Camino Finisterre #1: Von Santiago nach Negreira

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Tag 12 & 13 auf dem Jakobsweg mit fliegenden Fässern, tschechischen Prophezeiungen, dem Anfang vom Ende und dem Anfang vom Neuanfang, Morgengymnastik an der Bar und Bauchübungen am Trimm-Dich-Pfad (14. & 15. Mai 2017, 23 Kilometer)

Ziemlich zerknittert nach viel zu wenig Schlaf warte ich darauf, dass Toni und Tina endlich aus dem Quark kommen. Sie brauchen eine gefühlte Ewigkeit. Meine Ungeduld findet einen herrlichen Nährboden auf meiner unausgeschlafenen, schlechten Laune. Drei Stunden reichen mir offensichtlich nicht.

Die beiden werden noch eine weitere Nacht in der abgelegenen Unterkunft bleiben, während mich mein Einzelzimmer in der Pension mit Blick auf die Kathedrale erwartet, das ich kaum erwarten kann. Nach unserem Pfützensprint gestern Nacht, sind meine Turnschuhe natürlich nach wie vor nass, so dass ich auch heute wieder in die Wanderstiefel steigen muss.

Das große Entlasten

Gemeinsam machen wir uns um halb elf endlich auf den Weg zur Kathedrale. Wir wollen zu dritt der feierlichen Zeremonie beiwohnen, bevor sich unsere Gruppe auflösen wird. Tina fährt morgen nach Hause, Toni und ich gehen nach Finisterre, allerdings voraussichtlich getrennt.

In der Altstadt parke ich die beiden in einem Café und bringe meinen Rucksack in die Pension. Auf dem Weg dorthin komme ich an dem Café vorbei, in dem mir die Schwedin Kristina letztes Jahr einen großen Schnaps bestellt hat, als ich untröstlich über Ankunft und Abschiede war. Ich schaue mit einem lachenden und einem weinenden Auge auf den Ort. Wie viel intensiver das alles letztes Jahr war, aber auch um wie viel trauriger.

In der Pension Alfonso empfängt mich die Inhaberin herzlich und erklärt mir mit Händen und Füßen, dass mein Zimmer zwar noch nicht fertig ist, ich aber gern meine Sachen hier lassen darf. Um meine Last befreit, kehre ich zum Café zurück und gönne mir auf dem Weg noch meine heißgeliebte Empanada mit Thunfisch, bevor es dann in die Kathedrale geht.

Fliegende Fässer

Wir sind eigentlich wirklich früh dran, fast eine Stunde vor Beginn und dennoch sind alle Plätze längst belegt. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als es uns im Gang bequem zu machen. Der dicke Sockel einer Säule bietet uns eine Art von Sitzmöglichkeit. Wir befinden uns gleich gegenüber des Ausgangs, aus dem die Priester kommen werden.

Das Prozedere der Messe hat sich mir völlig eingebrannt, obwohl ich es nur einmal erlebt habe. Als Erste tritt die ältere Nonne mit der wunderschönen Stimme nach vorn und übt die Gesänge mit uns. Wie beim letzten Mal entwickle ich sofort eine Gänsehaut. Dann eröffnen Scharen von Messdienern mit Kerzen, gefolgt von sechs Geistlichen, die Messe. Tina und ich stehen inzwischen auf Zehenspitzen auf unserem Sockel, die Säule im Rücken, und können alles sehen.

Mein Blick fällt während des Gottesdienstes immer wieder auf Krystina, die es zum ersten Mal erlebt. Mich bewegt ihre Ergriffenheit. Sie hat mir erzählt, dass einer ihrer besten Freunde Pfarrer ist und dass sie regelmäßig in die Kirche geht. Wenn Sie davon erzählt, klingt es nicht ansatzweise so angestaubt, wie ich es kenne. Eher wie ein besinnliches Treffen mit Freunden.

