Camino Frances #37: Von Portomarin nach San Xulián

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Etappe 33 auf dem Jakobsweg: ich erfinde 50 Shades of Peregrino, wünsche mir einen Esel mit Strohhut, treffe Schneewittchen, die Hexe von San Xulián und Robin Williams und werde von einem Gemälde aus der Bahn geworfen (2. Juni 2016, 29 Kilometer)

Eine dieser vielen, kurzen Nächte liegt hinter mir: Tina hat geschnarcht, Ben auch, und ich wurde jedes Mal vom Quietschen meines eigenen Bettes wach. Ziemlich gerädert, aber bestens gelaunt geht es um viertel nach sieben los.

Stochern im Nebel

Als wir nach draußen gehen, begrüßt uns dicker Nebel, der mit einer unangenehm teigigen Textur daherkommt. Man hat das Gefühl, beim Atmen zu trinken. Es geht noch mal durch quer Portomarin, wo ich noch schnell in einer Bar meinen Kaffee ergattere und dann schon bald in den Wald. Wie immer versetzt mich Nebel in eine märchenhafte Stimmung, und ich genieße das Zwielicht.

Der Genuss findet ein jähes Ende, als nach einer guten Stunde ein verlassen wirkendes, völlig abgehalftertes Industriegelände aus dem Dunst auftaucht. Der aufdringliche Geruch rundet das visuelle Erlebnis ab. Das muss die stinkende Hühnerzuchtanlage sein, von der in meinem Guide die Rede ist. Schnell weiter und zurück in den Wald.

Ich verliere die beiden Schweden und schlendere fortan gemütlich allein durch die diffuse Waberwand. Sie schluckt wie immer sämtlich Geräusche und so erschrecke ich mich zu Tode, als mich der Wald plötzlich frei gibt, ich in einem Kreisverkehr stehe und aus dem Nichts ein Auto auftaucht. Gott sei Dank sieht der Fahrer mich, und ich kann unbeschadet meinen Weg fortsetzen.

50 Shades of Peregrino und ein Esel mit Strohhut

Bei Bens nächster Zigarettenpause hole ich ihn ein, und wir gehen gemeinsam weiter. Gegen die Langeweile auf dem Weg entlang der Landstraße erfinden wir weiter frohgemut Ableger von Marcos Tourigrino. Neben dem Pissigrino und dem Matagrino von gestern kommen neu der Centigrino (Pilger, die nur die letzten hundert Kilometer machen) und der Stupigrino (dummer Pilger) heraus. Die Pussygrinos, die sich die Pyrenäen geschenkt haben, hatten wir ja auch schon.

Wissend, dass mein Weggefährte sehr gut zeichnen kann, entwickle ich ein kleines Marketing-Konzept. Ich möchte, dass Ben unsere Varianten malt. Ausgangspunkt ist ein kleines Comic-Männchen in Kutte, mit Schlapphut und Stab. Dieses bekommt dann immer ein passendes Accessoire, das als Erkennungszeichen gilt. Der Tourigrino hat z.B. einen Mini-Rucksack und eine Sonnenbrille, der Matagrino zwei zur Seite ausgestreckte Wanderstöcke, der Centigrino steht neben dem 100-Kilometer-Stein etc. Diese Enzyklopädie in Comic-Form kann dann wunderbar in sämtlichen Touri-Nepp-Stores feilgeboten werden, sei es als T-Shirt-Aufdruck, als Kühlschrankmagnet oder als Ohrstecker.

Um uns ein wenig von den anderen Ramsch-Läden abzuheben, wollen wir zudem unser Merchandising direkt auf dem Camino verkaufen. Integraler Bestandteil dieses Plans ist Chubaka, ein Esel, den Ben unterwegs samt Herrchen getroffen hat. Chubaka muss nach Santiago, wo er ein neues Zuhause finden wird, und da hat sich sein Besitzer gedacht, er könne ja auch gleich zu Fuß gehen. Die Fotos, die er mir vom knuffigen Vierbeiner gezeigt hat, sind sagenhaft. Mit Chubaka als behuftem Verkaufsstand muss das ein Erfolgskonzept werden. Und um auf Nummer sicher zu gehen, setzen wir ihm noch einen Strohhut auf, aus dem dann seine beiden Eselsohren herausblitzen und Fatdog begleitet uns ebenfalls. Herausragend, sag ich ja.

