Tag 4 auf dem portugiesischen Jakobsweg von Marinhas nach Viana do Castelo. Ich komme endlich an, beschäftige mich mit meiner Blase, meinem früheren Leben als Koalabär und vermeintlichen Jakobsmuskeln, führe einen kleinen Regentanz auf, finde ein Café in Chafé, Erleichterung neben der Kirche und ein Bett im Emergency Room (6. Mai 2017, 21 Kilometer)
Ich schlafe ganz hervorragend, bis um vier Uhr morgends plötzlich die ersten Wahnsinnigen aufstehen. Es wird so viel geklappert und gekramt, dass auch ich mich notgedrungen um halb fünf erhebe. Ich lasse mir alle Zeit der Welt, packe leise zusammen, dehne mich, haue mir eine Magnesiumtablette ins Wasser und creme meine Füße wie jeden Morgen mit Hirschtalg ein. Der Tag kann kommen.
Meine Blase und ich
Als ich um halb sechs die Herberge verlasse, wird es gerade hell. Die Farben am Himmel entschädigen mich für die frühe Uhrzeit. Bester Laune breche ich auf in Richtung Viana do Castelo, von dem mich gute zwanzig Kilometer trennen.
Ich komme ohne Stirnlampe aus und genieße die Stille in den Dörfern, in denen die Gärten in voller Blüte stehen. Es ist angenehm kühl, genau mein Wetter. Dass die ersten fünf Kilometer ausschließlich durch bewohntes Gebiet führen, erweist sich zunehmend als etwas hinderlich, denn der halbe Liter Magnesiumwasser möchte gern raus. Verstohlen schaue ich mich nach einem halbwegs geschützten Plätzchen um, habe aber kein Glück, oder besser zu viel Anstand. Die Blumenbeete eignen sich nun wirklich überhaupt nicht.
Als ich an einem unbebauten Grundstück vorbeikomme, habe ich das Klopapier bereits griffbereit in der Hand, traue mich dann aber doch nicht. Zu allen Seiten sind die Fenster der Nachbarhäuser. Was sollen die Leute denken, wenn sie just in dem Moment nach draußen schauen und eine hockende Pilgerin entdecken?
Ich verkneife es mir und laufe hochkonzentriert weiter. Wie viele Kilometer meiner Wanderungen habe ich eigentlich damit verbracht, nach passenden Stellen zum Pinkeln zu suchen, schießt es mir durch den Kopf? Irgendwie gehört das für mich inzwischen zum Wandern dazu. Alle reden von ihren Blasen, aber ich nur von meiner Blase. Nun gut.
Der regentanzende Waldschrat
Nach insgesamt sechs Kilometern verlasse ich die Dörfchen. Bis hierher ist mir genau ein Mensch begegnet, ein Herr, der mit seinem Hund Gassi ging. Ansonsten ist es offensichtlich für Portugiesen zu früh und für Pilger zu spät. Wir erinnern uns, dass die meisten meiner Mitschläfer ja offensichtlich bereits um halb fünf auf der Straße sein wollten.
Niesel setzt ein. Und ich? Ich freue mich wie Bolle. Der feine Sprühregen ist angenehm erfrischend nach den letzten schwülen Tagen. Windjacke und Rucksackschutz reichen völlig, während ich Wald betrete. Es ist nicht irgendein Wald, sondern Eukalyptus. Sofort breitet sich ein seeliges Grinsen auf meinem Gesicht aus. Ich muss in einem früheren Leben Koalabär gewesen sein, denn meine Begeisterung für die duftenden Bäume ist grenzenlos.
Mein kleines Outdoor-Buch prophezeit mir ab hier einen der schönsten Abschnitte des gesamten portugiesischen Jakobswegs Der erst noch sehr breite Weg geht schnell in einen schmalen Waldweg über. Ein beeindruckender Wegweiser leitet mich weiter. Er gehört zu den Wahrzeichen des portugiesischen Jakobsweges und ist auf vielen Bildern zu sehen.
In mir wird es immer friedlicher und freuiger. Endlich laufe ich auf Waldwegen, endlich fühlt sich alles richtig an, endlich komme ich auf meiner Reise an und endlich schleppe ich mich nicht mehr vorwärts, sondern laufe federnden Schrittes. Als es dann auch noch hügelig wird, schließe ich mich dem Auf und Ab fröhlich an. Sollte ich jetzt noch einen Kaffee auftreiben können, bin ich der glücklichste Mensch. Bis dahin genieße ich den Wald, der mir ausreichend Endorphin gibt.