Als die Wandlung vollzogen wird, sinkt Tina wie schon in Herbón auf dem Steinboden auf die Knie. Ich kann nicht erklären, wieso mich das so sehr berührt, aber ich merke, wie meine Augen feucht werden. Als wir nach der Kommunion an unseren Platz zurückkehren wollen, hat sich dort eine kaugummikauende Dame breit gemacht, die keinerlei Anstalten macht, den Platz wieder herauszurücken, oder zumindest ein bisschen zu rücken.

Ich schlucke meinen Ärger spätestens dann hinunter, als ich sehe, wie sich die rotgewandeten Herren erheben, die für das Schwingen des Botafumeiro zuständig sind. Eine kleine Gänsehaut spaziert mir über den Rücken. Die Herren ziehen an der Holzkonstruktion, das riesige Weihrauchfass folgt dem Impuls und schnellt ein Stück nach oben. Dann ziehen sie immer und immer wieder, und es beginnt sich in Bewegung zu setzen.

Fast wirkt es wie eine Illusion

Wie beim letzten Mal setzt es auch in mir etwas in Bewegung. Ich kann es nicht gut erklären, aber die Leichtigkeit, mit der dieser massive Behälter von links nach rechts und immer höher schwebt, als wäre er eine Feder im Wind, hat für mich etwas Transzendentales.  Tränen schießen mir in die Augen. Ich bin angekommen. Ich bin da. Und ich fühle, wie jemand nach meiner Hand greift. Diesmal ist es Tina, die gerührt von mir ist und mir Halt gibt und den Moment intensiv mit mir teilt.

Als die Messe vorbei ist, nimmt sie mich lange in den Arm. Ich erfülle im Anschluss noch schnell eine Bitte aus meinem Heimatdorf. Meine Mutter hat eine gute Freundin, deren Enkel gerade an seiner Abschlussarbeit sitzt und die mich gebeten hat, ein Kerzchen für ihn anzuzünden. Leider gibt es hier nur die elektronischen Ersatzkerzen, die nach Einwurf von 50 Cent für eine bestimmte Zeit leuchten. In Ermangelung des passenden Kleingeldes  versenke ich zwei Euro und bringe damit den halben Stand zum Strahlen. Eine für den Enkel, eine für Mama, eine für Papa und eine für mich, denke ich mir.

Ausklang nach Maß

Im Anschluss begeben wir uns in die Tapas-Bar, in der ich letztes Jahr das große Glück hatte, sechs meiner liebsten Begleiter aus drei ganz unterschiedlichen Abschnitten des Weges um mich zu scharen. Wir bestellen einen Mix aus Kleinigkeiten und treffen  Joachim und seinen Sohn wieder, mit denen wir im Kloster Herbón waren.

Als wir satt sind, bricht Tina auf, um sich ihre Compostella zu holen. Mein Dokument besorge ich mir wann anders – die Schlange, an der wir vorbeigegangen sind, ist mir zu lang. Die Leute standen bis zur Straße. Ich habe vom letzten Jahr bereits ein Exemplar, da ist keine Eile geboten. Das „richtige“ Abschlusszertifikat ist für mich in diesem Jahr außerdem die Fisterrá, ein angeblich äußerst farbenfrohes Dokument, das die Ankunft am Ende der Welt bescheinigt.

So verziehe ich mich glücklich in mein kleines Reich, bewundere den Blick auf die Kathedrale, genieße die Stille und schlafe schnell ein. Ich habe offensichtlich einiges aufzuholen, denn ich wache erst wieder um 19 Uhr auf.

Blick aus meinem Zimmer im Hostal Alfonso

Ein letztes Mal treffe ich mich mit Tina zum Essen. Toni ist mit Inga, der litauischen Dame mit den fürchterlichen Blasen aus Emergency Room, unterwegs, verrät mir Tina. Mir ist das absolut Recht. Doch kaum haben wir uns für ein Restaurant entschieden, geht die Tür auf und Toni und Inga stehen vor uns. Manchmal ist es schon abenteuerlich, wie der Camino seinen Schabernack mit einem treibt. Entkommen ist nicht. Sie setzen sich jedoch woanders hin.

