Camino Frances #23: Von Calzadilla nach Bercianos

Etappe 20 auf dem Jakobsweg: ich laufe die längste Strecke aller Zeiten, verliere meinen Mitläufer, begehe Stadtflucht, entgehe auf einem Tennisplatz dem Verdursten, entdecke die spirituelle Liebe meines Lebens und lande ungeplant beim Eurovision Song Contest (19. Mai 2016, 36 Kilometer)

Mein Vorhaben, früh aufzubrechen, gelingt diesmal. Als der Wecker um halb sechs klingelt, bin ich einigermaßen fit und stehe sofort leise auf. Ich will niemanden wecken, auch Sabine nicht. Ich möchte heute alleine laufen, weil ich dann mehr schaffe und gefühlt auch mehr vom Weg sehe. So schnappe ich mir leise meine Sachen und will gerade das Zimmer verlassen, als auch Sabine aufsteht. Mist, vermutlich hat sie unterbewusst mitgeschnitten, was vor sich geht. Ich habe ein kleines Déjà-vu und muss an Kati und die Nacht in Santo Domingo denken, wo ich ebenfalls alleine los wollte und das Vorhaben nicht in die Tat umsetzen konnte, weil auch Kati wach wurde und sich anschloss.

Der frühe Vogel schnappt den Sonnenaufgang

Ich mache einen Stopp am Kaffeeautomaten, den es praktischerweise in der Herberge gibt und bin überrascht, dass er ganz gut schmeckt. Kurz darauf sinkt Sabine auf die Bank neben mir. Sie ist tatsächlich startklar und hat heute auf ihr übliches Ritual, erst mal in Schlafklamotten eine zu rauchen, verzichtet. Vermutlich hat sie Angst, dass sie mich sonst ziehen lassen muss. Ob ich vor ihr weglaufen würde, will sie dann auch gleich lachend wissen. Ich bin ehrlich und sage ihr, dass ich heute nach längerer Zeit mal wieder alleine gehen möchte und eine lange Strecke plane. Wir wissen beide, dass das bedeutet, dass wir uns trennen werden, denn ihr Fuß ist immer noch problematisch. Sie hat Verständnis, bittet mich nur um den Gefallen, sie aus dem Ort zu lotsen, bevor ich dann richtig Gas gebe.

img_3834Gemeinsam verlassen wir Calzadilla, vorbei am kleinen Bruder von Manneken Pis. Als die Markierung eindeutig ist, drücke ich auf die Tube. Es ist wundervoll. Gerade mal halb sieben. Ich habe den Weg für mich alleine in der Morgendämmerung. Die Vögel begrüßen fröhlich den Tag, und ich muss nicht lange warten, bis die Sonne aufgeht. Von jetzt auf gleich schmeißt sich der Himmel in sein exzentrischstes Farbenkleid. Die Rot- und Pink-Töne sind fast schon zu kitschig, aber eben nur fast.img_3836

Ich flitze nur so durch die erwachende Landschaft. Schnell sind die ersten sechseinhalb Kilometer geschafft, und ich komme nach Ledigos, wo es in der örtlichen Herberge Jacques de Molay eine Bar gibt, die um diese Zeit tatsächlich schon geöffnet hat. Es gibt sogar eine Terrasse im Innenhof mit Garten. Ich hole mir meinen Café con leche und verschwinde nach draußen. Entweder sind nach wie vor wenig Pilger unterwegs oder sie haben diese Bar übersehen. Es ist jedenfalls extrem ruhig hier, was mir ausnehmend gut um diese Uhrzeit passt.

Schluss mit Mitläufern

Als ich weitergehe und mich dem Ortsausgang nähere, laufe ich auf Sabine auf, die auf einem großen Steinquader sitzt und recht niedergeschlagen wirkt. Ihre Schienbeine sind jetzt schon geschwollen, und sie hat zu große Schmerzen, um ihren Weg fortzusetzen und wartet nun darauf, dass die Ibuprofen wirkt. Sie tut mir so leid! Sie hat so viel dafür gegeben, damit diese Reise klappt, und jetzt gehört auch sie zu denen, die auf der Strecke bleiben? Wieso scheiden eigentlich alle um mich herum aus? Ich bin hin und her gerissen, was ich tun soll. Sabine nimmt mir die Entscheidung ab. Ich solle bitte weitergehen. Sie schaue, wie weit sie komme und werde dann entweder früh pausieren oder mit dem Bus nach Leon fahren und zum Arzt gehen. Dort könne sie sich dann außerdem andere Schuhe besorgen. Das hat sie Santa Claus in San Nicolás versprochen. Wenn ich bei ihr bliebe, nütze das niemandem.

