf einer Brücke nieder, an der wir uns von unserem schönen Alternativweg verabschieden müssen.4e95322a-a474-4a7c-bd74-f7c3a6218c0f Ein amerikanisches Paar spricht uns an. Sie sind mit einem Camper unterwegs und wollen verstehen, wieso so viele Leute ihre Rucksäcke durch die Pampa schleppen. Wir klären sie über The Way auf und netterweise machen sie noch ein Foto von uns, Fingerabdruck inklusive. Wir biegen auf eine Straße ab, die zwar nur selten, dann aber sehr schnell befahren wird, so dass wir zweimal leicht panisch ins Feld springen, damit wir unseren Weg anschließend an einem Stück fortsetzen können.

Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn

Und dann hat sie uns endlich wieder – die Pilgerrennstrecke lässt sich auf den letzten knapp sechs Kilometern nicht mehr umgehen. Man sollte meinen, man könne das anderthalb Stunden lang aushalten, aber dieses schnurgerade Konstrukt bringt mich alsbald an meine Grenzen.img_3820 Es ist zwar im Vergleich zu heute Morgen nicht mehr so überfüllt, aber die schattenlose Piste entwickelt für mich spätestens nach vier Kilometern in der Mittagshitze einen identischen Charme wie der Schlamm vor Burgos, durch den ich ohne Wim nicht gekommen wäre. Nun ist es Sabine, die wirklich alles gibt, um mich voran zu pushen. Hat sie Angst, dass Angsthase ihr auf den Fersen ist? Ich schleiche, gefühlt auf allen Vieren, gen Carrión. Das Gemeine ist, dass wir den Ort schon lange vorher sehen können, er aber, in der flirrenden Hitze einer Fatamorgana gleich, einfach nicht näher kommen will.

Endlich erreichen wir den Rand der Siedlung. Obwohl wir so kurz vor dem Ziel sind, muss ich am Ortseingang noch mal Pause machen, selbst auf die Gefahr hin, dass sich andere Pilger eins der Betten in der Klosterherberge sichern, die wir auserkoren haben. Ich gönne mir gefühlt eine halbe Wasserflasche und noch eine Zigarette auf einem Mäuerchen. Dann setze ich mit dem Tempo einer schwerbehinderten Großmutter samt Rollator mit fehlendem Rad meinen triumphalen Einzug in die Stadt fort.

Am Kloster angekommen leiten uns Nonnen in das Empfangszimmer, wo man uns erst mal etwas zu Trinken reicht. Betten gibt es auch noch und – und das ist der unfassbare Luxus – es handelt sich um Einzelbetten, und in den hellen, geräumigen Zimmern stehen immer nur sechs davon und Bettwäsche gibt es auch noch. Niemand kann sich vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn man sonst immer sein Bett selbst machen muss und im immer gleichen Schlafsack übernachtet. Wir kriegen uns gar nicht mehr ein vor Begeisterung.

Nach dem Duschen und Ausruhen, geht es zum Wäschewaschen in den Innenhof. Dort treffe ich Marco und Thijs wieder, die beiden Niederländer, die damals mit Wim und mir vor der Matsch-Etappe nach Burgos in Agés mit im Zimmer waren und unterhalte mich kurz mit ihnen. Dann kommt ein älterer Herr auf mich zu und spricht mich an. Es ist der Herr, der ein Foto von mir machen wollte, als ich vorgestern den kleinen Spatz auf seinem Steinhaufen fotografiert habe.

Als ich meine Wäsche wasche, quatscht mich auf einmal ein Typ in einem viel zu engen, gelben Fahrradjersey an. „Hei, bischt auch aus Deutschland“, schwäbelt es mir entgegen. Und dann schießt sein Zeigefinger auf meine unschuldige, kleine Tube Rei. Es gibt keine Ausreden. In solchen Momenten tendiere ich eigentlich immer dazu, alles von mir zu weisen, in diesem Fall muss ich mich zu erkennen geben. Ich kann nicht sagen wieso, aber der Vogel nervt mich ab Minute Eins. Stört ihn nicht. Er textet mich einfach weiter voll, und ich bin so kurz angebunden wie möglich. Sabine rettet mich. Sie will sich den Ort anschauen, denn sie braucht dringend eine Bank. Außerdem wollen wir ein paar Dinge einkaufen, damit wir morgen in der Meseta nicht verhungern und verdursten. Immerhin sind wir 18 Kilometer am Stück ganz auf uns gestellt.

