Caminho Portugues #5: Von Viana nach Caminha

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Tag 5 auf dem portugiesischen Jakobsweg von Viana nach Caminha: Ich übe mich in einer zweieinhalbstündigen Nulldiät, genieße die Eukapolypse, schließe Frieden mit dem Meer, fühle mich wie Lawrence von Arabien, nur leider ohne Kamel und versinke mit einem gutaussehenden Kerl in einem Swimmingpool aus Gin Tonic (7. Mai 2017, 28 Kilometer)

Der Frühaufsteherwahnsinn findet auch an diesem Morgen seine Daseinsberechtigung. Um halb fünf kramen schon wieder die Ersten. Ich trage es mit Fassung und erhebe mich schließlich ebenfalls. Morgenstund hat ja bekanntlich Gold im Mund und außerdem hängen wir hier in Portugal der regulären Uhrzeit um eine Stunde hinterher. So früh ist es also gar nicht.

Die Schönen, die Reichen und die Hungrigen

Ich starte allein. Die einen sind schon los, die anderen schlafen heute aus. Mucksmäuschenstill (oder so gut das machbar ist) entfleuche ich dem Pumakäfig. Es gibt einfach nichts ekligeres, als nach dem Verlassen eines viel zu kleinen Raumes, in dem zehn Menschen den Sauerstoff verbraten haben, diesen erneut zu betreten. Lässt sich nur leider nicht vermeiden, denn ich habe mich erst im Bad fertig gemacht und muss nun noch einmal hinein, um meinen Kram zu holen.

Um zwanzig nach sechs verlasse ich Viana und sehe wie schon gestern vorerst niemanden. Schließlich ist Sonntag. Da wird ausgeschlafen. Ich mag es, die Landschaft für mich alleine zu haben, wenn der Tag anbricht.

Tagesanbruch hinter Viana do Castello, Caminho Portugues
Es wird langsam hell, während ich Viana do Castello hinter mir lasse

Kurz verlaufe ich mich in Viana, doch schnell findet sich der Weg zurück auf den Caminho und schon bald wird es naturbelassen. Ich scheine mich in der Nähe der Reichen und Schönen zu befinden. Nicht, dass ich jemanden sehe, aber die Palacios, die durch das Grün zu erahnen sind, fallen nicht gerade durch vornehme Zurückhaltung auf.

Portugiesischer Jakobsweg, Etappe 5 von Viana nach Caminha
Prunkvolles Eingangstor – ob dahinter ein Schloss auf mich wartet?

Zu gern würde ich hier irgendwo einkehren, doch bin ich Realist genug, um nach anderthalb Stunden zu erahnen, dass hier nirgends ein Kaffee für das Nata-Törtchen auf mich wartet, das ich seit gestern mit mir herumtrage. Da müsste ich schon bei dem ein oder anderen Gutsherren anklopfen.

Auf romantischen Schleichwegen Caminha entgegen

Lieber bleibe ich auf schmalen, aber sicheren Schleichwegen, denn von den Villas schlägt mir nicht selten das wenig einladende Gebell ihrer vierbeinigen Bewacher entgegen. Der Caminho ist heute wirklich bombastisch mit seinen verschlungenen Wegen, flankiert von alten Mauerstücken, Wald und dazwischen immer wieder kleinen Örtchen mit bunten Fassaden.

Romantik entlang des Weges. Im Herbst gibt es hier sicher einiges an Obst entlang des Weges.

Nulldiät 2.5

Nach zwei Stunden erreiche ich gegen halb neun den Ort Carreçó, der in einer in einem Hang gelegene Grünanlage ein paar Bänke vorzuweisen hat und offensichtlich als Picknickplatz genutzt wird. Auch wenn es erneut keine Chance auf Kaffee gibt, gönne ich mir eine kleine Pause. Es ist an der Zeit.