Santiago kommt zu früh
Ich laufe in kleinem Abstand zu einem Fluss, den es kurz darauf zu queren gilt. Eine Ansammlung von Steinen wartet auf mich. Sie dient als Brücke. Wie schade, dass gerade niemand da ist, um mich zu fotografieren. Das wäre sicher ein tolles Bild. Doch auch so gefallen mir meine Schnappschüsse.
Das einzige, was es hier neben der Brücke gibt, ist eine Mühle. Sonst ist hier absolut nichts zu holen.
Es bleiben mir anschließend noch ein Kilometer im Wald, dann geht es zurück auf eine Asphaltpiste, die mich recht steil hinauf nach Santiago führt. Dass ich im Rekordtempo nach Santiago komme, hatte ich nicht erwartet. Der kleine Ort heißt tatsächlich wie sein großer, spanischer Bruder, und der gleichnamige Schutzpatron wartet in einer der letzten Wegbiegungen auf mich. Wir zwinkern uns zu wie alte Bekannte.
Um halb neun bin ich oben. Der Regen hat sich längst wieder verabschiedet, und die Sonne kommt raus und scheint auf die für diesen kleinen Ort doch recht imposanten Kirche. Für mich das mit Abstand Schönste hier oben sind die Sanitäranlagen im Nebengebäude des Gotteshauses. Meine Erleichterung lässt sich kaum beschreiben.
Dermaßen erleichtert sage ich dem lieben Gott anschließend noch kurz guten Tag, denn diese Kirche ist geöffnet. Während das auf dem Camino Frances keine Erwähnung wert gewesen wäre, gestaltet es sich auf dem portugiesischen Jakobsweg anders, denn die Kirchen sind leider sehr häufig verschlossen.
Kaum bin ich wieder unterwegs, bietet sich mir ein toller Blick ins Tal. Die Regenwolken nehmen feierlich Abschied, und ich winke meinen Freunden hinterher. Sie haben mich wahrlich nicht gestört.
Café in Chafé?
Die nächste Stunde verbringe ich wieder im Wald. Der Caminho führt talwärts und der Eukalyptus bleibt mir gewogen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich bei der ersten Begegnung vor gut einem Jahr anfangs dachte, die Bäume seien krank, weil sich ihre Rinde schält. Inzwischen weiß ich, dass das total normal ist.
Um halb zehn zeichnet sich wieder eine Ortschaft ab. Ich bin seit dreieinhalb Stunden ohne Koffeinzufuhr unterwegs. Kein Wunder also, dass beim Anblick des Ortsschildes meine Freude riesig ist. Aus der Entfernung glaube ich nämlich kurz, dass hier ein Café besonders imposante Außenwerbung betreibe. Je näher ich komme, desto mehr verstehe ich, dass der Ort selbst Chafé heißt. Manchmal steht zwischen mir und meinem größten Glück ein schnödes H.
An einer Straßenkreuzung entdecke ich – selbst mein Reiseführer spricht von „endlich“ – eine kleine Bar. Sie ist alles andere als idyllisch. Verkehrsgünstig gelegen und mit wenig Charme gestaltet, aber hey, sie führt das Elixier, das ich seit drei Stunden herbeisehne.
Wenig später hocke ich mit breitem Grinsen vor meiner dampfenden Tasse. Eine portugiesische Schweinerei aus Blätterteig, Käse und Schinken leistet mir Gesellschaft.
Kitschkirchen und schöne Aussichten
Wieder unterwegs erwarten mich weitere portugiesische Dörfchen und die inzwischen gewohnte Mischung aus Asphalt, Kopfsteinpflaster und kleinen Pfaden. An einer Stelle ist der Weg so schmal, dass ein Traktor extra ein Stück zurücksetzt, damit ich samt Rucksack an ihm vorbei kann. „Bom Caminho“, wünscht der Bauer.
Eine Stunde später lädt die Kirche in Anha zu einem weiteren Päuschen ein. Durch meinen frühen Start habe ich wahrlich keine Eile. Auch dieses Gotteshaus ist geöffnet. Drinnen erklingt Meditationsmusik vom Band, und so lasse ich den prunkvollen (man könnte auch das Wort kitschig in den Mund nehmen) Raum auf mich wirken und genieße seine Kühle.