Ich zögere noch kurz, nehme sie in den Arm, wünsche ihr alles Gute und uns beiden, dass wir uns spätestens in Santiago wiedersehen. Ich laufe nun also wieder allein. Scheint, als hätten meine Mitläufer alle eine Halbwertzeit von ca. fünf Tagen. Ein Schild am Wegesrand bringt die Situation ganz gut auf den Punkt. Be happy, do more. Ja, genau das ist mein Plan. Ich werde heute mehr machen, denn ich habe noch ein paar Kilometer vor der Brust.img_3839

Für meine Verhältnisse höre ich schon früh Musik. Das mache ich normalerweise erst gegen Ende, wenn ich müde werde. Jan Delay pusht mich weiter Richtung Sahagun. Jemand hat sich die Mühe gemacht, etwas Abwechslung in die immer gleichen, gelben Pfeile auf der Straße zu bringen und einen Wegweiser aus Steinen konstruiert.img_3841

Als ich gerade mitten im Nirgendwo eine Pause einlege, kommt Gesellschaft um die Ecke. Es ist Kristian, der Däne mit den vier Büchern. Er setzt sich auf einen Plausch zu mir. Ich frage ihn, ob er wisse, dass er in die falsche Richtung laufe. Ja, das sei ihm bewusst. Er müsse noch mal zurück zu seinem heutigen Startpunkt, weil er dummerweise den Schlüssel der Unterkunft nicht abgegeben habe und nun die bereits gelaufenen Kilometer abermals gehen muss, um sie anschließend erneut in Angriff zu nehmen. Richtig nervig, aber Kristian behält seine gute Laune.

Stadtflucht

Ich komme tatsächlich gut voran und erreiche Sahagun bereits um halb zwölf. Das ging flott, denn immerhin bin ich jetzt bereits 23 Kilometer gelaufen.img_3843 Die Stadt überfordert mich total. Es ist mir zu laut, zu dreckig, mit zu viel Verkehr und besonders idyllisch ist es auch nicht, wie ich so durch die Wohnsiedlungen laufe. Ich habe tierischen Durst. Die ersten Cafés habe ich dummerweise links liegen lassen, weil sie mir nicht zusagten. Jetzt kommt natürlich keins weit und breit. Ich laufe an einem Kloster vorbei, das sich ganz in der Nähe des berühmten Stadttors befindet.img_3846 Hier wäre eine Herberge.

Die Vorstellung, an diesem Ort zu bleiben, noch dazu um diese Uhrzeit, fühlt sich wie ein doppelter Widerspruch an. Ich suche mir in der ballernden Mittagshitze einen Schattenplatz und pausiere erst mal, während ich mich über einen Apfel und abgepackten Kuchen hermache. Das Wasser rühre ich nicht an. Das brauche ich vermutlich noch.

Auf einmal entdecke ich bekannte Gesichter. Joe und June, die beiden Briten, mit denen ich zu Abend gegessen habe am Tag, als Kati ausschied und ich Sabine kennenlernte, laufen an mir vorbei. Auch sie erinnern sich an unseren lustigen Abend mit dem Schweden Bo. Sie wollen ebenfalls weiter, haben allerdings eine Unterkunft, die vier Kilometer entfernt ist, reserviert und sich für eine andere Route als ich entschieden. Hinter Sahagun gabelt sich der Weg und es gibt zwei Alternativen. Die von den Engländern gewählte Variante, die Calzada Romana, soll zwar die schönere Strecke sein, doch hielte sie morgen ein 18,5 Kilometer langes Stück ohne Bars bereit. Das brauche ich zwei Tage nach der Meseta nicht unbedingt erneut. Außerdem verläuft der Weg auf alten Römerstraßen. Was das heißt, weiß ich inzwischen zur Genüge: Stolpern von Stein zu Stein. Meine Variante hingegen bietet drei Stopps, wenn der Erste auch erst in zehn Kilometern kommt. Es ist aber noch früh genug, als dass ich das ja wohl packen sollte. Und so rapple ich mich auf und suche meinen Weg. Irgendeine verdammte Bar wird ja wohl unterwegs zu finden sein.