Während ich genüsslich mein trockenes Nata mit etwas Wasser runterspüle, beobachte ich, wie ein ums andere Auto vorbeifährt. Was ist denn hier los? Die Rushhour aus dem Nichts überrascht mich doch sehr. Als ausgemachtes Schweinchen Schlau kombiniere ich messerscharf: sonntags, viertel vor neun, alle Insassen sehen sehr adrett aus, viele nicken mir zu, manche grüßen sogar (was übrigens erst seit zwei Tagen der Fall ist – vorher wurde ich immer angeschaut, als laufe ich nicht ganz rund). Zurück zu meiner Miss Marple Minute: Hier muss irgendwo die Kirche sein, schlussfolgere ich. Man ist auf dem Weg zum Gottesdienst.

Und tatsächlich. Als ich mich nach einer Viertelstunde in Bewegung setze, dauert es nicht lang, bis ich an ihr vorbeilaufe. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, dem Gottesdienst beizuwohnen, entscheide mich aber nach einem vorwurfsvollen Magenknurren dagegen. Es soll heute warm werden, und 28 Kilometer laufen sich bekanntlich nicht von selbst.

Der liebe Gott scheint es mir nicht übel zu nehmen, denn kaum bin ich den Kirchenhügel hinabgestiegen, finde ich versteckt eine klitzekleine Bar, die eigentlich eher ein Kiosk ist. Ein paar ältere Herren stehen beisammen. Ich stelle mir vor, wie sie ihre Angetrauten an der Kirche abgesetzt haben, um jetzt ihren Stammtisch abzuhalten. Sehr freundlich werde ich begrüßt. Kein Wunder, senke ich den Altersdurchschnitt doch schlagartig um 30 Jahre.

Der Herr hinter dem Minitresen scheint ein Herz für kleine Pilger zu haben. Er freut sich, als meine Augen beim Anblick seiner Kaffeemaschine einen überirdischen Glanz bekommen. Natürlich habe er einen Galao für mich, und etwas zu Essen gäbe es ebenso. Das sonnenbeschienene Mauerstückchen gleich gegenüber scheint mir besser als jeder Stuhl. Ich bin kurzfristig im Himmel.

Nach zweieinhalb Stunden und zehn Kilometern ist meine Nulldiät hiermit offiziell beendet. Eine Toilette und ein Stempel runden mein Happening ab und ich kann mich guten Gewissens an die verbliebenen 18 Kilometer machen.

Durch die Eukapolypse ans Meer

Der nächste Abschnitt beschert mir große Freude, zumal ich freundlich mit den besten Wünschen auf einem Stein begrüßt werde.

Wegweiser auf dem Caminho Portugues
Bom Caminho geht immer

Es geht weiter durch Eukalyptus, vorbei an Trockenmauern mit Blick auf Herrenhäuser aus vergangenen Zeiten. Meine Phantasie geht mal wieder mit mir durch, während ich mir ausmale, wie es hinter den Wänden aussehen mag und was sich hier einst für Feste und Begebenheiten zugetragen haben müssen.

Portugiesischer Jakobsweg, Etappe 5 von Viana nach Caminha
Immer wieder schimmern imposante Herrenhäuser hinter Mauern hervor.

Um halb elf sehe ich das Meer in der Ferne glitzern. Anders als an den ersten Tagen meiner Reise erfüllt mich sein Anblick diesmal mit purer Freude. Es ist wirklich herrlich, wenn es nicht so schwül ist und einem monotone Holzplanken erspart bleiben.

Traumkulisse auf dem portugiesischen Jakobsweg Caminho Portugues
Das Kreuz mit der wohl schönsten Aussicht

Ich mache an einer Bank Pause und setze mich neben Chrissie, eine deutsche Pilgerin in meinem Alter. Sie erzählt mir, dass sie den Weg mit ihrer Mutter gehe. Diese sei schon über alle Berge, verrät die Tochter grinsend. Als sie beiläufig fallen lässt, dass sie gestern in Viana beim Friseur war, ist mir schlagartig klar, wen ich vor mir habe. Chrissie ist die Tochter der Dame, die gestern in der Herberge so aufgeregt war, weil sie Betten für zwei Personen brauchte und dann auch noch zu meiner großen Erheiterung nach Jakobsmuskeln fragte.