Nach diesem kurzen Zwischenstopp dauert es nur noch eine Stunde bis zu meinem Tagesziel Viana do Castelo. Auf dieser letzten Stunde büßt der Caminho leider weiter an Attraktivität ein, denn es geht hauptsächlich durch Ortschaften. Immerhin erhasche ich noch den ein oder anderen hübschen Blick.
Vom Winde verweht
Und plötzlich sehe ich viel früher als gedacht Viana do Castelo vor mir. Über dem Städtchen, das auf das Mittelalter zurückgeht, thront die schöne Basilika Santa Luzia, die aber leider abseits des Weges liegt. Ich werde sie leider nicht aus der Nähe zu Gesicht bekommen, denn anders als gedacht wird der Rest des Tages wie im Flug vergehen.
Um kurz vor zwölf liegen zwischen mir und meiner künftigen Unterkunft nur noch 500 Meter. Ein Kinderspiel, sollte man meinen, würde es sich dabei nicht um imposantes Brückenwerk handeln. Das Konstrukt aus 2.000 Tonnen Stahl wurde einst von Eiffel errichtet. Leider kann man es auf meinem Bild nur erahnen. Wie gut, dass es Wikipedia gibt, da ist sie in Gänze zu bewundern.
Bereits nach kürzester Zeit macht mir dieses Bauwerk arg zu schaffen. Die Brücke ist stark befahren. Der untere Teil steht den Zügen zu, die das Konstrukt ordentlich durchschütteln. Oben teilen sich Autos, Radfahrer und Fußgänger die Beletage. Zwar ist der Fußgängerweg mit Gittern abgetrennt, aber mir altem Höhenangstkandidaten schlottern auch so die Knie.
Als Tüpfelchen auf meinem ganz eigenen I pfeift ein heftiger Wind, der so viel Kraft hat, dass ich meine Kappe abnehmen muss, damit sie mir nicht vom Kopf geweht wird und meine Stöcke festklammern muss, damit sie nicht wegfliegen. Um Mut anzusammeln, singe ich laut vor mich hin. Der Kanon Dona Nobis Pacem muss wie so häufig herhalten, wenn ich mich unwohl oder besonders wohl fühle. Derart gewappnet, gelingt mir der Balance-Akt.
Der Outdoor-Wegbeschreibung folgend, nehme ich noch auf der Brücke eine Abkürzung über eine Seitentreppe nach unten und stehe wenig später vor dem Konvent, in dem ich übernachten möchte. Leider öffnet es um drei, dabei haben wir erst halb eins. Ein etwas muffeliger Mönch hat ein Einsehen. Wir dürfen unsere Rucksäcke hier lassen.
Im Vorraum, in dem ein Klavier steht, das mich magisch in seinen Bann zieht, sitzen sicher schon zehn Leute, die sich ihrer Wanderschuhe entledigen. Der Geruch ist ausbaufähig. Ich trolle mich wieder nach draußen und rauche in der Sonne mit Blick auf die Brücke.
In bester Gesellschaft
Oben kämpft sich eine bekannte Gestalt durch die Windböen. Die sieht doch aus, wie die nette Tschechin aus der Herberge von gestern, denke ich. Auch sie entdeckt mich und winkt mir zu. Ich gebe ihr mit Rufen und Zeichen zu verstehen, wo sie von der Brücke runter muss, um zur Herberge abzukürzen.
Obwohl wir in unserer Herberge gestern kein Wort gewechselt haben, fühlen wir uns wie alte Freunde. Typisches Camino-Phänomen. Kristýna, kurz Tina, lässt genau wie ich ihren Rucksack im Konvent. Wir wollen uns die Wartezeit vertreiben und gemeinsam auf Entdeckungstour gehen, das Städtchen begutachten und uns auf die Suche nach einem Café machen. Mit Tina habe ich nämlich eine Schwester im Geiste, wenn es um Kaffee geht. Die Liebe er Tschechin geht sogar so weit, dass sie ihren eigenen, kleinen Espressokocher im Gepäck hat.