Ein kleiner Flirt

Während ich auf Sabine warte, die in der Bank verschwunden ist, läuft ein Typ meines Alters auf mich zu. Moment, das ist genau der, der mich vorhin beim Wäsche aufhängen strahlend angelächelt hat. Er geht an mir vorbei, dreht nur wenige Meter später auf dem Absatz um, schlendert wie zufällig an mir vorbei und verschwindet in einer Straße, die sich wohl als Sackgasse entpuppt, denn Sekunden später ist er schon wieder vor mir. Ich kann mir das Lachen nur mühsam verkneifen und sage freundlich Hallo. Er steigt sofort auf das Gespräch ein. Was ich noch vorhabe? Ich suche einen Supermarkt, erkläre ich und siehe da, er kann helfen. Den Supermarkt, der gleich hier um die Ecke ist, hätte ich ohne seine Hilfe tatsächlich nicht als solchen identifiziert.

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Wem gehören denn diese schlanken Beine? 400 km hinterlassen Spuren

Sabine kommt zurück und wir machen unsere Besorgungen. Bepackt mit Brot, Käse, Chorizo, Tortilla, Obst und Wasser verlassen wir kurz darauf das Geschäft. Nach so viel Stress finden wir, können wir uns auf der Terrasse der netten Bar gegenüber häuslich einrichten. Ich bestelle mir in Erinnerung an Rob einen Rosado, und wir beobachten die Pilger um uns herum. Was für ein Zufall, dass Sunnyboy ebenfalls hier sitzt und uns natürlich sofort entdeckt hat. Er schaut rüber, schaut aber rasant schnell weg, als er sieht, dass ich ebenfalls zu ihm hingucke. Ich muss grinsen – das ist das erste Mal in drei Wochen, dass ich in einer ansatzweise flirty Situation bin. Meistens war ich zu müde für so was. Außerdem ist es jetzt auch nicht so, dass es vor Gleichaltrigen auf dem Weg nur so wimmelt.

Während ich trinke, meldet sich Rob, passenderweise mit einem Foto von einem Rosado. Das muss Gedankenübertragung sein. Er ist in Burgo Ranero, mehr als 60 Kilometer von hier. Ich schimpfe mit ihm, weil er offensichtlich immer noch so weite Strecken läuft und ziehe ihn auf, dass er offensichtlich vor mir weg läuft. Rob witzelt, dass er Angst vor mir habe und schreibt, dass er heute unterwegs Maria getroffen hat, die wir beide von den ersten Tagen kennen. Sie sei in Bercianos –  auch das ist 50 Kilometer von hier. Ich sehe schon – die beiden „Alten“ ziehen mich ab.

Und dann stürzt auf einmal ein Herr auf mich zu und grinst mich breit an. Ich erkenne ihn. Gestern habe ich ihm aus der Klemme geholfen und ihm eine Zigarette gegeben, weil er keinen Kiosk finden konnte. Da hat er mehrfach feierlich versprochen, dass er mich heute irgendwie ausfindig machen wird und sie mir wiedergeben wird. Er hatte Recht. Feierlich überreicht er mir die Leihgabe, und ich muss herzlich lachen, weil ich gerade keine eigenen habe. Da sieht man mal wieder – es ist immer alles da. Man muss nur die Augen aufmachen.