Etappe 5 von Viana do Castello nach Caminha. Fluss kurz vor Via Praia
Fluss-Idylle vor Via Praia de Âncora – am liebsten würde ich kurz kneipen

Kurz führt der Caminho an einem Fluss vorbei, dann dauert es nur noch zwanzig Minuten, bis ich in Via Praia de Âncora ankomme. Auch hier scheint gerade ein Blumenfest zu sein, denn die Fassade der Kirche ist üppig dekoriert.

Kirche von Via Praia Âncora am portugiesischen Jakobsweg
Ein Blumenportal für die Kirche in Via Praia Âncora

Friedensvertrag mit dem Meer

Ich besorge mir Obst und eine eiskalte Dose Eistee in einem nahegelegenen Supermarkt. Während ich meine Beute verstaue, spricht mich ein Herr an. Ob ich Pilgerin sei und einen Stempel wolle? Ich freue mich über sein Engagement, und reiche ihm mein Credencial in Erwartung eines hübschen Eintrags. Was soll ich sagen – das Ergebnis ist ausbaufähig. Damit habe ich heute bereits den zweiten unspektakulären Nachweis gesammelt, denn auch der Stempel aus der Minibar von heute Morgen ist nicht gerade ein Schmuckstück.

Nicht jeder Stempel ist ein Highlight, so viel steht fest 🙂

Der nette Mann rät mir, den offiziellen Caminho an dieser Stelle zu verlassen und eine Abkürzung zum Meer zu nehmen. Dann könne ich direkt an ihm entlang weiterlaufen. Gern befolge ich seinen Rat und bin wenig später vom Anblick geplättet.

Traumhafte Bucht in Via Praia Ancora, Caminho Portugues
Diese traumhafte Bucht in Ancora schreit geradezu nach Strandurlaub.

Die Bucht aus feinstem Sand und die kleine Marina sind ausgemachte Postkartenmotive. Am liebsten würde ich mich gemütlich in die Sonne legen und später ein Ründchen schwimmen gehen. Das ist ein absolutes Strandurlaubsparadies.

Ich genieße das Urlaubsfeeling und erfreue mich zum ersten Mal am Golf von Biskaya. Meine Stimmung heute ist nicht mehr im Ansatz mit der Übellaunigkeit der ersten Tage zu vergleichen. Schnell unterzeichnen das Meer und ich unseren Friedensvertrag.

Die Marinha von Vila Praia Ancora am Caminho Portugues
Die kleine Marinha von Ancora

Nachdem ich das Zentrum verlassen habe, finde ich eine Bank an der Strandpromenade, auf der ich es mir mit meinen Supermarktschätzen mit Blick aufs Meer bequem mache. Schuhe aus, Socken aus, Beine hoch.

So lässt es sich doch wirklich gut aushalten.

Ich muss noch mal an meinen Kollegen denken, der mir vor vier Tagen via WhatsApp einen ziemlichen Einlauf verpasste, als er mich anwies, doch bitte endlich aufzuhören, mich zu beschweren und das Meer zu genießen. Heute ist es ein Leichtes. Ich schicke ihm meinen Schnappschuss und einer Unmenge von Grinsesmileys. Er wird es schon verstehen.

Portal ins Unbekannte

Als ich nach einer halben Stunde wieder unterwegs bin, hat der Caminho noch einmal eine kleine Kuriosität für mich parat. In einem winzigen Wäldchen finde ich zu meiner großen Erleichterung kurz Schatten. Inzwischen hat mich die Mittagssonne nämlich ordentlich im Griff. Kaum in den Wald hinein bin ich auch schon wieder hinaus. Kurz denke ich, ich hätte einen Sonnenstich.

Zu meiner Linken steht plötzlich ein Gatter. Es befindet sich mitten auf der Wiese. Irgendwo im Nirgendwo. Völlig ohne Kontext, Sinn oder Verstand. Weit und breit kein Gebäude in Sicht.

Eingangstor ohne Eingang oder doch ein geheimnisvolles Portal ins Nirgendwo?

Ich stelle es mir als ein geheimnisvolles Portal vor. Wenn man hindurch geht, landet man an einem verwunschenen Ort. Das Experiment unterlasse ich dann aber doch lieber und bleibe auf meinem Caminho.

