Fremdgehen mit… Katalin, 36, Berlin

In der ersten Ausgabe von „Fremdgehen mit“ erzählt Katalin, 36, aus Berlin uns von der jährlichen Camino-Sucht, frühzeitigen Diagnosen, vier Jahreszeiten an einem Tag, Love Actually vor der Kathedrale, zitternden Kleiderschränken, den "Simple Things" und der Kraft der Camino-Family. #Camino #Erfahrungsbericht #Blogprojekt #Jakobsweg #Caminofrances #Caminhoportugues #Caminoingles #Schwarmintelligenz #läuftbeiihr

“Fremdgehen mit Katalin” – oder von jährlicher Camino-Sucht, frühzeitigen Diagnosen, vier Jahreszeiten an einem Tag, Love Actually vor der Kathedrale, dem Wind ins Gesicht brüllen, zitternden Kleiderschränken, den „Simple Things“ und der Kraft der Camino-Family.

 

Wer ist Katalin und wie kommt sie ins Wanderland?

Kati ist bis heute eine meiner liebsten Camino-Begegnungen. Als wir uns im Mai 2016 im Anstieg an einen Berg auf der siebten Etappe meines Camino Frances auf einem Mäuerchen in Villamayor de Monjardín kennenlernen, ahne ich nicht, dass mir hier eine künftige Freundin über den Weg läuft.

Kati, die eigentlich Katalin heißt, und ich laufen ab diesem Moment siebeneinhalb Tage (in Menschenjahren siebeneinhalb Jahre) zusammen und erzählen uns unterwegs unser Leben, kringeln uns vor Lachen, lästern über Exfreunde, crushen im Bett Candies und trinken uns abends die Anstrengungen des Tages schön, bis sie ihr schmerzender Fuß in den Bus nach Burgos zwingt.

Zwei Tage später verbringen wir noch gemeinsam anderthalb legendäre Pausentage in Burgos, wo sie mich nach meinem schlimmsten Tag auf dem Frances mit Duschgel und Croissants im Hotel aufpäppelt.

Unvergessen sicher auch der Moment, als wir uns nach dem Camino erstmals in Berlin in normalen Klamotten gegenüberstehen und uns gegenseitig feiern, weil wir uns für so unglaublich gut aussehend befinden, nach all den Outdoor-Outfits. Die Freundschaft hat bis heute Bestand, und wir stehen uns sehr nah.

Freundlicherweise hat sich diese tolle Frau erklärt, mein Blog-Projekt “Fremdgehen mit…” nicht nur zu unterstützen, sondern auch gleich zu eröffnen. Insofern bitte ich um einen gebührenden Trommelwirbel für die Nummer Eins.

Harte Fakten & Standardfragen

Alle Pilger, die sich in diesem Projekt zu Wort melden, werden mir fünf feststehende Fragen beantworten und natürlich kurz verraten, wer sie sind und wann sie auf welchem/n Camino/s unterwegs waren.

Dann schauen wir uns doch mal an, mit wem wir es heute zu tun haben.

Katalin am Ende der Welt in Finisterre
Glückliche Kati am Ziel in Finisterre

Wer bist du?

Katalin, 36 Jahre alt, aus Berlin

Welche Caminos bist du wann gelaufen?

  • Camino Frances von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Burgos (Mai 2016, ca. 300km)
  • Fortsetzung Camino Frances von Burgos nach Santiago de Compostela (April/Mai 2017, ca. 500km)
  • Camino Ingles & Camino Finisterre von Ferrol über Santiago de Compostela und Fisterra nach Muxia (September 2018, insg. ca. 250km)
  • Caminho Portugues von Porto nach Santiago de Compostela (April 2019, ca. 260km)

Mit wem warst du unterwegs?

Ich bin grundsätzlich allein gestartet, habe unterwegs aber immer schnell Leute gefunden.

Wieso bist du den Jakobsweg gegangen?

Kurz gesagt: Abenteuerlust, meine Mutti und irgendwas, was ich damals noch nicht definieren konnte.

Die Langversion klingt in etwa so: 2013 erkrankte meine Mutter an Krebs. Selbstverständlich nutzte ich die nächsten zweieinhalb Jahre meinen Urlaub, um ihr zur Seite zu stehen. OP, Chemo, Bestrahlung und Reha sind vielleicht schnell überstanden (ein Jahr), doch die Langzeitfolgen und die Wiedereingewöhnung in den Alltag werden von vielen unterschätzt.