Ich habe eine Wassermelone getragen

Zurück in unserer Unterkunft verstauen wir erst mal unser Zeug für morgen im Kühlschrank in der Hoffnung, dass es die Nacht dort überstehen wird. In der Küche treffen wir auf Robbi, einen Deutschen, der mit seinem Sohn unterwegs ist, und beschlossen hat, heute für viele Leute verschiedene Pasta-Sorten zu kochen. Wir seien herzlich eingeladen. Das klingt so verlockend, dass wir direkt zusagen. Wir hatten sowieso vor, Nudeln zu essen und wollen außerdem früh ins Bett gehen, um vor der Mittagshitze die 18 Kilometern Meseta geschafft zu haben. Halluzinationen bei flirrender Hitze würde ich mir gern schenken, deswegen soll es morgen um 6:30 Uhr losgehen.

Sabine erklärt sich sofort bereit, Robbi beim Kochen zu unterstützen, während ich noch mal Richtung Supermarkt düse und ein paar Flaschen Wein sowie Wassermelone als Nachtisch kaufe. Als ich zurückkomme, klären mich die beiden auf, dass das noch ein bisschen dauern wird mit dem Essen, denn einige möchten erst noch in die Messe. Die ist dummerweise erst um 20 Uhr, aber ich habe Glück. Mein hungriger Magen und ich treffen beim Rauchen Lennard, einen Belgier, der mit dem Fahrrad unterwegs ist und in Togo gestartet ist (ja genau, das Land in Afrika, nicht etwa irgendein unbekannter spanischer Ort). Er hat neben vielen spannenden Geschichten auch noch eine große Dose Oliven dabei, die er ebenso gern mit mir teilt.

Als ich nach dem ausführlichen Schwatz wieder in der Küche aufschlage, steht da doch tatsächlich mein Flirt von heute Nachmittag. Er heißt Jonathan und ist Teil der Pasta-Bande. Er fragt, ob wir Lust haben, mit in die Messe zu kommen. Dort soll es eine schöne Pilgersegnung geben. Die haben weder Sabine noch ich bisher empfangen. Schaden kann es ja gerade vor dem Stück morgen nicht, denken wir uns und schließen uns an.

Handauflegen mit Antonio Banderas

img_3823Wie eigentlich jede Kirche auf dem Camino hat auch diese Dorfkirche wieder ein beeindruckendes, goldenes Retabel hinter dem Altar. Es ist ordentlich was los. Viele Pilger scheinen sich den Segen abholen zu wollen. Zu dritt finden wir gerade noch so Plätze nebeneinander. Ich sitze zwischen Sabine und Jonathan, als die Zeremonie beginnt. Sabine war ewig nicht mehr in einer Kirche und noch nie in einer katholischen. Sie ist ein wenig angespannt, und ich muss an Kati denken, die in Santo Domingo ebenfalls in meinem Beisein Premiere bei den Katholiken hatte.

Man muss sagen, Carrión bietet uns ordentlich Programm, denn die spanische Messe wird begleitet von vier fröhlichen Nonnen mit Gitarre und Cembalo, die musikalisch in etwa so talentiert sind, wie die Nonnen in Sister Act – wohlgemerkt, bevor Whoopi Goldberg auftaucht und sie unter ihre Fittiche nimmt. Diesmal komme ich deutlich besser mit und stehe, knie und sitze an den richtigen Stellen. Auch die Gebete kann ich inzwischen besser auf Deutsch gegen das dominierende Spanisch anbeten. Nach Ende des Gottesdienstes werden wir Pilger nach vorn gebeten, damit uns die beiden Priester segnen können. Ich habe mich für den entschieden, der original aussieht wie der junge Antonio Banderas. Ich warte darauf, dass er seine Zorro-Maske aufsetzt.

So ketzerisch meine Gedanken auf dem Weg nach vorn noch sind, so ernst werde ich, als mir Antonio Banderas sanft die Hände auf den Kopf legt, leise ein Gebet murmelt und dann mit dem Daumen ein Kreuzzeichen auf meine Stirn zeichnet. Anschließend fasst er mich bei den Schultern und wünscht mir einen guten Weg. Sehr ergriffen gehe ich zurück zu meiner Bank. Sabine folgt mir. Auch sie ist sehr bewegt.