Ein Toast auf den Tennisclub

Auf einer von Bäumen flankierten Allee werde ich aus Sahagun geleitet. Der Stadt weine ich wahrlich keine Träne nach. Ich habe sie gerade hinter mir gelassen, als ich auf der rechten Seite eine Sportanlage entdecke, die offensichtlich über ein Clubheim verfügt. Wieso eigentlich nicht da mein Glück versuchen? Wo ein Clubheim ist, da ist eine Theke nicht weit, denke ich und behalte Recht.img_3847

Die Dame hinter der Bar schaut zwar etwas verdutzt, als ich mit Sack und Pack hereinspaziert komme, aber sie freut sich und hat eine Fanta Limon für mich. Eine Flasche Wasser kann ich hier ebenfalls kaufen. So lege ich also eine weitere Pause ein, die noch von einem Tellerchen mit Oliven versüßt wird. Der Herr, der ein paar Plätze weiter an der Theke sitzt, spendiert sie als regalo (Geschenk) für die Peregrina. Ich bedanke mich herzlich und muss grinsen. Das ist wieder so typisch für meinen Camino. Immer, wenn ich meinem Bauchgefühl folge, erwarten mich nette, kleine Überraschungen.

Zieleinlauf auf der letzten Rille

Nach einer halben Stunde setze ich meinen Weg fort und stehe schon bald vor einem großen Fragezeichen im Form eines Kreisels inklusive Zuweg zur Autobahn. Die Markierung ist absolut unklar und so laufe ich mehrfach auf und ab – zunehmend genervt. Endlich taucht ein Typ meines Alters mit Rucksack auf. Gemeinsam beraten Andrea aus Italien und ich, wo es wohl langgeht. Wir lösen das Mysterium gemeinsam, finden zurück auf den rechten Pfad und laufen anschließend ein Stück zusammen.img_3842 Andrea ist erst seit ein paar Tagen unterwegs. Er ist in Burgos gestartet. Sein Tempo ist deutlich bedächtiger als meins, so dass wir uns wieder trennen, uns aber dennoch nicht aus den Augen verlieren, weil er in den Raucherpausen wieder zu mir aufschließt. Mehr oder weniger zeitgleich erreichen wir gegen 15 Uhr Bercianos.

Ich kann es gar nicht glauben. Ich bin tatsächlich 36 Kilometer gelaufen. Unvorstellbar. Ich muss zugeben, dass ich ordentlich im Eimer bin. Die Nachmittagshitze tut ihr übriges. Vor allem auf den letzten Metern zur Donativherberge tue ich mich schwer. Man muss einmal durch den ganzen Ort, der außer Wohnhäusern, die wie immer während der Siesta unwirtlich wirken, wenig zu bieten. Ich sehe nur eine Bar, in der ich Marco (ohne Thijs) entdecke. Sonst ist hier nichts zu holen. In der Albergue nehmen mich die zwei älteren Brüder, die diese Unterkunft leiten, herzlich in Empfang. Ah, aus Deutschland, da bin ich ja schon die Dritte heute! Sie erzählen, dass sie später Paella für uns alle kochen, es ausreichend Wein geben wird und dass mich ein lustiger Abend erwartet. Außerdem versprechen sie mir einen Sonnenuntergang über der Meseta, den man von hier oben gut sehen könne. Ich bin gespannt.

Der Schlafsaal ist eher von der einfachen Sorte. Das Mobiliar hat schon bessere Tage erlebt. Mir gefällt es aber trotzdem. Die Herzlichkeit der beiden Brüder kompensiert so einiges. Es riecht nach Lavendel und schnell gehen die ersten Gerüchte um, dass es hier sicher Bettwanzen oder sonstiges Getier gäbe. Ich verschließe beide Ohren und lasse die anderen reden, suche mir mein Bett und richte mich häuslich ein. Nach dem Duschen kümmere ich mich wie immer um die Wäsche und komme beim Aufhängen mit einer deutschen Pilgerin ins Gespräch. Claudia aus Köln ist total genervt. Der Camino Frances ist ihr eindeutig zu voll, und sie will sich morgen in den Bus setzen und auf den Camino del Norte ausweichen. Da soll deutlich weniger los sein. Sie ist wirklich nett, hat aber eine ziemlich anstrengende Art, weil sie unglaublich hektisch ist. Die Ruhe an der Küste wird ihr sicher gut tun, denke ich mir.