Call me Clockgirl

Kichernd erreichen wir gegen neun Hospital da Cruz. Am Straßenrand lässt sich im dichten Grau eine Bar ausmachen. Drinnen platzt das Ding aus allen Nähten. Dafür, dass es sich im Nebel angefühlt hat, als wäre man allein auf weiter Flur, kommt das ziemlich überraschend. Mein Kaffee und ich verlassen den Laden so schnell wie möglich und flüchten uns zum Rauchen auf die überdachte Terrasse.

Ben ist mir auf den Fersen. Während wir draußen sitzen, schaut er mich lange an. Ob ich eigentlich wisse, wie sehr er sich gefreut habe, mich noch einmal zu treffen? Er hätte mir ja schon erzählt, dass er sehr gehofft habe, mich wiederzusehen, aber er habe mir nie gesagt, wieso er das Gefühl hatte, mich wiedersehen zu müssen. Ich schaue verwundert. Was kommt jetzt? Hoffentlich keine großen Gefühle? „Du hast in dieser Bar so gestrahlt, man konnte dich gar nicht nicht sehen. Und ich konnte gar nicht wegschauen. Denn da war noch etwas anderes. Ich möchte dir etwas zeigen.“

Er fummelt an seinem Handy rum und wird nach einigem Wischen fündig und hält mir ein Foto unter die Nase. Ich hätte ihn doch gefragt, was er so male, nun könne ich es mir anschauen. Und so springe ich von Bild zu Bild und von Gemälde zu Gemälde. Ich sehe viel Dunkelheit, davor Gesichter mit weit aufgerissenen Augen.

Dass der Junge Antidepressiva nimmt, wundert mich nicht. Die Krankheit schreit mich aus den Bildern förmlich an. Aber dann bleibe ich plötzlich an einem anderen Bild hängen und muss aufpassen, dass mir sein Handy nicht aus der Hand rutscht.

Ich sehe eine Frau. Man sieht die von hinten. Sie ist nackt, liegt auf der Seite, die dunklen Haare zu einem Zopf gebunden. Man kann ihr Gesicht nicht sehen. Mit ihrem rechten Arm stützt sie sich auf. Der Linke ist ausgestreckt und zeigt in die Luft. Es ist unklar, auf was sie weist. Das Bild sticht völlig aus der Sammlung heraus. Durch die Helligkeit der Haut wirkt es lange nicht so düster wie die anderen.

Doch das Überraschendste daran ist: die Frau sieht aus wie ich. Die Frisur, die Statur, vor allem aber die Art, wie sie ihre Hand hält. Ich neige zu viel Gestik und vor allem meine Hände spielen dabei eine große Rolle. Genau in diesem abgespreizten Winkel könnte ich sie halten. Ich staune. Und sage gar nichts.

Ben mustert mich durchdringend. „Do you see it?“, will er wissen. Ich nicke. Mein Mund ist ein bisschen trocken. „She looks like me“, sage ich tonlos. Er nickt. „Als ich dich in Trabadelo in dieser Bar sitzen sah, dachte ich: ‚Oh mein Gott, da sitzt Clock Girl‘. Deswegen musste ich dich unbedingt wiedersehen.“ Ich will wissen, wann er das Bild gemalt habe. Kurz bevor er auf den Camino gegangen sei, erklärt er mir. Deswegen sei es auch noch nicht fertig.

Klarer Himmel, unklarer Kopf

Ich muss das in Ruhe verdauen und bin erleichtert, als Tina in die Bar kommt und unser bedeutungsschwangeres Gespräch unterbricht. Wir reden über den Nebel, und ich bin froh über den Themenwechsel. Mir ist vorhin ein kleiner Schauer über den Rücken gelaufen. Es ist ein bisschen so, als würde man in einem Fotoalbum blättern und auf das eigene Gesicht in einer anderen Zeit stoßen. Krass ist das. Ich lasse die beiden noch ein wenig in der Bar sitzen und gehe schon mal vor.