Viana do Conde erweist sich als wirklich hübsches Städtchen. Heute ist es sogar noch um eine Attraktion reicher, und damit meine ich nicht meine Begleitung und mich. Hier ist Festa das Rosas, ein Blumenfest.
Auf dem Marktplatz wimmelt es nur so von Ständen, an denen Menschen in folkloristischer Tracht lauter leckere Dinge verkaufen. Eine weitere Trachtengruppe singt und tanzt. Wir sind absolut begeistert und testen uns durch die kostenlosen Proben. Ich ergattere etwas, das wie Reibekuchen aussieht und aus Fisch und Ei besteht. Mega lecker.
Gleich um die Ecke werden wir dann auch noch mit einem ansprechenden Café fündig. Von unserem Platz in der Sonne bestaunen wir die imposanten Blumenstatuen am Praça da República, vor dem der hübsche Rennaissance-Brunnen Chafariz steht.
Es dauert nicht lange, bis wir ins Gespräch vertieft sind. Der Caminho zeigt endlich sein mir so vertrautes Gesicht. Tiefe Gespräche, weit weg von Smalltalk, ergeben sich auf Jakobswegen immer erstaunlich schnell. Tina erzählt, sie lebe momentan in Polen, wo sie für eine NGO arbeite, während ihr Freund in Österreich wohne. Ähnlich wie ich stellt sie sich die große Fragen nach der Zukunft, vor allem der beruflichen. Schnell sind wir in einer lebhaften Diskussion darüber, was man tun kann, wenn man nicht weiß, was man tun soll.
Die Zeit vergeht wie im Flug, denn als nächstes kommt das Gespräch natürlich auf den Camino. Ich erzähle mit leuchtenden Augen von meinem 2016er Abenteuer, Tina hört mit leuchtenden Augen zu. Überhaupt, diese Augen. Die Frau ist unglaublich. Auf ihrem Gesicht tut sich so viel, ihre Augen sind wie funkelnde Seen, ihr Lachen geht von einem Ohr zum anderen, und sie strahlt eine solche Herzlichkeit aus, dass man sich gleich zu ihr hingezogen fühlt.
Um halb drei machen wir uns etwas widerwillig auf den Weg zurück zum Konvent, da wir uns nicht sicher sind, ob die Reihenfolge, mit der wir angekommen sind, bei der Bettenvergabe eingehalten wird. Nicht, dass uns nachher noch jemand die Schlafstätte wegnimmt.
Die berühmten Jakobsmuskeln
Unsere Sorgen sind unberechtigt, denn alle haben sich brav gemäß der Reihenfolge ihrer Rucksäcke aufgestellt. In der Schlange warten wir auf unsere Registrierung, die dem immer gleichen Prozedere folgt: Geld raus, Credencial raus, Ausweis raus, unterschreiben, Papierüberzüge für Kopfkissen und Matratze in Empfang nehmen, Bett suchen.
Eine Dame in der Schlange treibt mich in den Wahnsinn. Sie ist vermutlich Ende 50 und sehr, sehr aufgeregt. Schon lange bevor sie an der Reihe ist, schaut sie sich immer wieder um und murmelt hektisch in einem Gemisch aus Deutsch und Englisch vor sich hin, dass sie noch jemanden erwarte. Als sie endlich an der Reihe ist, erklärt sie dem Hospitalero holpernd, aber mit sehr lauter Stimme, dass ihre Tochter noch in der Stadt sei und gleich komme. Sie sei also zwei. Wieso denken Leute eigentlich immer, man verstehe Fremdsprachen besser, wenn sie lauter sprächen?
Ob man hier im Kloster auch Jacob Muscles kriegen kann, will sie nun wissen. Während meiner Nase ein kichernder Grunzer entfährt und Tina herzhaft auflacht, schaut der Mönch recht planlos. Was Jakobsmuskeln sind, weiß er wohl nicht. Ich stelle mir derweil vor, wie man beim Pilgern Jacob-Muscels entwickelt und dann als kleiner Muskelprotz von weitem als Peregrino erkannt wird.
Die Dame kann ihr Anliegen ohne meine Hilfe klären und erhält einen Muschelanhänger. Außerdem darf sie nach einigem Hin und Her sogar für zwei Personen bezahlen, obwohl man in den kirchlichen Herbergen eigentlich nur so viele Betten bekommt, wie man Köpfe hat. Die ganze Schlange weiß inzwischen, dass der Kopf der Tochter beim Friseur ist und ist dankbar, als die Dame endlich fertig ist.