Ich mache mich aus dem Staub und verschwinde vor die Tür. Hier treffe ich Greg aus Polen, der große Freude daran hat, seine Deutschkenntnisse aufzupolieren. Wir sind gerade mitten im Gespräch, als ein Taxi vorfährt und ein Mann unsere Herberge mit viel Palaver verlässt. Ich erkenne ihn wieder. Der ist mir heute beim Laufen unangenehm aufgefallen, weil er ohne Vorwarnung bei einer im Wanderführer vorgeschlagenen Abkürzung auf mich auflief und mit ganz komischen Unterton völlig außer Kontext sagte: „Du hast doch das Buch dabei!“ Irgendwie haben sich mir bei dem Typ sofort alle Nackenhaare aufgestellt. Manchmal kann man das ja nicht erklären. Ich hab ihn jedenfalls quasi stehenlassen und bin schnell weitergegangen. Vermutlich hat er einfach nur meinen Outdoorführer gesehen und messerscharf geschlossen, dass ich Deutsche sein muss. Die Begegnung war trotzdem seltsam. Und genau dieser Typ lässt sich jetzt unter Protest vom Taxi abholen. Meine erste Vermutung ist, dass die Herberge voll ist. Vielleicht passte sie ihm aber auch nicht oder er passte den Hospitaleros nicht. Wie auch immer, ich bin froh, dass er weg ist.

Kurze Zeit später gesellt sich Thijs zu uns. Er sieht müde aus. Als ich frage, ob alles in Ordnung ist, erzählt er, dass er Fieber habe. Marco sei ihm einfach zu schnell. Ich frage ihn, wieso er dann krampfhaft versuche, dran zu bleiben. Sie hätten sich den Weg gemeinsam vorgenommen und das würden sie jetzt auch durchziehen, erklärt mir Thijs. Er wolle auf gar keinen Fall allein gehen. Er wüsste gar nicht, wie er da klar kommen sollte. Marco habe sich um alles gekümmert, wisse wo sie übernachten würden und außerdem spreche er Spanisch. In dem Moment taucht Marco auf und fragt, ob Thijs mit in die Bar komme, da gäbe es Internet. Er wolle prüfen, ob die Zimmerreservierung für Leon hingehauen habe. Thijs hat mir erzählt, dass Marco immer leicht panisch ist, kein Bett zu bekommen und das obwohl die beiden sogar für den Notfall ein Zelt mit sich herumtragen. Thijs will lieber hier bleiben, weil er sich nicht gut fühlt, sagt er.

Ich setze meine Unterhaltung mit Greg fort. Wir diskutieren, ob es nicht besser sei, allein zu laufen, anstatt sich zu übernehmen, als wir die beiden Niederländer wiedersehen. Marco schreitet voran, Thijs trottet hinterher. Greg schaut mich fassungslos an. Er habe doch gerade noch gesagt, dass er nicht mitgehen wolle? Wir verstehen die beiden nicht, aber gut, wie immer geht jeder seinen Weg so, wie er es für richtig hält. Die Herren sind weiß Gott alt genug, um selbst ihre Entscheidungen zu treffen.

Wenig später will auch ich noch mal los. Es gibt einen Minisupermarkt, in dem ich mich mit Wegzehrung für morgen eindecken will. Auf dem Weg dorthin kommt mir auf einmal Luiz entgegen, der witzige Spanier aus dem Schlafsaal gestern, der mir die ganze Zeit erzählen wollte, dass sein Freund in mich verliebt sei. Er ist heute allein unterwegs, ziemlich k.o. und erkundigt sich, wo ich schlafe. Ich erzähle ihm von der Donativherberge, warne ihn aber, dass ich nicht sicher sei, ob es noch Platz gäbe. Luiz will sein Glück trotzdem versuchen und als ich nach einer halben Stunde wieder dort aufschlage, hat er ein Bett gefunden. Kristian aus Dänemark ist ebenfalls hier. Schon lustig, wie man zunehmend mehr Pilger kennt und immer wieder trifft.

Eurovision Song Contest zum Nachtisch

Als ich zum Essen runtergehe, erreicht mich eine WhatsApp von Sabine. Sie hat es tatsächlich irgendwie bis nach Sahagun geschafft und war mit ihren geschwollenen Beinen in der Apotheke, wo man ihr geraten hat, drei Tage zu pausieren. Wird sie wirklich die nächste Kati? Ich drücke ihr die Daumen. Sie will morgen mit dem Bus nach Leon fahren und sich dort ein wenig ausruhen, bevor sie dann weitergeht. Auch von Rob erhalte ich eine Nachricht. Er ist bereits in Leon und wird dort seinen ersten Pausentag machen. Er hat Rückenschmerzen und empfielt mir seine Unterkunft. Leider werden wir uns erneut verpassen, weil er zwei Tage Vorsprung hat.