Die nächste halbe Stunde kreisen meine Gedanken um meinen schwedischen Seelenverwandten. Was ist das mit uns beiden? Wieso träume ich, dass er mich aus einem brennenden Haus rettet? Wieso malt er ein Bild von meinem Lookalike, bevor wir uns überhaupt getroffen haben? Versteht mich nicht falsch. Ich bin eigentlich nicht sonderlich schicksalsgläubig, aber das finde ich schon sehr viel Zufall.

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Camino-Magic: Nebel im Rückzug

Ich beobachte den Nebel, wie er wie auf Kommando abzieht und Platz für blausten Himmel macht. Die wirren Gedanken in meinem Kopf sind leider nicht so gehorsam und klaren nicht wirklich auf.

Ich versuche, sie wegzulaufen. Man muss ja auch nicht immer eine Erklärung für alles haben. Vielleicht begnüge ich mich einfach damit, dankbar zu sein, jemanden getroffen zu haben, zu dem ich offenbar eine ganz besondere Beziehung habe? Das erlebt man schließlich auch nicht alle Tage.

Ben hat mich inzwischen wieder eingeholt und will wissen, ob alles okay sei. Ich bestätige. Ja, alles sei bestens und rette mich in das nächste ABC. Da wir mit den 90er Jahren mehr als durch sind, suchen wir nach einer Alternative. Wieso nicht mal ein ABC von Liedern, zu denen man auf keinen Fall Sex haben will? Die Erklärungen, wieso genau wir das zu dem jeweiligen Lied nicht möchten, sind zum Schreien: von zu klischeehaft (Bolero), über ungünstiger Rhythmus (Eye of the Tiger), bis hin zu viel zu kitschigem Text (Love me tender) ist alles dabei.

Schneewittchen und Lady Di

Die Sonne knallt inzwischen vom Himmel. Es ist schnell richtig heiß geworden, während wir auf Feldwegen von Dorf zu Dorf laufen. Es gibt zwischendrin nur wenig Ablenkungen. Die Landschaft ist nach wie vor wie in Deutschland und schön, aber ohne einem die Schuhe auszuziehen. Nach 37 Tagen unterwegs bin ich wohl ein wenig verwöhnt.

Zwischendrin gibt es kleine Unterbrechungen der Monotonie: eine singende Gruppe älterer Herren, ein Auto, aus dem Voyage, Voyage erschallt (über das Lied haben wir früher am Tag im Rahmen unseres Quizes diskutiert) und schließlich eine Bar, aus der Eye of the Tiger erschallt. Es ist, als hätte uns jemand bei unserem Musik-Quiz belauscht. Dazwischen eine Menge Pilger, die es zu überholen gilt.

Die Wege erinnern stellenweise an Klassenfahrt. Ich sehe trotzdem kaum Bekannte. Die einzige Ausnahme ist der Amerikaner Jim, der neben mir saß, als ich Ben in der Bar kennengelernt habe.

Wir wechseln das Spiel und verbringen eine halbe Stunde mit „Wer bin ich?“. Ben beißt sich die Zähne an Schneewittchen und später am Schweizer Urs mit dem Muschel-Ohrstecker aus, ich an Lady Di und Hat Boy. Wir laufen auf einen Wald zu, dessen Bäume ihre Rinde verlieren. Kurz befürchte ich, dass sie eine Krankheit hätten. Doch kaum im Wald bemerke ich den herrlichen Duft. Das ist Eukalyptus. Ich liebe den Geruch und freue mich enorm darüber. Das ist ein klares Zeichen, dass wir wohl doch nicht durch Deutschland laufen.

Am Wegesrand zwischen den kleinen Dörfern wundern wir uns über viele erhöht stehende Schreine. Sie haben Türen und Fenster, bieten jedoch maximal einem Erwachsenen Platz. Ich frage mich, was es damit auf sich hat. Später erfahre ich, dass darin Getreide gelagert wurde. Gegen halb drei kommen wir in Palas del Rei an, wo wir Pause machen.

Ab in die Isolation

Von Tina ist lange nichts zu sehen. Mir gefällt der Ort nicht, und so diskutieren Ben und ich, wie bzw. ob es weitergeht. Wir haben bereits gute 25 Kilometer in den Beinen. Ich konsultiere wie so häufig meinen Reiseführer und entdecke den Hinweis auf eine tolle Unterkunft in einem verlassenen Ort, der eine Stunde von hier entfernt ist. Dort gibt es 20 Betten, und es wird für die Pilger gekocht. Das ist dann aber auch alles, was es dort gibt.