Während Tina zielstrebig in das gleiche Zimmer geht, wie die hektische Dame, beschließe ich sofort, dass ich auf jeden Fall den anderen Raum wählen werde. Die Frau sabbelt mir einfach zu viel. Ihrer Sprachmelodie nach zu urteilen, bin ich mir recht sicher, dass sie wie ich aus NRW kommt. Wir sind da ja nicht nur mit Singsang sondern auch einem erhöhten Mitteilungsbedürfnis gesegnet (da nehme ich mich gar nicht aus). Trotzdem oder gerade deshalb gehe ich lieber in das zweite Zimmer, in dem sich bereits drei ältere Herren ausbreiten, auch wenn das vielleicht bedeutet, dass sie heute Nacht wundervoll schnarchen werden.
Wiedersehen mit Freunden
Ich springe erst unter die Dusche, dann wasche ich draußen im Becken meine Klamotten. Die Wäscheleine verläuft entlang der Klosterwand, die von der Sonne beschienen wird. Das Gemisch aus Sportklamotten und Schlüppis ist göttlich, denn es wird von vielen Pilgern abgerundet, die auf der Bank gleich darunter in der Sonne sitzen. Im Schatten der Unterwäsche, sozusagen.
Hier komme ich mit Peter aus Salzburg ins Gespräch. Heute sei sein letzter Tag, erzählt er wehmütig. Ursprünglich wollte er den Caminho einfach mal austesten, nun bereut er, dass er nicht länger bleiben kann. Derweil kredenzt mir Tina einen selbstgekochten Kaffee aus ihrem kleinen Kocher. Das Leben ist herrlich.
Eine Stunde später steht Gabi, meine Bettgefährtin von Etappe Eins, im Hof, und wir fallen uns in die Arme. Leider funkt es zwischen ihr und Tina nicht so richtig. Landsleute müssen sich ja nicht zwangsläufig verstehen, das kenne ich selbst nur zu gut, wieso sollte das bei den Tschechen anders sein? So gehen Gabi und ich später allein zum Abendessen. Sie spricht nicht besonders gut Englisch, Tina wiederum kein Deutsch, das hätte die gemeinsam Kommunikation sowieso erschwert.
Die Macht vom Niederrhein
Als wir gegen acht wieder im Konvent ankommen, sind alle Schlafplätze belegt. Ich treffe nicht nur die beiden Französinnen wieder, mit denen ich gestern Abend Essen war, sondern auch noch meine ganz besonderen Freunde vom „Team Bollerwagen“.
Das Paar, das bereits gestern am Limit war, ist vom Tag gezeichnet. Ich erinnere mich an die holprigen Wege heute und an das Auf und Ab, was mit dem Gefährt der beiden sicher nicht ohne ist. Entsprechend schlecht ist die Stimmung wie auch der körperliche Zustand der beiden.
Sie ist gerade dabei, das Bett über mir zu beziehen. Augen- bzw. nasenscheinlich war sie bisher noch nicht unter der Dusche. Die Geruchsschwaden, die zu mir herunterwehen, sind nicht sonderlich appetitlich. Während es mich leicht schaudert, kommt er ins Zimmer und blafft sie an, sie solle gefälligst duschen gehen, sie stinke wie ein Schwein. Wenn das so weitergehe, sei sie gleich allein im Zimmer. Mir bleibt der Mund offen stehen. So sehr ich es begrüße, dass sie sich gleich wäscht, passt mir sein unflätiger Ton absolut nicht. Ich mische mich nicht ein, schaue ihn aber so unfreundlich an, wie ich kann. „Ist doch wahr“, höre ich ihn murmeln.
Als beide geduscht haben, erlebe ich mein grünes Wunder. Sie haben sich einträchtig in Gladbacher Fan-Klamotten gewandet. Von Kopf bis Fuß, versteht sich. Ich bin sprachlos. Sollte ich mir noch unsicher gewesen sein, ob die beiden wirklich aus meiner alten Heimat stammen, bricht die Macht vom Niederrhein nun mit aller Gewalt über mich herein. Ich bin zu neugierig, um erneut auf ein Gespräch zu verzichten. Der gemeinsame Fußballverein bietet da natürlich einen guten Ausgangspunkt.