Erst im November 2015 gönnte ich mir mal wieder eine Woche nur für mich und machte einen Wanderurlaub auf La Gomera. Ich genoss die Freiheit und die Zeit für mich. Meine Reise- und Abenteuerlust war geweckt! Was nun? Zunächst schwebten mir ähnliche Touren oder auch ein dreiwöchiger Abenteuerurlaub in Kanada für 2016 vor.

Um den Jahreswechsel kristallisierte sich dann aber immer mehr die Idee heraus, eine längere Auszeit zu nehmen und den Jakobsweg zu laufen. Meine Mutter war immer gern mit ihren Freundinnen auf kleineren Wandertouren unterwegs. Nun fehlte ihr dazu die nötige Fitness. Ich hingegen war gerade erst begeistert von einem Wanderurlaub zurück. Warum also nicht DEN Weg für uns beide laufen?

Einzig die Tatsache, dass ich erst drei Monate zuvor in ein neues Team gewechselt war, bereitete mir Sorge. Würde mein Chef mich nach so kurzer Zeit schon freistellen? Getreu dem Motto “Wer nicht wagt, der nicht gewinnt” ging ich also im Januar 2016 mit meinem (wenigen) gesammelten Wissen über den Jakobsweg zu meinem Chef und fragte ihn nach der Möglichkeit einer Auszeit für Mai. Und siehe da: er fand die Idee gut und genehmigte mir ohne Umschweife sieben Wochen Sabbatical ab Ende April. Das Abenteuer würde also wirklich losgehen!

Das waren zwei der Gründe, die mich auf den Camino schickten. Relativ schnell philosophierte ich jedoch bereits entlang des Weges, dass sich der wahre Grund meiner Pilgerreise wohl erst mit meiner Ankunft in Santiago offenbaren würde.

Der allererste Tag auf dem Camino: Rechts noch ganz frisch in SJPdP und links nach den ersten Kilometern durch Regen und Schnee

Was war dein schönster Moment?

Es gab so unendlich viele schöne Momente auf dem Jakobsweg.

Andächtige Momente, wenn ich der Sonne mal wieder beim Aufgehen zusehen durfte und das Land um mich herum zum Leben erwachte, spirituelle Momente bei der ein oder anderen Pilgermesse, lustige Momente, wenn sich ein Tag oder Abend mal wieder anfühlte wie eine Klassenfahrt für Erwachsene, erschöpfte Momente wie die Ankunft in Roncesvalles am allerersten Tag und natürlich auch die Momente, die in dem Augenblick traurig waren, aber im Rückblick wunderschön sind, weil sie so viel bedeuten.

Bis heute das Hintergrundbild meines Handys. Der Blick zurück ins “Tal” nach dem Anstieg hinter Castrojeriz

Aber der mit Abstand schönste Moment von allen ist eindeutig meine Ankunft in Santiago am 06.05.2017!

Was war dein schlimmstes Erlebnis?

Meine Verletzungen.

Ja, richtig gelesen. Wir reden hier in der Mehrzahl, denn nicht nur 2016, als ich mit Audrey unterwegs war, auch 2017 endete mein Jakobsweg mit einer Verletzung.

Für beide Jahre kann ich noch ganz genau sagen, wo und wann der Schmerz in meinen Knöcheln soweit war, dass ich nicht mehr laufen konnte. Diese Orte werden für mich immer mit einem besonderen Gefühl behaftet sein.

Der schwierigste Moment war aber wohl, als ich 2016 die Entscheidung treffen musste, nicht mehr weiterzulaufen. Ich hatte bereits drei Tage in Burgos pausiert, und mein Fuß fühlte sich besser an. Ich hatte beim Laufen keinen ziehenden Schmerz mehr im Knöchel. Also startete ich wieder mit Audrey. Allerdings hatte ich das Gewicht meines Rucksacks unterschätzt.