Mich zieht es eindeutig dorthin. Die meisten Pilger werden in Palas del Rei bleiben und umso weniger Lust habe ich, hier abzusteigen, zumal mich das Städtchen absolut abschreckt. Es ist wirklich nicht sonderlich idyllisch. Ben will wissen, was wir machen, wenn die Betten belegt sind. Weitergehen, ist meine lakonische Antwort. Anderthalb Kilometer dahinter ist auch noch eine Herberge. Bisher habe ich in Begleitung der beiden Schweden immer wahnsinniges Glück gehabt. Wieso sollte das heute anders sein?

Endlich kommt auch Tina an. Sie ist ziemlich geschafft, zumal sie fast den ganzen Tag allein unterwegs war. Sie beschwert sich nicht. Auch sie merkt wohl, dass zwischen Ben und mir eine ganz eigene Chemie ist. Ich frage sie, ob sie noch eine Stunde gehen kann. Wir würden diesmal auch alle zusammenbleiben. Sie nickt tapfer. Wenn wir dafür eine schöne Unterkunft bekommen, ist sie gern bereit, weiter zu gehen. Sie drückt mich. Mit mir hätten sie nur tolle Alberguen gehabt, das würde sich bestimmt auch diesmal lohnen. Ich schicke ein kleines Stoßgebet nach oben, dass es noch freie Betten geben möge.

Schlager-Pilger

Dann setzen wir uns wieder in Bewegung.

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Und dann die Hände zum Himmel…

Ein weiteres, geschmackvolles Highlight wartet auf uns: die Statue zweier Pilger, die ihre Arme in der Luft schwenken, als wären sie bei einem Schlager-Konzert. Was auch immer es damit auf sich hat, erschließt sich mir nicht. Die Jukebox in meinem Kopf spielt jedenfalls sofort „Und dann die Hände zum Himmel, kommt lasst uns fröhlich sein.“

Die ersten zweieinhalb Kilometer laufen wir in der prallen Sonne auf Betonbürgersteigen. Es zieht sich. Ich bin nicht fröhlich. Meine Schweden murren nicht, aber ich verwünsche mich, dass ich unbedingt weiter wollte. Das ist ein absolut trostloses Stück, immer entlang der Hauptstraße. Es gibt absolut nichts zu sehen und die Hitze macht es nicht besser.

Endlich haben wir das Ortsausgangsschild erreicht und steuern auf ein rotes Haus zu, das völlig isoliert in einer Kurve liegt. Auch hier gibt es offensichtlich Betten. Ein paar LKW stehen auf den Parkplätzen vor dem Gebäude. Vermutlich eine Absteige für Brummifahrer. Das sei hoffentlich nicht unsere Unterkunft, witzelt Ben. Ich finde es semi-lustig.

Der Camino hat ein Einsehen und biegt weg von der Straße in einen Wald ein. Ich bin dankbar für den Schatten, denn ich komme gerade wirklich an meine Grenzen. Erstaunlich, wie sich das von jetzt auf gleich ändert. Bis Palas del Rei war alles okay, und jetzt knicke ich hier so ein. Dabei war ich es ja, die unbedingt noch weiter wollte.

Ich male mir unsere Unterkunft aus. Ein altes Bauernhaus, so viel weiß ich. Vor meinem inneren Auge gibt es eine Bar, die auch Londrinks verkauft. Ich träume von einem Gin Tonic zur Belohnung. Tina und Ben teilen meine Sehnsucht. Zu dritt visualisieren wir das kindskopfgroße Glas mit Eis und Zitronenscheibe. Es muss einfach klappen, wenn wir uns konzentrieren.

Um kurz vor vier sind wir da. Wir betreten eine kleine Häuseransammlung, die aussieht, als wohne hier schon sehr lange niemand mehr. Die Herberge ist gleich am Anfang, und sie verfügt tatsächlich über eine Außenterrasse, auf der sich müde Pilger an Getränken aller Art gütlich tun. Jetzt muss einfach alles klappen. Und das tut es dann auch. Go with the flow. Drinnen erfahre ich, dass wir gerade die letzten drei Betten erhaschen. Tina schüttelt nur lachend den Kopf. Ich sei einfach ein Glückskind.