Lawrence von Arabien ohne Kamel

Im Wald lege ich noch schnell einen kleinen, ungesehenen Striptease hin und wechsle mein Oberteil. Ich brauche etwas mit Ärmeln. Die schulterfreien Tops, die ich eigentlich immer trage, sind bei diesen Temperaturen nicht sonderlich empfehlenswert. Der Rucksack scheuert auf der verschwitzten, nackten Haut. Anschließend ist es gleich besser, und ich bin gerüstet für die letzten fünf Kilometer. Glaube ich zumindest.

Fünf Kilometer, oder bei meinem Tempo ungefähr eine Stunde und 15 Minuten. Das sollte doch entspannt machbar sein? Es ist halb zwei. Die Sonne feiert ihr Dasein. Sie duldet keine Missachtung und dröhnt volle Fahrt voraus auf mich herunter. Vor mir liegt eine schnurgerade Straße, und der Caminho verläuft auf dem Fahrradweg. Schatten gibt es nicht.

Ich habe vielleicht gerade mal einen Kilometer geschafft, da komme ich mir schon vor wie Lawrence of Arabia. In meinem Kopf singen Schlagerbarden von brennend heißem Wüstensand. Ich lechze nach einer weiteren Dose eiskalter Limonade. Wo ist ein Kamel, wenn man es braucht? Ich fühle mich an die Pilgerautobahn vom letzten Jahr auf dem Francés erinnert. Damals musste ich mich ähnlich durch sengende Hitze über schnurgeradeaus laufenden Asphalt quälen, nur dass ich damals mit meinem Brass nicht alleine war.

So schnell, wie die ersten 23 Kilometer verflogen sind, so zäh vergehen die letzten fünf. Ich erkämpfe mir jeden Schritt, schleppe mich zunehmend dahin. Es ist so beschwerlich, dass ich mehr als anderthalb Stunden benötige, die sich noch dazu wie drei Stunden anfühlen. Die Bäume, die gepflanzt wurden, stehen momentan auf der falschen Seite des Weges, denn sie werfen in der Mittagssonne keinerlei Schatten.

Als ich den Ortseingang von Caminha um drei auf meinem ausgedörrten Zahnfleisch erreiche, freue ich mich zu früh. Der Caminho verläuft von hier noch weitere 20 Minuten auf viel zu schmalen Bürgersteigen durch die Hitze. Dann bin ich endlich am Ziel. Nachdem ich an einem beeindruckenden Wehrturm, dem Torre do Relogio, vorbeigelaufen bin, gelange ich an einen hübschen Platz mit vielen Cafés und falle völlig fertig auf eine Parkbank.

Alle gehen, ich bleibe

Ich werde hier nicht weggehen, bis ich wieder halbwegs hergestellt bin. Die Herberge läuft mir schon nicht weg. Es ist ja noch vergleichsweise früh. Mein Bett bekomme ich sicherlich auch in einer Stunde. Und so beobachte ich das Treiben um mich herum. Viele Locals, wenig Pilger. Hübsch ist es hier.

Nachdem ich wieder halbwegs bei Kräften bin, breche ich auf in Richtung der Herberge, die etwas außerhalb des Ortes liegt und sich als alles andere als aufregend herausstellt. Der Schlafsaal befindet sich im Keller einer ehemaligen Schule. Der Hospitalero nimmt mich mit auf die obligatorische Führung durch die Räumlichkeiten. Er scheint überrascht zu sein, als ich sofort ein Bett aussuche und keine Anstalten mache, wieder zu gehen. Ob ich bleiben würde, fragt er. Ich nicke verwundert.

Ich bin dankbar, aus der Sonne heraus zu sein und genieße die herrliche Kühle hier unten. Nach 28 Kilometern laufe ich heute ganz sicher nirgendwo mehr hin. Die Duschen habe ich dann auch ganz für mich allein. Anschließend fühle ich mich schnell wieder fit. Die Magie des Duschens verwundert mich immer wieder. Sie vermag, meinen Akku binnen kürzester Zeit wieder aufzuladen.