Mit jedem Schritt der elf Kilometer nach Tardajos wurde es wieder schlimmer. So schlimm, dass ich die Entscheidung traf, umzukehren und einen Arzt zu konsultieren. Ein paar Senioren fuhren mich netterweise ins Krankenhaus nach Burgos. Ich war so dankbar, aber auch fix und fertig. Keine Ahnung wie oft ich “Muchas Gracias” mit tränenerfüllter Stimme flüsterte.

Als ich ein Jahr später exakt diesen Abschnitt am ersten Tag meines 2017er Caminos lief, konnte ich mich an die Schmerzen und die Tränen entlang des Weges im Vorjahr sehr gut erinnern. Diesmal kamen mir die Tränen vor lauter Rührung und wegen des Gefühls der Leichtigkeit, mit dem ich beschwingt die ersten elf Kilometer meines zweiten Jakobswegs lief.

Zurück ins Jahr 2016. Im Krankenhaus von Burgos angekommen, versuchten die Schwestern mit Pantomime (ich spreche bis heute kein Spanisch) aus mir herauszukriegen, ob ich gestürzt, umgeknickt oder ähnliches sei. Ich konnte alles verneinen. Also wurde kein Röntgenbild gemacht. Im eigentlichen Untersuchungszimmer sprach auch der behandelnde Arzt kein Englisch, also holte er kurzerhand eine Kollegin, die übersetzen musste. Der Arzt diagnostizierte vollkommen überlastete Muskeln und verordnete eine Woche Pause, bevor ich weiterlaufen könnte.

Bereits vor Abflug hatte ich mir gesagt, dass ich, sollten Kopf oder Füße nicht mehr laufen wollen, eine Rundreise durch Spanien machen würde. Genau das tat ich nun auch. Ich fuhr mit dem Bus nach Santander, um dort am Meer meinen Fuß auszukurieren und nach einer Woche auf den Weg zurückzukehren. Genug Zeit hatte ich schließlich. Leider (oder vielleicht auch Gott sei Dank) war mein Fuß anderer Meinung. Nach vier Tagen Santander fuhr ich weiter nach San Sebastián und später nach Saragossa.

In Saragossa fiel die finale Entscheidung, den Camino für 2016 abzuhaken und von Barcelona aus nach Hause zu fliegen. Zwei Wochen nachdem ich aus Burgos aufgebrochen war, flog ich also zurück nach Deutschland. Hier würde sich endlich ein Arzt, dessen Sprache ich auch verstand, nochmal in Ruhe meinen Fuß anschauen.

Wie war das Ankommen in Santiago für dich?

Ich weiß bis heute nicht, wie ich das geschafft habe. Auch 2017 verletzte ich mich. Diesmal am anderen Fuß und das auch noch so kurz vor Santiago. Ich konnte (und wollte) aber nicht schon wieder scheitern.

Meine Camino Family unterstütze mich in der Entscheidung, die letzten Meter zu laufen – entweder die letzten 500 Meter oder vielleicht sogar fünf Kilometer. Ich nahm das Taxi zum Monte do Gozo und wartete dort auf meine Family. Fünf Kilometer waren mein Plan. Mit einer ordentlichen Ladung Ibuprofen würde ich es im Schneckentempo schon zur Kathedrale schaffen. Selbstredend hatte ich natürlich meine Rucksack auf den Schultern. Ein paar Kilo mehr oder weniger auf dem kaputten Fuß würden jetzt auch keinen Unterschied mehr machen (*kopfschüttel*).

Mit jedem Meter, den wir näher kamen, wurden wir Fünf ruhiger. Jeder ließ seinen Camino noch einmal Revue passieren. Händchenhaltend liefen wir schließlich auf den Platz, ließen uns fallen und waren erstmal von unseren Gefühlen übermannt. Erst nach 15 Minuten lagen wir uns gegenseitig in den Armen und feierten uns.

Ein Niederländer, ein Portugiese, eine Deutsche, ein Kanadier und eine Amerikanerin – oder auch meine Camino Family 2017! Erschöpft und traurig, aber glücklich nach unserer Ankunft in Santiago.

Meine Gefühle fuhren Achterbahn: Glück, Stolz, Schmerz, Liebe, Trauer – da war alles dabei! Vor allem immer wieder die Frage: “Wie habe ich diese letzten Kilometer geschafft?” Heute würde ich sagen, es war die Mischung aus Willenskraft, Adrenalinkick, Ibuprofen und dem Glaube meiner Camino Family sowie von Familie und Freunden zuhause.