Die lustige Welt der Biere

In der Herberge ist es angenehm kühl und ziemlich dunkel, aber gemütlich. Die Betten verteilen sich über mehrere Zimmer. In unserem Achterzimmer sind außer uns nur Frauen. Ich mache mich schnell frisch und verschwinde dann an die Theke. Die Wand hinter dem Tresen ist beeindruckend mit Biersorten aus aller Welt vollgestellt. Der Wirt erzählt mir, dass er sie sammle. Immer wieder würden ihm Pilger Dosen mitbringen. Manche habe er auch selbst auf Reisen gekauft.

img_4177Ich stelle mir vor, wie die Pilger zuhause nicht bloß einen Stein einpacken, den sie am Cruz de Ferro ablegen wollen, sondern auch noch eine volle Dose Bier, um sie hier, zwei bis drei Tage von Santiago entfernt, endlich abgeben zu können. So abwegig mir das scheint, so häufig scheint es zu passieren, denn ich entdecke nicht bloß Bitburger und Paulaner, sondern auch Schlösser Alt und Küppers Kölsch, sowie ein Fässchen Hansa Export.

Gin Tonic kann der Wirt aber ebenfalls und schon bald finden wir uns mit drei Riesengläsern auf der Terrasse wieder und erholen uns von unserem beinahe 30 Kilometer langen Marsch. Plötzlich steht eine Frau am Nachbartisch auf und fällt mir um den Hals. Die Frau gehört zum australischen Trio, das mich nach Leon mitgeschleppt hat, als ich Fieber hatte. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich freue mich riesig. Ihre beiden Mitstreiter sind ebenfalls hier. Allen geht es gut. Sie hätte letztens noch an mich denken müssen, denn sie hätten zwei Niederländer kennengelernt und festgestellt, dass ich ihr gemeinsamer Nenner war.

Ich denke an meine Zeit mit Thijs und Marco zurück. Es fühlt sich an, als sei das Monate her, dabei haben wir uns vor gerade einmal fünf Tagen das letzte Mal gesehen. Die beiden sind vermutlich längst in Santiago angekommen, bei dem Tempo, das sie in der Regel hatten. Ich hoffe, sie kommen beide wohlbehalten an.

Die Hexe von San Xulián

Wir plaudern gerade noch, als eine alte Dame die Straße entlang kommt. Sie geht gebeugt, ist traditionell in schwarz gekleidet und macht ein grimmiges Gesicht. Als sie vor unserer Terrasse steht, explodiert sie. Kaskaden spanischer Beschimpfungen rieseln auf uns nieder. Ich verstehe nicht alles, aber den Kern bekomme ich mit. Sie lehnt unsere Art zu pilgern ab. Wir seien nicht wegen unseres Glaubens hier, wir seien Touristen. Das hier sei kein echtes Pilgern. Wir sollten uns schämen, den Camino zu entweihen.

Auf der Terrasse sitzen sicher zehn Pilger in Schockstarre. Ich fühle mich ein wenig ertappt. Sie hat nicht komplett Unrecht. Wenn man uns hier so sitzen sieht – halb fünf und eigentlich jeder bester Laune vor einem alkoholischen Getränk – hat das mit innerer Einkehr wenig zu tun, zumal es die letzten Tage auf dem Camino wirklich an geführtes Wandern in einer Touri-Region erinnert hat. Dennoch ziehe ich, anders als die Senora, den Hut vor jedem einzelnen, der hier sitzt und die vielen Kilometer, Schmerzen und zwischendurch auch immer mal wieder Entbehrungen auf sich genommen hat. Wer entscheidet schon, was „richtiges Pilgern“ ist.

Die Frau verschwindet genauso schnell wie sie gekommen ist. Das betretene Schweigen hält jedoch auch noch an, als wir sie nicht mehr sehen können. Ich schaue auf mein Handy und werde überrascht. Rob hat mir geschrieben. Er ist in Santiago angekommen. Die letzten Tage ist er Etappen von 15 Kilometern gelaufen. So hat er die letzten Hundert doch noch aus eigener Kraft geschafft. Ich kann gar nicht glauben, dass er schon da ist. Und noch viel weniger kann ich mir vorstellen, dass ich selbst ebenfalls in spätestens drei Tagen dort sein werde.