Das Gespräch nimmt schnell Fahrt auf und ich mehr, als mir lieb ist, vor allem als er mal kurz den Raum verlässt. Sie habe Probleme mit der Bandscheibe, erzählt sie, aber immer den Traum vom Jakobsweg gehabt. Sie könne ihr Gepäck nicht selbst tragen, deswegen seien sie mit dem Karren unterwegs. Doch wie sich herausstellt, sei das Ziehen des Wagens schwieriger und anstrengender als gedacht.
Sie hätten sich jetzt schon mehrfach heftig gestritten und so langsam frage sie sich, ob das wirklich der richtige Mann sei. Ich habe Mitleid mit dem Häufchen Elend über mir, auch wenn ich nicht wirklich warm mit den beiden werde. Ich versuche sie zu trösten. Es bestünde doch durchaus die Chance, dass sie das gemeinsame Unterfangen enger zusammenschweißen würde? Und falls scheitern würde, sei das doch auch eine gute Erkenntnis. Dann wüssten sie wenigstens, woran sie seien.
Emergeny Room
Die letzten zwei Stunden vor dem Zubettgehen verbringe ich draußen. Gabi unterhält sich mit Händen und Füßen mit einem Spanier namens Toni, den sie gestern kennengelernt hat. Das Englisch der beiden befindet sich auf vergleichbarem Niveau. Dennoch oder gerade deswegen schaffen sie es, sich blendend zu verständigen. Peter aus Österreich und Toni kennen sich ebenfalls.
Gefühlt kennt sowieso jeder Toni. Nur mir ist er bisher noch nie begegnet. Mein Versuch, mit ihm zu sprechen, scheitert. „You much quick“ und ein Achselzucken ist alles, was er für mich übrig hat. Ich achselzucke zurück. Um diese Uhrzeit ist es mir zu anstrengend, langsam und mit Anfängervokabular Englisch zu sprechen.
Als ich um zehn in den Schlafsaal gehe, ist die Hölle los. Ich befinde mich urplötzlich in der Kulisse von Emergency Room. Es riecht nach Tigerbalm, Latschenkiefer und Eukalyptus. Um das Bett einer Litauerin stehen die drei älteren Herren aus Spanien und beraten sich. Toni stößt dazu. Großes Hallo bzw. Hola, fragende Blicke, Diskussion.
Die Litauerin hat eine riesige Blase unter jedem Fuß. Wie sich herausstellt hat die Gute die Wanderschuhe genau ein Mal getragen, bevor sie damit auf den Caminho gegangen ist. Bei so viel Naivität fasse ich mir gedanklich an den Kopf. Manche Leute sind wahre Optimisten. Team Spanien diskutiert derweil, wie man nun am besten vorgehe. Das Verfahren, die Blase mit der Nadel aufzustechen und den Faden über Nacht drin zu lassen, bekommt die höchste Punktzahl.
Die Litauerin wird blass im Gesicht. Sie will nicht, dass ihr Fuß aufgestochen wird, aber die Spanier interessiert das nicht. „You go, you do“ erklärt ihr Toni, was wohl so viel heißen soll wie: Wenn du weiterlaufen willst, machen wir das jetzt und so ergibt sie sich ihrem Schicksal. Es ist halb so schlimm, auch wenn sie ordentlich jammert.
Wie immer wird unter den Pilgern geteilt. Der eine hat etwas Nähgarn und eine Nadel, der nächste Jod zum Desinfizieren und der Dritte holt die selbstgemachte Zaubersalbe der Ehefrau. Ich kannte bisher immer nur die Varianten Blase lassen und Compeed rauf oder aber aufstechen und gut. Vom Trick mit dem Faden hingegen höre ich zum ersten Mal. Das Gute daran ist, dass die Flüssigkeit entlang des Fadens ablaufen kann und die Blase über Nacht trocknet. Wieder was gelernt.
Um halb elf liegen endlich alle im Bett, und es wird geschlafen. Die Gladbacherin über mir dreht sich unruhig hin und her, und ich wanke mit ihr. Wahrscheinlich zermartert sie sich gerade den Kopf, wie es weitergehen wird. Morgen machen die beiden einen Pausentag, hat sie erzählt, und ich muss gestehen, dass ich nicht ganz traurig bin, dass sich unsere Wege dann wieder trennen werden. Der Umgangston der beiden stört mich. Seine pampige Art ist genauso nervig, wie ihre hohe, weinerliche Stimme. Die beiden sind nicht die einzigen, die ich morgen verlieren werde. Peter reist ab und Gabi macht nur zehn Kilometer. Für mich geht es also vermutlich alleine weiter in Richtung Caminha.