Spaghetti-Wettessen

Es ist neun Uhr als wir zurück im Kloster sind, und wir haben Angst, dass das Essen inzwischen ohne uns gelaufen ist, doch die Panik ist unbegründet. Robbi steht immer noch am Herd, ist jetzt aber so gut wie fertig. Ich verteile die Weinflaschen auf dem Tisch und dann kann es auch schon losgehen. Wir sitzen zu sechst am Tisch. Neben Robbi und seinem Sohn, Sabine, Jonathan und mir sitzt da auch noch ausgerechnet der Typ mit dem viel zu engen, gelben Jersey, der mir vorhin beim Waschen so auf den Keks gegangen ist. Man sieht sich halt tatsächlich immer zweimal. Das gilt nicht nur für den netten Zigaretten-Mann von heute Nachmittag.

Um viertel nach neun tischt Robbi auf. Er hat wahrlich nicht zu viel versprochen. Zusammen mit Sabine hat er vier verschiedene Saucen gezaubert und stellt einen riesigen Topf voller Spaghetti auf den Tisch. Wir schlemmen innerhalb kürzester Zeit. Noch ein deutsches Pärchen setzt sich dazu, die allerdings bereits gegessen haben. Die Unterhaltung wogt kreuz und quer über den Tisch. Es wird viel gelacht und Erfahrungen getauscht. Als sich gerade gefräßige Stille breit macht, erhebt gelbes Jersey seine Stimme: „Und, was macht ihr so beruflich?“

Ich möchte mir bzw. ihm meine Hand vor den Kopf schlagen. Was ist das denn bitte für eine schwachsinnige Frage? Wir haben bis zu diesem Moment alle über das Leben im Allgemeinen und den Camino im Besonderen gequatscht und dann kommt der Vogel mit so einer dämlichen Smalltalk-Frage um die Ecke? Mir fällt auf, dass mich das auf dem ganzen Camino bis jetzt noch niemand gefragt hat, weil es hier einfach überhaupt keine Rolle spielt, was du für einen Job machst, was du verdienst etc. Ich bin genervt. Entsprechend pampig antworte ich, dass ich als Escort-Girl gearbeitet und kurz vor dem Burnout gestanden hätte. Dabei fahre ich mir mit übertrieben dramatischer Geste durchs Haar. Als mein Gegenüber mich schockiert anschaut und sagt, dass er sich vorstellen könne, dass das ein ganz schön fordernder Job sei, bricht der ganze Tisch in Gelächter aus. Damit ist die Frage erledigt.

Als Nächstes meldet sich der Typ zu meiner Linken, der sich mit seiner Frau dazu gesetzt hat, zu Wort und erklärt uns, dass wir alle ja ganz schön bescheuert seien, dass wir den Camino ernsthaft laufen würden. Also er würde ja immer gemütlich mit dem Bus fahren und trotzdem alle Stempel kriegen. Diesmal verfällt der ganze Tisch in fassungsloses Schweigen. Selbst das gelbe Jersey hält den Mund. Dann atmet Robbi tief in den Bauch und sagt salbungsvoll, dass das doch das Tolle am Camino sei, dass jeder ihn machen könne, wie er möge. Ich frage den Busfahrer (den Namen hat er später für immer bei uns weg), wieso er keine richtige Busreise mache, statt am Camino entlang zu juckeln. Abfällige Kopfbewegung in Richtung seiner Frau. Die wolle den ja unbedingt laufen. Aber nicht mit ihm, er sei ja nicht blöde. Er würde gemütlich aus dem Bus den ganzen Bekloppten beim Wandern zuschauen. Wenn die ankämen, hätte er immer schon die ersten Cervezas intus. Und am Ende in Santiago kriege er dann die gleiche Urkunde wie alle anderen. Ich revidiere mein Urteil – das gelbe Jersey ist nicht der größte Pfosten am Tisch.