Für mich ist sonnenklar, dass ich zu dem kleinen Platz zurück will, um mich um mein leibliches Wohl zu kümmern. Inzwischen ist auch Pilger Nummer Zwei eingetroffen, ebenfalls deutsch, ebenfalls im Eimer. Als ich gerade aufbrechen will, vernehme ich plötzlich eine vertraute Stimme. Und tatsächlich, wenige Minuten später schaue ich in das verschmitzte Gesicht und die funkelnden Augen Tinas aus Tschechien. Mit ihr habe ich gar nicht gerechnet.

Die Freude ist beidseitig, hält aber nur kurz an. Tina will noch weiter an der Küste entlang gehen und wird dazu gleich mit einem Boot auf die andere Seite nach Spanien übersetzen. Sie macht hier nur kurz Pause. Ich bin ein wenig traurig, dass ich sie so schnell wieder verlieren werde. Wer weiß, wann sich unsere Wege wieder treffen. Andererseits habe ich letztes Jahr so viele Leute immer wieder aus den Augen verloren und dann doch wiedergetroffen, dass ich auch bei Tina guter Hoffnung bin.

Caminho Crush in Caminha

Nach einem Bom Caminho und einer Umarmung für den tschechischen Sonnenschein, mache auch ich mich vom Acker. Ich biege gerade aus der Straße der Herberge in Richtung Stadtzentrum ab, als mir ein gutaussehender Typ in meinem Alter mit Rucksack entgegenkommt. Offensichtlich bin ich noch nicht ganz Herr meiner Sinne. Ich strahle ihn jedenfalls im Vorbeigehen völlig selig an. Er schaut etwas verdutzt, während ich mich frage, ob ich eigentlich noch ganz dicht bin.

Schnell setze ich meinen Weg fort, komme aber nicht umhin, mich zu fragen, ob er meine Herberge anpeilt und dort bleiben wird. Nein, ich werde nicht zurückgehen, um ihn davon zu überzeugen, dass das eine grandiose Idee wäre. Was sein soll, wird sein. Das wäre ziemlich lächerlich.

Kurze Zeit später sitze ich mit meinem Sagres-Bier auf dem Dorfplatz. Der Hamburger in Sandwichform ist bereits in Arbeit. Meine Hitzepickel erleben ein kleines Revival. Sie scheinen aus einer Kombination von Schweiß und Unzufriedenheit zu erwachsen. Immer dann, wenn mir der Caminho beschwerlich erscheint, tauchen sie als Fuß- bzw. Beinnote auf und unterstreichen meinen Gemütszustand.

Caminho Feierabend in Caminha
Verdienter Tagesausklang auf dem idyllischen Marktplatz in Caminha.

Ein Swimmingpool voll Gin

Nachdem ich den Hamburger in kürzester Zeit eingeatmet habe, macht sich das übliche Fresskoma breit. Ich könnte sofort schlafen, wäre es nicht noch so früh. Aber halb sechs ist bei aller Liebe absolut keine Option. Während ich mich frage, was ich mit meiner vielen Zeit anstelle, entdecke ich plötzlich Mr. Gutaussehend auf dem Platz. Diesmal ist er ohne Rucksack, dafür aber in Begleitung des deutschen Pilgers, der als Nummer Zwei in die Herberge eingelaufen ist.

Die beiden stehen etwas unschlüssig herum, sehen mich aber nicht und setzen sich auf die andere Seite des Platzes. Ich wollte ja sowieso weiter, denke ich, wieso dann nicht einfach mal das Café wechseln? Wenig später begrüße ich den deutschen Pilger wie einen lange vermissten Freund. Dem anderen sage ich ganz beiläufig Hallo und hoffe, dass er sich nicht an die Irre erinnert, die ihn von einem bis zum anderen Ohr grinsend kurz vor der Herberge begrüßt hat. Der Deutsche scheint von meiner Herzlichkeit leicht verwundert, bietet mir aber sofort einen Platz am Tisch an. Ich lasse mich nicht lange bitten und löse damit noch ganz nebenbei ein Kommunikationsproblem, denn der Deutsche spricht nur wenig Englisch, während Mr. Gutaussehend ausschließlich selbiges im Angebot hat.