Im Speisesaal ist der Bär los. In Ermangelung von allzu vielen Möglichkeiten im Ort haben offensichtlich fast alle Pilger beschlossen, heute hier zu essen. Außerdem ist das Angebot selbst gemachter Paella schwer zu toppen. Ich setze mich gegenüber von Andrea aus Italien und auch Greg und zwei weitere Mädchen aus Polen sind mit von der Partie. Unsere Gastgeber erklären uns die Regeln des Abends. Wir werden jetzt erst alle gemeinsam ein Tischgebet sprechen. Damit das nicht langweilig wird, wird das Gebet gerappt. Der entsprechende Text hängt auf einer großen Pappe an der Wand. Schon bei dieser Aktion wird viel gelacht, weil sich die meisten von uns natürlich schwer tun, auf Spanisch zu rappen. Wichtig ist zudem, dass beim Rappen rhythmisch auf die Tische gehauen wird. Den Part haben wir richtig drauf und verausgaben uns total.

img_3852Im Anschluss schleppen unsere Hausherren riesige Paella-Pfannen rein und werden mit tosendem Applaus bedacht. Die Dinger sind wirklich gigantisch und die Paella ist lecker. Die Pilgermeute macht sich gierig über das Abendessen her, bei dem natürlich auch der Wein nicht fehlen darf. Wir vernichten fast den gesamten Inhalt. Als die Pfannen später nach draußen gebracht werden, ist für die Spatzen fast nicht mehr allzu viel übrig.img_3853

Unser Rap war erst der Auftakt zum Entertainment-Programm. Nun werden Texte ausgeteilt. Vor uns liegt eine umgedichtete Version von La Bamba bei der man im Chor „Peregrino, Peregrino“ singt und natürlich erneut mit allem, was man noch an Kraftreserve hat, auf den Tisch trommelt. Mir tut der Bauch weh vom Lachen und ich nehme den ganzen Wahnsinn auf Video auf. Vielleicht schwappt ja ein bisschen was von der gigantischen Stimmung rüber.

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Und dann kommt das eigentliche Highlight. Die beiden Brüder stellen sich erneut nach vorn, singen ein Lied für uns und verkünden dann, dass wir jetzt den Eurovision – ach was – den Globalen Song Contest veranstalten werden. Heute seien 14 Nationen hier und jede Nation solle nun nach vorn kommen und ein Lied aus dem jeweiligen Land singen. Hektik bricht aus und leichte Panik. Die Länder werden vorgelesen und per Handzeichen gibt jeder zu verstehen, woher er kommt. Anschließend setzen wir uns alle um und fangen an zu überlegen, welches Lied wir denn singen könnten.

Ich brainstorme zusammen mit Claudia, die ich beim Wäscheaufhängen getroffen habe. Sie kommt ja ebenfalls aus dem Rheinland, und so gehen wir sämtliche musikalischen Ergüsse Kölschen Karnevals durch. Wir haben uns gerade auf „Drink doch eine met“ geeinigt, als noch ein deutsches Ehepaar dazukommt. Die haben mit Karnevalsmusik so gar nichts am Hut, also überlegen wir weiter. Da wir etwas singen wollen, das die internationalen Anwesenden kennen, entscheiden wir uns für Nenas 99 Luftballons. Und dann geht es los. Die Italiener singen Bella Ciao, die Franzosen Mylord, England gibt die Yellow Submarine zum Besten und die beiden Koreanerinnen möchten am liebsten vor Scham und Gruppenzwang im Boden versinken. Kristian kommt ihnen zu Hilfe und macht sich so lange zum Horst, bis die beiden sich endlich überwinden können, mit viel getanzter Gestik ein (so vermuten wir) Kinderlied zum Besten zu geben. Und dann heißt es Alemania. Was soll ich sagen? Wir bringen die Hütte zum Ausrasten. Spätestens bei dem von uns mitgesungenen Gitarrensolo ist die Stimmung auf dem Höhepunkt.

Die Entdeckung meiner spirituellen großen Liebe

img_3863Eigentlich wollte ich mir den angekündigten Sonnenuntergang über der Meseta anschauen, aber als mich Luiz fragt, ob ich Lust habe, noch etwas mit ihnen trinken zu gehen, schließe ich mich an. Wir sind eine zehnköpfige Gruppe und mein spanischer Charmeur schafft es, unseren Gastgebern eine Verlängerung der Sperrstunde aus dem Kreuz zu leiern. Wir dürfen tatsächlich bis 22:15 Uhr wegbleiben. Kristian Quasselstrippe ist genauso mit von der Partie wie Gianna Nannini, eine Italienerin mit der rauchigsten Stimme der Welt, die eigentlich Paula heißt.