Das passt schon. Vielleicht ist es die Quittung dafür, dass ich mir so dringend Einsamkeit gewünscht habe. Nun habe ich sie. Camino provides, es wird sich schon alles finden, denke ich, als ich einschlafe.
Kommentare und Feedback
Kannst du meine Begeisterung über den einsetzenden Nieselregen teilen oder hast du nur verständnislos den Kopf geschüttelt? Und wie ist eigentlich dein Verhältnis zu Mitreisenden? Freust du dich über Gesellschaft oder ziehst du es vor, alleine unterwegs zu sein?
Warst du auch auf diesem Stück des Caminho Portugues unterwegs? Was hast du dort erlebt? Ich freue mich wie immer sehr über deine Kommentare.
Zeitreise
Vorwärts: Willst du wissen, wie es weitergeht und ob meine blendende Laune anhält? Dann komm doch mit von Viana nach Caminha und sei dabei, wenn ich eine zweieinhalbstündigen Nulldiät durchziehe, die Eukapolypse genieße, Frieden mit dem Meer schließe und mit einem gutaussehenden Kerl in einem Swimmingpool aus Gin Tonic versinke.
Rückwärts: Hast du mein erstes Zusammentreffen mit meinen grünen Freunden verpasst? Dann komm noch mal mit von Fão nach Marinhas und erfahre, dass feuchte Träume nicht immer ein Happy End haben, sich bei mir aber dennoch endlich alles zum Guten wendet und das auf gerade mal sieben Kilometern.
Möchtest du meinen portugiesischen Jakobsweg von Anfang an nachlesen? Dann kommst du hier zum abenteuerlichen Auftakt.
Das ist wieder so lustig geschrieben. Besonders bei der Stelle mit Chefarzt, Oberarzt und Wunderheiler musste ich herzhaft lachen. Auch an die Brücke und den Wind kann ich mich gut erinnern.
Ich glaube, auf der Brücke ist einfach immer Wind. Egal, von wem ich etwas gelesen habe, es hat immer ordentlich geweht 😊
Und bei der Kommentierung des Fotos musste ich selbst grinsen – fehlte nur noch ein professioneller Schamane. Aber der ist mit dem Wunderheiler abgetan
Also als Kölner hätte ich mich beim Anblick der schwarz-weiß-grünen Trikots wohl spontan als Engländer ausgegeben 😀
Freut mich, dass Du Deinen Camino-Rhythmus jetzt gefunden zu haben scheinst. Aber wenn die ersten Tage nicht so toll waren, kann es ja auch nur immer besser werden. Bei der Beschreibung des Treibens in/vor den Herbergen kommt bei mir schon wieder die Camino-Sehnsucht hoch. Bin ein bisschen neidisch…
Auf meinem Frances hatten übrigens die meisten Kirchen geschlossen. Keine Ahnung ob aufgrund der Jahreszeit oder weil ich einfach nur Pech hatte…?
Bom Caminho!
Hey Audrey,
ich mußte wieder mal schmunzeln. Ich habe auf dem Camino auch immer abends nach dem Duschen das Trikot mit der Raute getragen. Auch, wenn man sich so gleich outet – es hat durchaus einige nette Kontakte gebracht…. Auch bin ich von der fortwährenden Blasen-Behandlungs-Diskussion fasziniert. Es gibt übrigens eine Reihe von Fachleuten, die von der Faden-Methode energisch abraten. So kann über den Faden nicht nur das Wundwasser ablaufen – es gelangen ungehindert auch Keime in die Wunde. Aber jeder, wie er mag….
Freue mich schon auf den nächsten Sonntag und die nächste Etappe!
Du warst aber hoffentlich nicht mit dem Bollerwagen und deiner Ex-Freundin unterwegs 😂😂?
Nein, ich bin äußerst höflich immer nett…. 😉
Alles andere hätte mich gewundert. Außerdem hieß der Gute nicht Marcus.