Schnell erfahre ich mehr über ihn. Sein Name ist Hugh und er kommt aus Australien. Tasmanien, um genau zu sein. Er hat gerade seinen Camino Frances beendet und nach einem kurzen Abstecher nach Madrid und Marokko entschieden, dass er mit dem Jakobsweg noch nicht fertig ist. So läuft er nun gleich noch einen. Das Gefühl, nicht ankommen zu wollen, ist mir aus dem letzten Jahr noch sehr vertraut. Wenn man so lange gelaufen ist, bekommt man ein wenig Alltagsabneigung, vielleicht auch Angst, wie es weitergehen soll.

Zu meiner großen Freude entdecke ich meinen spanischen Lieblingsgin Nordes, eine meiner nachhaltigsten Camino-Erfahrungen aus 2016, auf der Karte. Dieses Elixier aus Galizien hat es mir mit seinem Orangenflavour angetan, seit ich ihn das erste Mal ca. 200 km vor Santiago probiert habe. Hugh, offen für Neues, schließt sich gerne an. Wenig später sitzt jeder von uns vor einem Swimmingpool voll Gin Tonic.

Wenn das Glas größer als der Kopf ist – ich bin Gin und weg

In Gedanken stoße ich auf Kati an. Meine liebe Mitpilgerin aus dem letzten Jahr hat gestern Santiago erreicht, nachdem sie im Vorjahr abbrechen musste. Auch diesmal hatte sie zu kämpfen, hat es aber mit ein wenig Unterstützung geschafft. Ich bin wahnsinnig stolz auf sie.

Marathon Man

Mein australischer Freund ist nach dem ersten Schluck begeistert. Toller Drink und überhaupt, toller Tag. Was ist er doch froh, heute ein Bett gefunden zu haben. Das sah gestern ganz anders aus. Da musste er 53 Kilometer laufen. Dem deutschen Pilger und mir fällt alles aus dem Gesicht. 53 Kilometer? So voll, dass man eine solche Strecke laufen müsste, kam es uns bisher gar nicht vor! Hugh erzählt uns von seinem unfreiwilligen Marathon.

Als er gestern nach 27 Kilometern bereits zur Mittagszeit sein Ziel erreichte, schien es ihm zu früh, um aufzuhören. Er fühlte sich noch fit und wollte noch ein wenig weiter. Dummerweise hat er für den Caminho Portugues keinen Reiseführer. Vom Francés kannte er es nicht anders, als dass eigentlich alle drei bis fünf Kilometer eine Herberge kommt. Nicht so auf dem Stück, auf dem er gestern unterwegs war. Die nächste Unterkunft kam erst nach weiteren 25 (!) Kilometern.

Als wäre das nicht schon schlimm genug, ging die Pechsträhne des Australiers weiter, denn die Herberge im Ort war voll. Das gleiche galt für die umliegenden Hostels. Weil er wirklich nicht mehr konnte, nächtigte er in einem Apartment für Sage und Schreibe 100 Euro, was ihm einen unfreiwillig heftigen Knacks in der Urlaubskasse bescherte. Unser hiesiger Hospitalero sei über seine Begeisterung für die simple Albergue total verwundert gewesen, meint er grinsend. Aber ein Bett für unter 10 Euro schien ihm einfach perfekt. Unser Hospitalero scheint heute seinen Glückstag zu haben, denke ich, während ich mich an seine Freude, das ich bleiben wollte, erinnere.

Wiedersehen mit Caminho-Freunden

Wir sitzen noch eine Zeit zusammen, dann geht es zurück in die Herberge, die sich inzwischen ordentlich gefüllt hat. Fast alle Betten sind belegt. Zwischen den Pilgern entdecke ich zwei alte Bekannte: Peter aus Salzburg und Toni aus Barcelona, die gestern in der gleichen Unterkunft wie ich waren. Peter wollte eigentlich heute abreisen. Als ich ihn verwundert frage, wie wir zu der Ehre kämen, erzählt er mir, dass er noch spontan um einen Tag verlängert habe. Das sei die überhaupt beste Entscheidung gewesen. Heute sei er mit Toni zusammen am Strand entlanggelaufen. Die beiden waren sogar schwimmen, berichtet er begeistert.