In der Bar angekommen nimmt mich Luiz beiseite. Ich käme doch aus Deutschland. Da sei ich es doch sicher gewohnt, mehr als vier Euro für einen Gin Tonic zu zahlen. Da könne ich mir doch sicher heute einen Gin leisten, der einen Tick teurer sei als sonst. Es gäbe nämlich einen galizischen Gin, den ich unbedingt probieren müsse. Ich stimme zu und bin mit sechs Euro dabei. Aus Hamburger Sicht immer noch ein Schnäppchen. Wenig später halte ich mein Glas in Händen, das, recht untypisch für Gin Tonic, mit einer Apfelsinenscheibe serviert wird. Als ich trinke, bin ich hin und weg. Der Gin hat ein Apfelsinenaroma und schmeckt so unfassbar gut, dass ich mich sicher zehn Mal bei Luiz für den Tipp bedanke. Die Liebe zu diesem Gin hat übrigens bis heute angehalten. Es handelt sich um die Marke Nordes. Glück für mich, dass man ihn in Zeiten, in denen Gin boomt, inzwischen tatsächlich sogar in Deutschland kaufen kann. In meinem Spirituosenschrank steht jedenfalls seitdem immer eine Flasche.

Die Zeit geht viel zu schnell vorbei. Pünktlich um 22:18 Uhr sind wir zurück in der Unterkunft und verschwinden umgehend in unsere Betten. Dieser Tag wird auf jeden Fall als der Tag mit der besten Abendunterhaltung in die Historie eingehen.

Zeitreise

Vorwärts: Jetzt bist du neugierig, ob wir morgen mit einem Kater laufen und was sonst noch passieren wird? Na dann begleite mich doch von Bercianos nach Mansilla de las Mulas und finde heraus, wieso ich die Nase voll habe, was es mit der schrecklichen, kleinen, peruanischen Nachtmusik auf sich hat und wieso ich mir in einer Apotheke Luft mache.

Rückwärts: Du bist zufällig hier gelandet und hast gar nicht mitbekommen, wie ich gestern meinen Angstgegener, einen 18 Kilometer langes Stück ohne Bars durch die Meseta bezwungen habe?  Dann komm noch mal mit von Carrión nach Calzadilla und finde heraus, wieso es auf der Strecke den Little Drummer Boy, Feuerwerk und Szeneapplaus für mich gab.

Bist du heute zum allerersten Mal hier und möchtest lieber bei der ersten Etappe anfangen? Dann geht es hier entlang.

Kommentare und Ergänzungen

Warst du selbst schon mal auf dem Jakobsweg unterwegs? Hast du ähnlich gesellige Abende erlebt, wie ich heute in Bercianos? Warst du vielleicht sogar auf meinem heutigen Stück dabei und hast noch etwas zu ergänzen oder zu korrigieren? Hat dir etwas besonders gefallen oder hat dich etwas gestört? Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.

Ich muss das weitersagen

8 Gedanken zu „Camino Frances #23: Von Calzadilla nach Bercianos&8220;

  1. Gerappte Paella und ein Globaler Song Contest, my God, wie verrückt ist das denn!!?
    Eine Jakubus Party und um 22 Uhr sind alle im Bett.
    Das wird wohl nicht mehr zu toppen sein.
    LG R

  2. Die Herberge war super…sehr freundlich und warmherzig! Der arme deutsche Hospitaliero war ganz verzweifelt, da die Köchin ausgefallen war…sodass wir nachher mit ihm in der Küche standen: Ich erinnere mich noch an Linsensuppe, Chorizo-Kartoffeln, Salat und Milchreis…das La Bamaba-Lied gehört wohl zum klassischen Repertoire, aber den ESC hätte ich gerne miterlebt, dann aber mit „Drink doch ene met“!:) Danke, dass Du all die schönen Erinnerung aufleben lässt!

    1. Bercianos. eine schöne Herberge, weil so familiär. Gesungen haben wir auch. Übrigens: KAS-Limon habe ich auch als Überlebensgetränk für unterwegs entdeckt. Und bei jeder Ankunft als Ankomm-Ritual eine cerveza!!

Und was sagst Du?