Jedes Mal, wenn ich seitdem in Santiago ankomme, überkommen mich wieder die Erinnerungen und Gefühle von damals. Es ist ein unglaublicher Stolz, der mich erfüllt, sowie jede Menge Wertschätzung und Liebe. Für mich selbst und für andere Pilger. Ich liebe es auf dem Praza do Obradoiro vor der Kathedrale zu sitzen, die Menschen zu beobachten und ihre Gefühle aufzusaugen. Es erinnert mich an das Intro des Films “Tatsächlich Liebe” (Love Actually), in dem die Gefühle in der Ankunftshalle eines Flughafens beschrieben werden.

Der Jakobsweg in fünf Hashtags

#Leben! Mit allem was dazu gehört: #Liebe, #Lachen, #Schmerz und #Trauer

 

Die Qual der Wahl-Fragen

Kommen wir zu den fünf Fragen, die Kati sich aus einer Liste von 20 Fragen ausgesucht hat. Damit es von Woche zu Woche ein wenig Abwechslung gibt, sind die nämlich jedem Pilger selbst überlassen.

Inwieweit hat dich der Weg verändert?

Die wohl wichtigste Veränderung ist die Diagnose, die ich nach meinem Camino 2017 bekommen habe.

Als ich 2016 vom Jakobsweg zurückkam, ging ich natürlich zum Orthopäden. Da ich erst nach gut zwei Wochen einen Termin bekam und mittlerweile wieder recht gut zu Fuß unterwegs war, konnte er nur einen Verdacht auf ein Gangliom (Kapselausstülpung) äußern. Um das aber mit hundertprozentiger Sicherheit zu sagen, schickte er mich zum MRT. Selbst in Berlin findet sich dafür nicht so schnell ein Termin.

Also bekam ich die finale Diagnose erst sechs Wochen nach meiner Rückkehr, als ich schon längst wieder schmerzfrei laufen konnte: ich hatte einen Ermüdungsbruch im linken Knöchel und das vermutete Gangliom. Was so eine Vermeidungshaltung dank Blase am Fuß nicht alles als Ergebnis haben kann! Damit hatte ich definitiv nicht gerechnet. Ein bisschen Physio war das einzige Rezept, und das Thema wäre erledigt.

Als dann ein gutes Jahr später auf dem Camino mein rechter Knöchel anfing wehzutun (ganz ohne Blase oder Schonhaltung), hatte ich relativ schnell die Befürchtung, dass es wieder ein Ermüdungsbruch sein könnte. Dabei war ich diesmal bewusster gelaufen, war vorher schon fitter, wog weniger und mein Rucksack war auch leichter. Ich redete mir also ein, dass es das nicht sein könne. Diesmal zog der Schmerz ja auch nicht über den Spann, sondern um den Knöchel in Richtung Schienbein.

Kurze Zeit später ging nichts mehr, und ich wusste eigentlich, was es war. Zum Arzt wollte ich in Santiago trotzdem nicht. Was sollte der schon machen? Und nach meiner Rückkehr würde das auch noch reichen. Ich konnte ja schließlich noch laufen. Nur eben langsam und leicht humpelnd.

Nach meiner Rückkehr ging ich zum Orthopäden, der mich wieder zum MRT überwies. Sechs Wochen später lief ich beschwerdefrei zum MRT rein und bekam wieder die Diagnose Ermüdungsbruch. (Dass ich am Wochenende zuvor schon wieder 60 Kilometer durch den Harz gewandert war und sogar überlegt hatte, den MRT-Termin zu canceln, verschwieg ich dem Arzt).

Zweimal Camino und zweimal Ermüdungsbruch ergaben für mich keinen Sinn, dazu war ich zu jung und fit. Außerdem habe ich ganz andere Formate den Jakobsweg ohne Blessuren laufen sehen. Der Orthopäde war allerdings der Meinung, dass ich für eine Ursachenforschung zu jung wäre und einfach aufhören sollte, den Camino zu laufen. Das war keine Option. Also wechselte ich zu einer anderen Ärztin. Sie wählte auch die Worte “Sie sind zu jung dafür”, meinte aber die Brüche und schickte mich konsequenterweise zur Knochendichtemessung. Und Tadaa: Ich habe eine Vorstufe der Osteoporose!