Robin Williams gibt sich die Ehre

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Ja, er lebt noch

Während ich dabei bin, mein Tagebuch auf den neusten Stand zu bringen, das seit der Begegnung mit den beiden Schweden das Nachsehen hinter Alkohol, Zigaretten und vielen Gesprächen hatte, spricht mich ein Mann mit Bart an. Er habe mich schon den ganzen Tag immer wieder mal gesehen. Wie schön, dass ich hier sei. Ich sei ihm aufgefallen, weil ich so strahle und so eine tolle Energie habe. Ich muss lachen. Das habe ich doch vor kurzem schon mal gehört.

Jirka ist Tscheche und radebrecht in einer Mischung aus Englisch und Deutsch mit mir. Das Besondere an ihm ist aber, dass ich finde, dass er wie die Reinkarnation von Robin Williams aussieht. Da Ben und ich heute unterwegs oft bereut haben, kein Foto von Andy Warhol aus Portomarin gemacht zu haben, bin ich diesmal klüger und halte den Moment für die Ewigkeit und sehr zu Jirkas Freude fest.

Monika, Cruz de Ferro und Licht in der Dunkelheit

Um sieben gibt es Essen. Wir sitzen zu zehnt an langen Tafeln. Tina, Ben und ich sind beieinander, daneben gibt es eine gleichaltrige Südafrikanerin mit wenig feinen Gesichtszügen und einer gedrungenen Figur, dann eine Dame mit praktischem Kurzhaarschnitt und ein deutsches Ehepaar. Das Essen ist hervorragend. Es gibt tollen Salat, Tortilla und Grillfleisch, außerdem reichlich Rotwein.

Die Unterhaltung mit unseren Tischnachbarn kommt nicht so wirklich ins Rollen. Ich flüstere Ben ins Ohr, ob er Monika kenne? Sie arbeite auf einer Farm in Russland. Er verschluckt sich fast an seinem Wein. Wir haben heute über mein Faible, fremde Menschen mit erfundenen Lebensläufen auszustatten, gesprochen, und es ist absolut klar, von wem ich gerade spreche. Das kann nur die Südafrikanerin sein.

Es dauert nicht lange, da nimmt der Schwede mich seinerseits beiseite und erkundigt sich, ob ich wusste, das Monika in einer Beziehung mit Cruz de Ferro sei. Ich stehe kurz auf dem Schlauch, lache dann aber laut auf, als ich sehe, das die Dame mit dem praktischen Kurzhaarschnitt ein großes, eisernes Kreuz um den Hals trägt. Der Rest des Tisches findet uns vermutlich ziemlich albern. Zu Recht, wie ich zugeben muss.

Als alle satt sind, verzieht sich der Großteil in die Betten. Uns ist neun Uhr noch zu früh, und so sichere ich die übriggebliebenen Rotwein- und Wasserflaschen und stelle sie draußen auf die Terrasse. Als Ben kurz nach drinnen geht, um sich etwas überzuziehen, nimmt mich Tina beiseite. Sie sei seit dem ersten Tag mit Ben unterwegs, sagt sie, und sie habe ihn in der ganzen Zeit nie so ausgelassen, leicht und fröhlich erlebt, wie jetzt, wo ich da sei. „You light up his life.“ Auch wenn es ihr manchmal schwerfalle, ohne schwedische Gesellschaft auszukommen, sei sie dankbar für mein Kommen. Außerdem sei es für sie an der Zeit, ein Stück des Weges allein zu gehen. Dazu zwinge sie unser Tempo, und das sei auch gut so.

Zwei Pubertiere

Um zehn müssen wir nach drinnen. Ich bin noch überhaupt nicht müde, sondern aufgedreht vom Tag und habe leicht einen in der Krone. Im Bett liege ich hellwach. Tina über mir dreht sich von links nach rechts. Das Bett schwankt. Ben ist ebenfalls wach, das kann ich von hier sehen. Wir haben heute unsere Nummern getauscht, um uns Fotos zu schicken. Außerdem ist es nicht verkehrt, wenn wir uns erreichen können, falls unterwegs einmal etwas sein sollte. Oder wenn mir langweilig ist. So wie jetzt.