Zusammen mit Hugh und zwei Ukrainerinnen, die ihren Frizzante mit mir teilen, sitzen wir bis weit nach zehn am Tisch zusammen. Es gibt unendlich viel zu lachen, zumindest für uns. Diejenigen, die schon schlafen wollen, bedanken sich vermutlich für die Ruhestörung, aber netterweise beschwert sich niemand. Ich schaue mir unsere internationale Runde an und atme innerlich durch. Endlich habe ich meinen Camino zurück.

Zähneputzen für die Lunge

Toni spendiert mir draußen eine Mentholzigarette. Die habe ich ewig nicht mehr geraucht und bin total angetan von der Kühle, die sich Zug um Zug in mir ausbreitet. Er drehe immer selbst, sagt Toni, außer abends, da rauche er eine Mentholkippe. Das sei dann das Zähneputzen für die Lunge.

Dann erzählt mir der Spanier in Ermangelung vieler englischer Vokabeln mit Händen und Füßen von sich. Er habe vor ein paar Jahren (vielleicht auch Monaten?) einen radikalen Cut gemacht. Nach einem Leben mit viel Geld, Drogen und Partys sei es ihm zu viel geworden. Toni konnte mit den leeren Gestalten, die er seine Freunde nannte, nichts mehr anfangen und kappte von heute auf morgen alle Bande. Seitdem sei er auf der Suche. Nach sich, nach seinem Leben, nach dem Sinn.

Erst vor ein paar Wochen habe er sich spontan entschieden, diesen Lebenswandel durch eine Zäsur zu unterstreichen und sei die Via de la Plata, rund 1000 Kilometer von Sevilla nach Santiago, gelaufen. Als er vor einer knappen Woche dort ankam, erkannte er, dass er noch nicht so weit sei, in sein Leben zurückzukehren und so entschied er, einfach weiter zu gehen. Spontan fuhr er von Santiago nach Porto und startete den Jakobsweg dort.

Es ist wirklich krass. Er ist heute schon der Zweite, der mir erzählt, dass er den ersten Camino um einen weiteren verlängert hat. Nach dieser Kurzzusammenfassung seines Lebens gehen wir alle ins Bett. Morgen will ich in die Grenzstadt Valença. Damit sind dann die ersten 100 km geknackt, und Spanien ist nur noch einen Steinwurf entfernt. Ich bin gespannt, ob ich die anderen wiedersehen werde.

 

Kommentare und Feedback

Kennst du das Gefühl, dass man manchmal wie von selbst läuft und lange Strecken kurz erscheinen, während ein eintöniges Stück sich ewig in die Länge zieht? Ich höre dann immer Musik und lasse mich bestenfalls von den Rhythmen mitreißen. Alternativ zähle ich Schritte. Was ist dein Trick gegen die Tristesse?

Warst du auch auf diesem Stück des Caminho Portugues unterwegs? Was hast du dort erlebt? Ich freue mich wie immer sehr über deine Nachricht.

Zeitreise

Vorwärts: Möchtest du wissen, wie es weitergeht? Dann komm mit mir von Caminha nach Valença, wo der Tag mit einem Drama in drei Akten startet und dann quer durch den Gemüsegarten und den Supermarkt auf den illegalen Pfaden der Autonomen zur Herberge mit einem berühmten, deutschen Autoren führt.

Rückwärts: Du fragst dich, was Jakobsmuskeln sind und was ich gestern mit Toni und Peter bereits erlebt habe? Dann komm noch mal mit von Marinhas nach Viana do Castelo und sei dabei, wenn ich mich mit meiner Blase und meinem früheren Leben als Koala beschäftige, einen kleinen Regentanz aufführe und ein Bett im Emergency Room ergattere.

Hast du den Anfang verpasst? Dann starte mit mir im schönen Porto.