Jetzt wusste ich also auch, wo die Brüche herkamen. Es machte einfach alles Sinn. Ohne den Weg wüsste ich das bis heute nicht, denn in der Familie liegt es nicht. Das Thema Gesundheit hat seitdem eine noch stärkere Bedeutung für mich. Nicht, dass die Vorgeschichte mit meiner Mutti nicht schon ihren Teil dazu beigetragen hätte, jetzt war es mein eigener Körper, der auf sich aufmerksam machte.

Im August steht die erste Knochendichtemessung seit 2017 auf dem Plan, und ich hoffe, dass die bisherige Behandlung sich positiv ausgewirkt hat. Das würde mich meinem Traum, den Camino Frances noch einmal am Stück zu laufen, sehr viel näher bringen.

PS: Inwiefern mich der Weg in meiner Selbstfindung verändert hat, spare ich mir für ein “Fremdgehen mit …” 2.0 auf 🙂

2016, auf dem Weg nach Santo Domingo de la Calzada, als die Welt noch in Ordnung war. Es ist eins meiner Lieblingsbilder aller Caminos. Wobei die Ehre dem Fotografen gebührt – (a.k.a. Audrey im Wanderland). Auch wenn wir zusammen unterwegs waren, liefen wir nicht immer zusammen, so dass sie unbemerkt diesen Schnappschuss machen konnte.

Wie erging es dir, als du wieder zuhause warst?

Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, fühle ich mich wieder geerdet. Materielle Dinge sind nicht mehr so wichtig. Meine Schränke zittern vermutlich bei jedem meiner Urlaube, welcher als nächstes der unweigerlich kommenden Entrümpelungsaktion zum Opfer fallen wird. Sei es der Kleiderschrank, der Schreibtisch oder die Abstellkammer… Im Laufe eines Jahres sammelt sich doch wieder einiges Überflüssiges an.

Auch mein Magen muss sich wieder an den sozialen Zwang der Mittagspause gewöhnen. Auf dem Camino esse ich viel mehr nach Hungergefühl als zu Hause. Ich ernähre mich unterwegs zwar meist ungesünder, aber esse dennoch weniger. Kas Limon, Schweineohren (das Gebäck) oder M&Ms Peanuts sind in Spanien beispielsweise Tagesprogramm.

Insgesamt bin ich mir selbst und vieler Dinge in meiner direkten Umgebung deutlich bewusster. Diesen Zustand versuche ich, so lange wie möglich zu erhalten.

Welcher Mensch hat dich am meisten bewegt und warum?

Ursula. Sie war die erste Pilgerin, deren Geschichte mich bewegt hat und von der ich bis heute erzähle. Audrey hat unsere Begegnung auch in ihrem Blog festgehalten. Sie hatten den Krebs schon zweimal besiegt und hatte der Krankheit gegenüber eine unglaublich positive Attitüde. Mit ihren (geschätzten) 70 Jahren lief sie den Camino Frances bereits zum fünften Mal. Ursula wollte den Camino insgesamt sechs Mal laufen; alle zwei Jahre die kompletten 800 km. Warum genau sechs Mal wusste sie auch nicht mehr.

Neben ihrem Alter bewegte mich ihre Willensstärke und Kraft. Dass man mit ihrer Krankheitsgeschichte, ihrem Alter und ihrer Fitness noch so abenteuerlustig, lebensfroh und weltoffen ist, hat mich tief beeindruckt. Sie rührte mich damals zu Tränen. Ich hoffe, sie hat 2016 und auch 2018 ihr Ziel erreicht und ist wohlauf.

Bus oder Beine? Läufst du jeden Zentimeter oder überspringst du auch schon mal?

Meine Gesundheit geht über meinen Stolz (auch wenn es dennoch an ihm kratzt). Also habe ich 2017 auch mal hässliche Industriegebiete in eine Stadt rein mit dem Bus übersprungen. 2018 und 2019 waren meine Touren jeweils nicht länger als 14 Tage. Daher habe ich auf diesen Wegen nichts überspringen müssen. Gesundheitsbedingt durfte allerdings mein Rucksack ab und zu mal Taxi fahren, während ich mit Tagesrucksack längere Etappen lief. So werde ich das auch weiterhin handhaben.