Als er sich mit einer mentholhaltigen Creme einreibt, schreibe ich, dass das Zeug in meinen Augen brenne. Ab nun schreiben wir uns wie zwei verknallte Teenager absoluten Blödsinn hin und her. Unsere 90er-Jahre-Musikzeitreise scheint irgendwie auch auf unsere Reife abgefärbt zu haben. Wir verhalten uns wie Pubertierende. Ben setzt dem Ganzen die Krone auf und schlägt vor, uns aus dem Schlafsaal zu schleichen, um reden zu können.

Erst traue ich mich nicht, dann ist es mir egal. Ich habe auf Klassenfahrten schließlich auch immer mit einer Freundin versucht, mich in den Jungs-Trakt zu schleichen. Das Bett quietscht laut, als ich um viertel nach elf aufstehe und auf Zehenspitzen den Raum verlasse. Ben sitzt bereits am Hinterausgang, wo es zu den Waschvorrichtungen geht.

Wir passen gerade so gemeinsam in den Türrahmen. Körperkontakt ist unvermeidlich. Der gefühlt erste nach anderthalb Monaten. Ich traue mich kaum, mich zu bewegen, während wir Seite an Seite sitzen und ein Kribbeln in der Luft ist. Über meinem Kopf befindet sich ein Waschbecken, und Ben, fürsorglich wie immer, hält seine Hand dagegen, damit ich mir nicht wehtue. So sitzen wir fast Arm in Arm.

Fünf vor Zwölf

In meinem Kopf herrscht ähnliches Chaos wie heute Morgen, als er mir seine Bilder gezeigt hat. Ich flüchte mich in die Sicherheit meiner Beziehung und erzähle etwas von meinem Freund. Schnell wechselt das Thema auf Bens Freundin und die unglückliche Beziehung, in der er steckt. Er sei sich sicher, dass er sich von ihr trennen werde, sagt er. Er wisse nur nicht wie. Ihm sei inzwischen klar geworden, dass es nicht das sei, was er für sein Leben wolle. Aber nach fast 15 Jahren sei das nicht so einfach.

Ich glaube, ein Ende der Beziehung ist das Beste, was beiden passieren kann und sage das auch unverblühmt. Er stehle ihre Zeit, wenn er sich sicher sei, sie nicht zu lieben und trotzdem weiter mit ihr zusammenbleibe. Außerdem, das behalte ich aber für mich, habe ich die Hoffnung, dass es ein Ausweg aus seiner Depression sein könnte, wenn er sein Leben neu gestalte.

Es ist für mich immer noch schwer vorstellbar, dass der gutgelaunte, lustige Typ an meiner Seite seit Jahren schwer depressiv ist und eigentlich Medikamente nehmen soll. Durch seine Bilder habe ich heute allerdings einen kleinen Blick auf diese andere Seite werfen dürfen. Und dann war da ja noch dieses eine Bild, das mich so aus der Bahn geworfen hat.

Ich frage ihn, ob er es mir noch mal zeigen wolle. Kurz darauf schaue ich wieder auf meine Doppelgängerin. Ich frage ihn, auf was ihre Hand zeige. Das habe ich mich den ganzen Tag gefragt. Sie liege vor einer großen Uhr, erklärt mir Ben. Deswegen hieße sie ja auch Clock Girl. Er zeigt mir die Skizze, die er zu dem Bild angefertigt hat. Große römische Lettern sind im Hintergrund zu erkennen.

Einem Impuls folgend, frage ich, wie spät es auf der Uhr ist. Kurz vor zwölf, sagt er. Mich wundert nichts mehr. Die deutsche Redewendung, dass es fünf vor zwölf sei, gibt es auf Englisch nicht. Ich habe auch keine Ambitionen, sie ihm zu erläutern. Aber für mich selbst ist völlig klar: das Gemälde zeigt mich, und ich weise ihn daraufhin, dass es allerhöchste Zeit ist. Nicht mehr, nicht weniger. Und doch zu viel.