Am Tisch neben uns redet ein Deutscher auf einen Schweizer ein. Er hat eine nervige Fistelstimme und kichert zwischendurch hysterisch und befindet sich im Wettkampfmodus: wie viele Caminos der andere schon gelaufen sei, ob er auch Outdoor-Autoren Joos getroffen habe, ob dieser ihm ebenfalls etwas geschenkt habe? Er beendet das Gespräch mit den Worten, dass man sich sicher die nächsten Tage auf dem Weg nach Fisterra sehe. Ich schicke ein kleines Stoßgebet gen Himmel, das er mir bitte erspart bleiben möge. Gott sei Dank hat er keine Ahnung, dass ich dem gesamten Gespräch folgen konnte.

Die tschechische Prophezeiung

Tina hat mein Mienenspiel amüsiert verfolgt. Sie kennt mich inzwischen gut genug, um aus meinen hochgezogenen Augenbrauen meine Abneigung zu spüren. „Immer die Deutschen,“ murmele ich. Da hatte sie mehr Glück mit ihren Landesgenossen, erzählt sie mir, als sie stolz ein Foto ihrer Compostella präsentiert. Sie habe in der Warteschlange ein ganz wundervolles tschechisches Ehepaar getroffen. Tschechen sind nun nicht unbedingt die am stärksten vertretene Nationalität auf dem Camino, und so hätten sich alle drei sehr übereinander gefreut.

Die beiden würden genau wie ich nach Finisterre gehen, verrät mir Tina. Sie habe ihnen von mir erzählt und hoffe sehr, dass wir uns begegnen. Ich würde die beiden garantiert ebenfalls gleich in mein Herz schließen, sagt sie, es seien ganz herzliche Menschen. Ich werde später noch oft an diese Ankündigung denken.

Dann heißt es auch für uns beide entgültig Abschied nehmen. Tina war eine Bereicherung auf meinem Weg. Mir wird ihr verschmitztes Lächeln und ihre unbeschwerte Art fehlen.

Der Anfang vom Ende

Ich beende den Tag in der Bar von gestern Abend. Es gibt einiges im Tagebuch aufzuholen, und ich resümiere dabei vor mich hin. Ich bin so gespannt, was mich auf den letzten 93 Kilometern erwartet und was mich dann in den nächsten Monaten zuhause erwarten wird. In der Kathedrale habe ich mir selbst heute das Versprechen gegeben, maximal bis September in meiner Firma zu bleiben. Es reicht. Diese Erkenntnis habe ich mir auf den gut 250 Kilometern hierher kristallklar herausgelaufen.

Es waren nicht ausschließlich gute Tage auf dem Caminho Portugues. Wenn ich an meine Anlaufschwierigkeiten denke, die mich die ersten Tage begleitet haben, bin ich froh, dass sie genau diese Erleuchtung herbeigeführt haben. Wie immer spiegelt der Camino nur das, was man sowieso in sich hat. Und ich hatte offensichtlich eine ordentliche Portion Jobfrust in mir.

Und so freue ich mich, nun noch einmal die Chance auf einen neuen, kleinen Camino zu bekommen. Auf den 93 Kilometer bis Finisterre werden sich die Pilger noch einmal durchmischen. Es wird die geben, die vom Frances kommen, solche, die wie ich in Portugal gestartet sind und die Pilger vom Küstenweg und vom Primitivo. Ich will diese vier Tage vollkommen auskosten. Sie sind der Anfang vom Ende und gleichzeitig sind sie für mich der Anfang vom Neuanfang. Und damit schlafe ich selig ein.

Der Anfang vom Anfang

Elf Stunden später werde ich herrlich ausgeruht in meinem Bett mit Kathedralenblick wach. Es ist acht Uhr, und ich könnte Bäume ausreißen. Kein Schnarchen, kein Licht, nur Ruhe und Erholung. Derart energiegeladen mache ich mich um halb neun auf zum Pilgerbüro und hole mir meine Compostella im Rekordtempo von drei Minuten. Anders als beim letzten Mal hat der grummelige Herr am Schalterende offensichtlich keine Lust, Nachforschungen anzustellen, welcher Name sich hinter Audrey verbirgt (nämlich Adeltraut bzw. lateinisch Edeltruth). Er macht es sich denkbar leicht und stellt meine Urkunde einfach auf Andrea aus, geht ja auch schneller.