2016 war es für mich zunächst undenkbar, und ich habe alle mit Tagesrucksack als unwürdige Pilger abgetan (oder wie Audrey sagen würde Tourigrinos). Aber der Camino lehrt einen, nicht zu schnell zu urteilen. Jeder hat seine eigene Geschichte. Und seit ich 2017 meiner Camino Family von Audreys Wortspielchen erzählte und selbst irgendwann Taxi fahren musste, habe ich bei meinem Lieblingsportugiesen den Spitznamen “Taxigrina” weg.

Welches Naturspektakel begleitet dich noch heute?

Es sind eigentlich drei Naturspektakel, von denen ich noch heute berichte.

Nummer Eins hatte ich gleich an meinem allerersten Tag auf dem Camino 2016. Es sieht bereits nach Regen aus, als ich SJPDP verlasse. Kaum aus der Stadt hinaus, kommt mein Regencape zum Einsatz. Je höher wir kommen, desto mehr verwandelt sich der Regen in Hagel und Schnee. Mein Halstuch ziehe ich bis über die Nase, die Ärmel und den Poncho zerre ich so gut es geht über meine Hände, und der Wind drückt mir den Poncho halb ins Gesicht, so dass ich mit eingeschränktem Sichtfeld durch die Berge laufe.

Vom wunderschönen Pyrenäenpanorama erzählt mir Audrey, die nur einen Tag früher bei allerschönstem Wetter hier war, ein paar Tage später. Mein Tag war hauptsächlich nass. Aber zusammen mit einigen anderen Pilgern haben wir es gut nach Roncesvalles geschafft.

Das zweite “Naturspektakel” hatte ich 2017 in der Meseta. Bei nur fünf Grad startete ich morgens um halb sieben in Carrion de los Condes auf die 18 Kilometer lange Strecke. Ich trug alle drei Lagen langärmeliger Kleidung, die ich dabei hatte, übereinander. Nur auf den Poncho verzichtete ich. Der hätte sich bei dem Wind vermutlich in einen Drachen verwandelt und mich weggeblasen.

Die Sonne strahlte den ganzen Tag am blauen Himmel, und der Wind pfiff permanent von links über den Weg und direkt in mein Ohr. Stirnband und Kapuze nahm ich den ganzen Tag nicht ab. Da ich alleine unterwegs war und die Meseta keine Abwechslung bietet, war mir der Wind so bewusst wie noch nie. Er ging mir zum Ende des Tages so dermaßen auf den Geist, dass ich mich irgendwann umdrehte, ihn direkt anschaute und laut anbrüllte, er solle doch endlich seine Klappe halten.

Was soll ich sagen… dem Wind war mein Gebrüll egal, aber ich fühlte mich erleichtert.

Das dritte Naturspektakel ereignete sich vom 29. auf den 30. April 2017 rund um O’Cebreiro. Innerhalb von 24 Stunden ging ich mit meiner Camino Family durch alle vier Jahreszeiten. Während des Einmarsches nach Galicien schien noch die Sonne, und wir kamen in kurzen Hosen in O’Cebreiro an. Bereits am Abend zog es sich zu und wurde herbstlich. Am nächsten Morgen blieb der Herbst und verwandelte sich schließlich während unseres Anstiegs zum Alto de San Roque (da, wo die Pilgerfigur steht) in Winter.

Unser Aufstieg zum Alto do San Roque (hinter O’Cebreiro). Ganz links im blauen Ganzkörperkondom bin ich, daneben ein Teil meiner Camino Family

In der Mittagspause hatten wir sogar so viel Schnee, dass wir uns kurz eine Schneeballschlacht lieferten. Beim Abstieg nach Triacastela ließ der Schnee wieder nach und ging in leichten Regen und frühlingshaften Sonnenschein über.

Und aus diesem Schneemann wurden kurze Zeit später ein paar Bälle für unsere Schneeballschlacht.

Was war dein Camino-Soundtrack?

Joe Cockers “The simple things” ist einer meiner liebsten Songs auf dem Camino. Diesen Song habe ich beispielsweise 2017 in Ambasmestos gehört.