Ich hatte gestern nur kurz diesen Gedanken, wie die beiden zufällig auf den Blog stoßen und das gar nicht lustig finden 😊😂
Gut dass es sich gedreht hat und die letzten Tage weit besser liefen als der Anfang. Bin ja schon gespannt wie es weitergeht!
Hallo Audrey,ich möchte mich kurz vorstellen, mein Name ist Vera Wilden,ich bin eine Freundin von Annelie, sie hatte am Donnerstag Geburtstag,dort habe ich Ihre Mutter getroffen,und mich mit ihr über Ihre Tour unterhalten. Sie hat so begeistert von Ihnen und die Wanderung erzählt, das ich jetzt auch Ihren Block verfolge. Sie hat mir erzählt,dass sie Sonntags begeistert liest,was alles gewesen ist auf Ihrer Wanderung,und ich muss sagen,es liest sich wie ein Roman….richtig lustig und Spannend. Vor Jahren habe ich das Buch von Hape Kerkeling gelesen,der ja auch den Jakobsweg gegangen ist, das hat mich so begeistert,dass ich den Wunsch verspürte dieses Abenteuer auch mal zu erleben. 😁Inzwischen habe ich es mir aber abgeschminkt. Ich wünsche Ihnen noch viel Spaß, und Ausdauer,werde jetzt immer alles lesen, liebe Grüße Vera
Liebe Vera, so einen Wunsch sollte man sich wahrlich nicht abschminken!! Vielleicht überlegen Sie es sich ja anders, wenn sie mit dem Lesen fertig sind 😊
Der portugiesische Weg ist zum Beispiel recht kurz und nicht so herausfordernd. Träume muss man umsetzen. Das wäre zumindest mein Tipp.
Viel Spaß bei der Lektüre und danke für die Rückmeldung.
Alles Liebe,
Audrey
Hallo Audrey,
habt ihr- also Gabi und du – euch auch über die zentrale Route unterhalten, von der sich Gabi verabschiedet hat? Fand sie ihn wirklich nur öde oder gab es noch andere Probleme mit dem Weg? Erfreut hat mich beim Lesen, dass es auch durch ein nettes Waldstück ging, und die beiden letzten Tage bei dir die Stimmung nach oben drehte.
Liebe Grüße
Bernhard
Wenn die Stimmung erst mal oben ist, bleibt sie da auch. Ab jetzt eitel Sonnenschein 😉
Gabi fand den Weg öde, mehr weiß ich nicht. Meine Freundin Kati ist ihn vor zwei Wochen gegangen. Ich kann sie gern fragen. Oder sie schreibt Dir hier. Mal sehen
Entschuldigt, ich habe den Kommentar jetzt erst gelesen. Natürlich helfe ich gern weiter! Kurze gesagt: Ich fand die zentrale Route ganz und gar nicht öde 🙂
Ich bin die ersten 1,5 Tage die Küstenroute gelaufen (Vila de Conde) und dann auf die Zentralroute gewechselt, damit ich wenigstens ein bißchen Meer habe. Sonst hätte ich wahrscheinlich einen ähnlichen Koller bekommen wie Audrey 😀
Der Übergang von Vila de Conde nach Rates führt entlang wenig befahrener Landstraßen und ist nicht der schönste Abschnitt, aber danach wird man mit Feldern, Wäldern, immer mal wieder kleinen An-/Abstiegen und Dörfern und hübschen Kleinstädten belohnt.
Wenn noch Fragen sind, sagt gern Bescheid 🙂
LG,
Kati
Danke für die Rückmeldung! Es dürfte also eine Frage des Durchhaltevermögens sein, ob man den Weg nicht schon nach zwei Tagen abbricht und zur Küste läuft. Dass An- und Abstiege dabei sind, finde ich gut, da hat man ab und an auch mal eine brauchbare Aussicht übers Land.
LG
Bernhard
Die schöne Brücke gibt es leider nicht mehr. Im Pilgerforum habe ich eben ein Foto gesehen – man müsste jetzt schon gut schwimmen können:
https://www.daspilgerforum.de/viewtopic.php?p=6054#p6054
Ach wie schade! Sie war einer der Gründe für diese Strecke. Ich hatte das Bild im Outdoor gesehen und war gleich schockverliebt. Und danke für den Hinweis – immer gut, wenn die Infos hier halbwegs aktuell sind 😊