So fix kommt man also zu einem neuen Namen. Passt ja, zum Thema alles auf Anfang. Wobei ich mir dann vermutlich einen originelleren Namen auserkoren hätte. Um es abzukürzen – es könnte mir nicht egaler sein. Diese Compostella bedeutet mir nicht so viel, und ich finde es eher amüsant, dass sie falsch ist.

Im Hotel schaue ich mich nach dem Frühstücksraum um. Es gibt ganze zwei Tische, die beide belegt sind. Als ich vorsichtig frage, ob ich schon einmal einen Kaffee bekommen könnte, den ich draußen mit meiner Zigarette verhackstücken würde, kommt den Inhabern eine großartige Idee. Sie fragen mich, ob es mir draußen nicht zu kalt sei. Als ich verneine, wird kurzerhand der private Gartentisch für mich in einen üppigen Frühstückstisch verwandelt. Ich bekomme Kaffee, heiße Milch, frischgepressten Orangensaft, dazu Spiegeleier und Brot in rauen Mengen.

Als ich schon nicht mehr kann, bringt mir der nette Kellner mit einem Zwinkern noch eine Schale voller Kirschen.

Kein Entkommen

Um halb elf geht es los. Ich trenne mich wirklich nur ungern von meiner tollen Unterkunft, aber von selbst kommt ja bekanntermaßen niemand nach Fisterra. Ich habe Glück. Meine Unterkunft liegt quasi auf dem Weg. Ich stehe gerade an der Ampel, als ich hinter mir ein deutlich vernehmbares und sehr vertrautes „Oh come on!“ höre.

Ich muss mich gar nicht umdrehen. Ich weiß, wer da steht. Toni. Ich muss lachen, er auch. Wir wollten eigentlich beide alleine laufen, aber irgendwie scheint dem Camino-Gott die Trennung zu früh zu sein. Mit Blick auf meine Stöcke stöhnt Toni auf. Er habe geglaubt, einmal ohne das prägnante Tack-Tack meiner Gehhilfen durch den Tag zu kommen. Weit gefehlt.

Als die Unterhaltung nicht so richtig anläuft, lassen wir es einfach und gehen schweigsam in der Nähe des anderen weiter. Nach zwanzig Minuten habe ich noch mal einen tollen Blick auf Santiago.

Blick auf Santiago vom Camino Finisterre
Und schon wieder liegen einige Kilometer zwischen uns

Dann erwartet mich mein liebster Wald, Eukalyptus. Ich laufe heute wie von selbst. Der Ruhetag hat mir gut getan, und ich genieße die verschlungenen, kleinen Wege auf weichem Waldboden.

Mir kommt eine Engländerin entgegen. Sie laufe in die falsche Richtung sage ich augenzwinkernd, und sie erklärt mir, dass sie einfach noch nicht bereit war, aufzuhören als sie in Finisterre ankam und deswegen den Weg einfach noch mal zurückläuft.

Ich kann sie gut verstehen. So erging es mir letztes Jahr auch. Ich hätte ewig weiterlaufen können, allein fehlte mir die Zeit. Toni hingegen hat genau wie Hugh einfach noch einen Camino an den abgeschlossenen angehangen. Was ist es doch, dass der Jakobsweg mit uns allen anstellt? Die Lady gibt mir noch mit, dass mein Lächeln sie umgehauen habe und ich mit Sicherheit ein paar schöne Tage verleben werde.

Morgengymnastik und niederländische Welthits

Um zwölf bin ich schneller als gedacht in Quintas, wo ich eine kleine Pause im Café mache. Am Geländer neben der Bar stretchen sich gerade verschiedene Herren. Schönes Bild, wie ich finde, auch wenn sie ein wenig steif aussehen.