Mit meiner Camino Family waren wir in der Herberge von Irina und Sergej, die einen eigenen Forellenteich und einen großen Garten mit Hängematten haben. Ich saß dort nachmittags in der Sonne und war komplett in dem Moment versunken – sozusagen in den simple things: der Sonne, dem Wasser, den Fischen, der Natur, der Family usw. Der Tag endete mit einem wunderschönen Dinner mit frisch geräucherten Forellen, selbstgebackenem Kuchen und hausgemachter Sangria von Irina. Die Sterne und der Mond glitzerten am Himmel und spiegelten sich im Wasser. Ein perfekter Tag.

Seit 2017 sammle ich jedes Lied, das mir entlang des Weges in den Kopf kommt oder das ich mit anderen Peregrinos gesungen habe, in einer Playlist. So kann ich mich jederzeit wieder in Camino-Stimmung versetzen und Camino-Momente zu Hause erneut durchleben.

“Letzte Worte” bzw. was willst du anderen Pilgern mit auf den Weg geben?

Jeder Schritt vorwärts zählt, egal wie klein er ist!

 

Kommentare, Fragen und Feedback

Wie hat euch Katalins Geschichte gefallen? Musstet ihr auch bei ihren Verletzungen schlucken? Und ist es nicht toll, dass sie sich wieder aufgerappelt hat und seitdem jedes Jahr auf dem Camino unterwegs war?

Habt ihr Fragen an Kati? Schreibt sie gern in die Kommentarfelder. Ich bin mir sicher, auch Kati wird ein Auge auf diesen Beitrag haben.

Lust auf mehr Fremdgehen? Alle Gastbeiträge findet ihr hier

Möchtet ihr vielleicht selbst mitmachen und eure Geschichte auf diese Weise teilen? Dann meldet euch gern – sei es hier auf dem Blog, auf Facebook oder per Mail an audreyimwanderland@gmail.com. 

 

Ihr seid hier heute zufällig gelandet und würdet gern en detail wissen, wie so ein Jakobsweg funktioniert, dann könnt ihr Etappe für Etappe sämtliche meiner Reisen nachlesen. Hier kommt ihr zu meinem Camino Frances, Caminho Portugues und zum Mosel-Camino. Und wer sich lieber auf Pfaden ohne gelbe Pfeile bewegen will, dem empfehle ich den Rheinsteig oder den Harzer Hexenstieg. Da war es nämlich auch sehr schön.

22 Gedanken zu „Fremdgehen mit… Katalin, 36, Berlin&8220;

  1. Super – hier hat Katalin Maßstäbe gesetzt! Toller Bericht zum genießen. Das ist der Camino. Respekt, wie sie mit den Verletzungen umgeht 👍🏻.
    Nicht unterkriegen lassen.
    Danke

  2. Hallo Audrey und Kati,. Dein Bericht Kati ist unglaublich mitreißend. Man spürt auch bei dir beim lesen diese Energie des Caminos. Liebe Grüße aus meinem kleinen Urlaub Katharina 😘😘😘

    1. Danke, Katharina! Es freut mich, dass der Camino-Spirit spürbar ist. Meine Aufregung vorher, ob mein Bericht bei Audrey‘s Publikum Anklang findet, war ganz umsonst. ☺️

    2. Liebe Katharina,
      ich freue mich (sicher mindestens so sehr wie Kati), dass das so gut ankommt und hoffe, dass es auch künftig gut weitergeht, damit die Energie des Caminos allsonntäglich schelmisch um die Ecke lukt.
      Schönen Sonntag,
      Audrey

  3. Liebe Katalin! Danke für deinen faszinierenden Beitrag über „deinen“ Camino.
    Liebe Audrey, ich melde mich, wenn ich soweit bin mitzumachen! Ich finde die Idee echt toll.
    Liebe Grüße Maria

    1. Liebe Maria,
      es wäre mir eine absolute Früde, wenn du dich darauf einlassen würdest. Gerade meine eigenen Camino-Freunde sind für mich das Tüpfelchen auf dem I.
      Melde dich bitte, wenn dir danach ist.
      Audrey

  4. Liebe Katalin, dein Bericht geht mir sehr unter die Haut. Ich bin 2011 bis Burgos gekommen und musste wegen einer Verletzung umkehren. Vor 2 Monaten habe ich mich entschieden weiter zugehen. Die Gruppe bei Fb mit den tollen Menschen, deren Berichten von ihren Wegen und nun deine Geschichte, motivieren und versetzen mich ins Jahr 2011 und ich bekomme Gänsehaut vor Freude !