12 Gedanken zu „Caminho Portugues #5: Von Viana nach Caminha&8220;

  1. Wie gewohnt ein sehr unterhaltsamer Beitrag, bei dem sich mir die Frage aufdrängt, ob du dann auch zur Abkühlung ins Glas gesprungen bist.
    Sollte ich einmal ein eintöniges Stück Weg überwinden müssen, denke ich meist an etwas Schönes oder – wenn Vorbegeher Bilder veröffentlicht haben -mich an die Fotos zu erinnern, wie etwa: Ja, das müsste hier gewesen sein…
    Lg und weiter so,
    Bernhard

  2. Schön, dass ich selbst in deinem Portugiesischen Weg einen Platz finde 😘 ich erinnere mich sogar noch an das Gin-Bild als Fern-Prost 😊

    1. Für wichtige Menschen ist eben immer Platz, Schatz.
      Wo du schon mal da bist, kannst du dir mal Bernds Anfrage unten anschauen? Er wollte wissen, wie der Weg durchs Landesinnere war. Merci 😉

  3. Liebe Audrey,Ihr „Roman“ war wieder sehr spannend, ich sehe immer alles sehr lebendig vor mir, macht Spaß zu lesen….

    1. Das freut mich, Vera. Sonntag geht es weiter. Und ansonsten gibt es ja noch den ein oder anderen schon „fertigen“ Roman, falls zwischendurch Langeweile aufkommt

  4. Ich werde mich aus meiner Rolle als regelmäßiger Leser deiner Camino-Berichte für ca 6 Wochen verabschieden…. Warum wohl – freue mich auf den Camino Frances…
    Deine Geschichten haben mir noch mehr Lust gemacht und deine Idee der „stillen“ WhatsApp Gruppe habe ich aufgegriffen. Weiter so mit dem tollen Blog!

    1. Ich wünsche dir eine tolle Zeit, Norbert. Lass dich voll darauf ein. Meine Berichte laufen Dir ja nicht weg.
      Buen Camino

  5. Moin Audrey, bei einer Internetrecherche zu den Themen ‚Stille‘, ‚Ruhe‘ etc. pp. stieß ich gestern ausgesprochen zufällig auf Deinen Caminho-Blog. Der ist großartig: Flott und wahr geschrieben, keck und humorig, an- und aufrührend, tiefgründig und herzerwärmend. Was für eine Mühe – danke Dir dafür!
    Vor nunmehr 13 Jahren stieg ich auf Sylt aufs Fahrrad und landete gute sieben Wochen später in Santiago de Compostela – obwohl das gar nicht mein eigentliches Reiseziel war. Bereits über eintausend Kilometer vor St. Jean Pied de Port stieß ich nämlich auf erste Jakobspilger… Begegnungen, die mir offenbarten, daß es gar nicht die lange Radtour war, die ich suchte, sondern eher die Begegnung mit Schicksalsgenossen, mit denen ich mich austauschen konnte, der ich gerade durch den Tod meiner Mutter aus der Spur geworfen worden war. Also bog ich ab nach St. Jean und blieb von da auf dem Frances. In Santiago angekommen, komplett leergestrampelt und sieben Kilogramm leichter, wusste – nein spürte ich, daß ich am Ziel angelangt war. Es war alles ein ganz großes Kino, eines der großen Erlebnisse meines Lebens. 

    In den Jahren darauf gönnte ich mir jeweils 10 bis 14 Tage, den Frances etappenweise per pedes zu bepilgern, und 2020 im Juni sollte es dann der Caminho Portugues werden – den ich unmittelbar vorm Abflug wegen Corona canceln musste.

    Nun lese ich Deine Intensiven Tagesberichte und bin gefesselt, gerührt, einfach angefasst von Deinen so ehrlich dokumentierten Gefühlen und Erlebnissen. Deine ersten Tage erinnern mich im Detail an meine Pilgertour über den Somportpass, die ich auch antrat weil ich etwas suchte, ohne zu wissen, was ich brauchte… ein Fehler, den ich erst jetzt beim Lesen Deiner Zeilen nachspüren konnte.

    Eines steht fest: In Fisterra angekommen, wechsel’ ich zu Deinem Frances-Tagebuch – und im kommenden Frühsommer hole ich dann den Caminho höchstselbst nach.

    Danke für alles, Hans

Und was sagst Du?