Ärger mit den Nonnen

In dem Moment kommt eine der Nonnen aus dem Kloster geschossen und baut sich vor unserem Tisch auf. Ob wir mal auf die Uhr geschaut hätten, um diese Zeit noch so einen Krach zu machen und nicht im Bett zu liegen. Sie gäbe uns jetzt genau fünf Minuten, dann wäre nicht nur der Tisch abgeräumt, sondern auch alles gespült und wir in unseren Zimmern. Es ist zehn nach zehn. Wir müssen alle lachen. Es fühlt sich an wie früher auf Klassenfahrt, wenn der Lehrer einen beim länger Aufbleiben erwischt. Wir haben tatsächlich nicht bemerkt, dass es schon so spät ist. Schnell schlingen wir die letzten Nudeln hinunter. Wir haben noch offene Weinflaschen und mein Wassermelonen-Dessert liegt unberührt in der Küche. Schade, aber sei es drum – mit den Nonnen wollen wir uns alle nicht anlegen.

Acht Minuten später ist alles abgeräumt und gespült. Der einzige, der noch Krach macht, ist der Klapperstorch, der auf dem Kirchturm sein Nest hat und offensichtlich einen anderen Deal mit den Nonnen hat als wir. Kaum fertig steht die resolute Dame auch schon wieder in der Tür, schaut sich prüfend um und ist mit dem Ergebnis zufrieden. Jetzt aber schnell ins Bett.

 

Zeitreise

Vorwärts: Jetzt habe ich an so vielen Stellen erzählt, dass wir alle Schiss vor der Meseta haben, jetzt willst du auch wissen, wie es gelaufen ist? Na dann kommt mit von Carrión de los Condes nach Calzadilla und finde mehr heraus über die Scheußlichkeiten von Carrión, dem Little Drummer Boy, das Feuerwerk und wieso ich Szeneapplaus in der Meseta bekommen habe.

Rückwärts: Du bist gerade zufällig hier aufgeschlagen, hast dich bis zum Ende durchgelesen und fragst dich, was es mit Camino-Schatten Angsthäschen auf sich hat? Dann geh doch noch einmal zurück mit mir von San Nicolás nach Fromista und finde außerdem heraus, wie es ist, bei den sieben Zwergen zu frühstücken und wieso ich ein Date mit dem Penis-Mann hatte.

Bist du heute zum allerersten Mal hier und möchtest lieber bei der ersten Etappe anfangen? Dann geht es hier entlang.

Kommentare und Ergänzungen

Warst du schon mal auf dem Jakobsweg? Erinnerst du dich an die grauenhafte Pilgerautobahn, oder ähnlich monotone Stücke? Wie bist du damit umgegangen? Warst du vielleicht sogar auf meinem heutigen Stück dabei und hast noch etwas zu ergänzen oder zu korrigieren? Hat dir etwas besonders gefallen oder hat dich etwas gestört? Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.

 

Ich muss das weitersagen

4 Gedanken zu „Camino Francés #21: Von Fromista nach Carrión de los Condes&8220;

    1. Schon etwas ketzerisch, der Gedanke … aber ich muss zugeben, ich hab beim Lesen das gleiche gedacht 😉 Hat echt seine Schattenseiten, wenn man die gleichen Leute immer wieder trifft. Andererseits scheint das bei den richtigen Leuten auch richtig cool zu sein… Hat eben alles seine zwei Seiten, im Leben – und auf dem Camino.
      Bin echt schon gespannt wie es weitergeht!

      1. Was hast du beim Lesen gedacht? Dass der Pfarrer mal seine Zorro-Maske aufsetzen soll 😀 ?
        Und was die Leute anbelangt, so ist es tatsächlich immer das Gleiche. Bei manchen freut man sich tierisch, dass man sie wiedersieht, andere würde man gern sehen, aber sie sind hinter einem oder haben sogar schon abgebrochen und dann gibt es da noch die, wo man sich fragt, womit man verdient hat, dass sie schon wieder oder überhaupt auftauchen. Ist halt wie im wahren Leben…

        1. Ich hatte den gleichen Gedanken wie mein Vor-Kommentator.
          Aber ja doch, die Zorro-Maske wäre natürlich schön cool gewesen. So zum Verabschieden, nach‘m Gottesdienst 😉

Und was sagst Du?