    Herzlichen Dank dafür 😉

    Alles liebe, Bine

    1. Liebe Bine,
      ich freue mich sehr, dass dir Katis Bericht so gut gefallen hat. Ich hoffe, dass es hier wöchentlich tolle Berichte von tollen Pilgern geben wird, die dich und andere Leser auf ihren Camino zurückversetzen.
      Schön, dass du dich gemeldet hast – Audrey

    2. Liebe Bine,
      es freut mich sehr, dass dir mein Bericht unter die Haut geht. Und noch mehr, dass du nach 8 Jahren die Motivation gefunden hast deinen Camino weiterzulaufen. Glaube mir, es lohnt sich! Ich drücke dir die Daumen, dass du es unverletzt nach Santiago schaffst. Buen Camino!! 🙂
      LG, Katalin

  5. Liebe Katalin,

    vielen, vielen Dank für Deinen Beitrag! Ich habe mir auch gleich Audreys Beiträge noch einmal durchgelesen, zusammen ergibt das ein ganz grandioses Bild des Camino.

    Ich bin unglaublich dankbar, dass ich, obwohl nicht wirklich fit, auf meinem Weg vor größeren Blessuren verschont geblieben bin. Wie andere, natürlich auch Du, mit Ihren Verletzungen oder teilweise schlimmen Krankheiten umgehen und sich nicht unterkriegen lassen, finde ich daher umso bewundernswerter.

    Viele Grüße
    Stefan

    1. Hall Stefan,
      da wird sich Audrey aber freuen, dass ihre anderen Berichte gleich auch nochmal gelesen werden 🙂
      Es freut mich, dass dir mein Bericht gefällt. Und dass du den Camino gelaufen bist, obwohl du nicht wirklich fit bist. Der Camino ist schließlich für jeden da und kein Rennen der Topfiten 🙂
      LG,
      Katalin

  6. Liebe Katalin, danke für Deinen offenen Bericht. Ich bin selbst leider von ähnlichem Verletzungsrisiko geplagt (bei mir ist es allerdings das „richtige“ Alter…), aber Deine Geschichte ermuntert mich, den Weg trotzdem zu gehen, egal was passieren wird. Danke dafür, SonjaM

    1. Liebe Sonja,
      vielen Dank für deine Antwort. Ich freue mich, dass ich dich mit meinem Bericht ermutigen konnte, den Weg trotz Verletzungsrisiko zu gehen.
      Erinner dich an meine „letzten Worte“: Egal ob kurze Tagesetappen oder nur eine oder zwei Wochen Camino… Jeder Schritt zählt, egal wie klein er ist! Glaube mir, das ist es wert 🙂
      GLG, Katalin

  7. Liebe Audrey & unbekannterweise (jetzt ja nicht mehr so ganz nach diesem schönen Sonntags-Blog) Katalin! Mein diesjähriger Camino hat mir Audrey ins Leben gebracht und es ist wunderbar sich zur Camino-Familie zählen zu düfen. Zuerst war ich ein bisschen traurig weil ich dachte dass ein Sonntag ohne Bericht von Audrey einfach nicht vollständig ist. ABER es geht ja munter weiter: Danke Euch! Ich kann es kaum erwarten 2020 dann endlich selber am Ziel anzukommen und in der zwischenzeit freu ich mich weiterhin auf jeden Bericht.

    1. Willkommen in der Camino-Familie, Marie!
      Freut mich, dass mein Bericht deinen Sonntag doch vollständig gemacht hat. Ich bin gespannt, wie es mir die nächsten Wochen mit den anderen Berichten geht. Vielleicht dann irgendwann auch mit einem „Fremdgehen mit Marie“ 😉
      LG

  8. Das hat mich gleich wieder 3 Monate zurück und auf den Camino versetzt. Wie sehr der einen packt, merkt man doch erst hinterher! Danke für die tolle und aufrichtige Geschichte!
    Liebe Grüße, Barbara

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