Besuch der Höllenhunde

Auf einmal höre ich tapsige Schritte und erschrecke heftig. Da sind eindeutig Tiere. Wir haben bereits die ganze Zeit die Kühe im Stall gegenüber gehört, doch das hier ist direkt neben uns. Ich erstarre, als wir im Mondschein zwei Hunde sehen, die nur wenige Meter an uns vorbeilaufen. Ben scheint meinen Impuls, sofort nach drinnen stürmen zu wollen, zu spüren und flüstert mir zu, ganz still sitzen zu bleiben.

Die Hunde interessieren sich offensichtlich gar nicht für uns. Vielleicht sind sie auch krank und können uns nicht riechen. Ben beugt sich zu mir runter und flüstert: „Weißt du, was in dem Stall gegenüber ist?“ Ich schaue ihn ratlos an. „Da wohnt Marguerita, ‚the butcher‘, aus der Bar in Portomarin!“ Sie sei es auch, die die Geräusche mache, die ich irrtümlicherweise für Kühe gehalten habe. Ich muss kichern, will im Anschluss aber trotzdem lieber schnell rein. Der Ort ist mir bei Dunkelheit nicht geheuer. Nachher kommt noch die Hexe von San Xulián zurück und verwandelt mich in einen Frosch.

Zeitreise:

Vorwärts: Jetzt bist du gespannt, wie es morgen weitergeht? Na dann auf von San Xulián nach Ribadiso, wo es Zickereien mit Ben gibt, ein rückwärtsgewandter Manga-Rucksack für Aufsehen sorgt, einer Horde Muhigrinos eine Brücke blockiert und sonst alles im Fluss ist, wenn man vom Camino-Blues absieht.

Rückwärts: Du wunderst dich, wer um alles in der Welt „The Butcher“ ist, und was es mit Andy Warhol auf sich hat? Dann komm noch mal mit von Barbadelo nach Portomarin und lies nach, wie ich das 90er Jahre ABC erfinde, einen Meilenstein hinter mir lasse und neben Atlantis schlafe.

Du bist hier heute durch Zufall gelandet und möchtest das Abenteuer von Anfang an erleben? Dann geht es hier entlang.

Kommentare und Ergänzungen

Bist du selbst den Jakobsweg gelaufen? Glaubst du an Zufälle oder sind dir auf dem Weg so wie mir Dinge wiederfahren, die sich nicht logisch erklären ließen, dadurch aber eine umso größere Bedeutung bekommen haben? Was war deine Camino Magic? Warst du vielleicht sogar mit mir auf diesem Stück unterwegs? Hast du noch etwas zu ergänzen oder zu korrigieren? Was hat dir an der Etappe gefallen, was eher nicht so? Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.

Ich muss das weitersagen

6 Gedanken zu „Camino Frances #37: Von Portomarin nach San Xulián&8220;

  1. So kurz vor deinem Finale eine sehr berührende und schöne Geschichte. Ich werde es bedauern, wenn diese Wanderung zu Ende geht.

    Eure Wortschöpfungen zum Peregrino finde ich klasse und die Idee mit den Zeichnungen dazu auch. Das würde sich hundertprozentig auf dem Camino verkaufen. Und wenn nicht dort, dann bei den daheim gebliebenen als witzige Anspielung oder Provokation, den Weg selbst zu gehen. 😉

    1. Hi David, ich glaube, ich werde auch sehr traurig sein, wenn der Weg auserzählt ist. Ich hab ihn so noch einmal erlebt.
      Gott sei Dank habe ich noch ein paar andere Wege in petto, aber die sind nicht so emotional wie “das erste Mal”.
      Liebe Grüße,
      Complettogrino

  2. Ich habe richtig Gänsehaut gekriegt bei der Geschichte mit dem Bild. Und es hat wieder meine Wahrnehmung bestätigt: die Menschen, die zusammen auf dem Camino sind, sind sich einfach näher.
    Für mich fühlt es sich so an, als läuft man auf dem Camino wie in einem Tunnel, der ganz dick mit Watte umhüllt ist. Außerhalb ist die übrige und übliche Welt, ziemlich weit weg und nur sehr gedämpft wahrnehmbar, dafür erleben diejenigen innerhalb des Tunnels alles intensiver, fokussierter und sind sich – als Menschen – näher.
    Liebe Grüße
    Ottmar

Und was sagst Du?