Um mich herum stöhnt jeder über die Hitze. Ich hingegen bin superfit. Kaum habe ich mir ein Plätzchen gesucht, taucht auch Toni auf. Am Tisch kommen wir ins Gespräch mit Georgie, einer jungen Rumänin. Sofort dudelt in meinem Kopf ungefragt die Jukebox mit dem gleichnamigen Lied der niederländischen Band Pussycat los, das ich bereits als Kind mochte.

Straßen- und Brückenidyllen

Der nächste Abschnitt schickt mich über recht viel Asphalt, durch kleine Ortschaften, die mit ihren langgezogenen Straßen geradeaus keinerlei Wegweiser bedürfen. Aufregend ist anders, aber ich bin ja Dank meines Ohrwurms in bester Begleitung von Georgie.

Auf dem Weg nach Finisterre
Auch das ist Camino

Die nächste Pause mache ich um halb drei in Ponte Maceira einem hübschen Örtchen mit alter Römerbrücke. Diese wirkt fast schon lächerlich imposant bei dem wenigen Wasser, das momentan hindurchfließt.

Alte Römerbrücke in Ponte Maceira auf dem Weg nach Finisterre

Vor Negreira, meiner heutigen Endstation, ist mir noch einmal ein wenig Wald vergönnt, dekoriert von einem Portal, das aussieht, als könne es Wünsche erfüllen. Ich sammle mich, wünsche mir einen friedlichen Ausklang des Weges, schöne Begegnungen und die Stärke, meine getroffenen Entscheidungen zuhause umsetzen zu können. Was soll ich sagen – genauso wird es kommen.

Im Bett mit Grummelgriesgram

Als ich um vier in der Albergue del Carmen ankomme, schlägt mir im Schlafsaal keine sonderlich gute Stimmung entgegen. Ich grüße freundlich, erhalte aber kaum Resonanz. Dafür schauen mich etliche, lange Gesichter leer an. Über so etwas kann ich mich ja direkt wieder ärgern, da hilft auch die ganze Camino-Gelassenheit nicht. Nach so vielen Tagen unterwegs, sollten die Leute die Grundregeln des Miteinanders doch nun wirklich beherrschen. Und dazu zählt, dass man grüßt, wenn jemand Neues in den Raum kommt.

Ihre schlechte Laune kann ich noch weniger verstehen. Das Stück bis Finisterre geht man doch nun wirklich nur aus purem Genuss. Niemand muss hierher laufen. Santiago ist geschafft. Wieso also ist man dann so mies drauf? Ich beziehe gerade mein oberes Stockbett, als ich höre, wie ein deutscher Mann im Bett gegenüber Verwünschungen vor sich hinmurmelt. Das sei doch alles scheiße, schließt er.

Dass ich ihn verstehe, lasse ich mir nicht anmerken. Jeder verarbeitet seinen Camino auf eigene Weise. Vielleicht hat er gerade den Camino Blues, so wie ich im letzten Jahr. Vielleicht ist es aber auch einfach nur ein grumpy old man. Ich finde ihn jedenfalls mega unsympathisch.

Ganz anders die beiden Herren aus Kanada, die die Betten unter mir haben. Mit den beiden entwickelt sich ein nettes Gespräch, das von Grummelgriesgram auf der anderen Seite aufmerksam verfolgt und kommentiert wird. Nirgendwo habe man seine Ruhe, schimpft er vor sich hin. Ich muss schmunzeln. Ruhe? Was zum Teufel? Es ist halb fünf! Dennoch liegt die Hälfte der Pilger schon wieder bräsig in ihren Betten. Kein Wunder, dass sie dann morgens um fünf wie von der Tarantel gestochen aufspringen.

Bauchübung am Trimm-dich-Pfad

Hungrig suche ich den nächsten Supermarkt. Mir ist heute nicht nach Pilger-Menu und mit den Miesepetern werde ich sicher nicht auch noch den Tisch teilen. Ich versorge mich mit Wasser, Bier, Empanadas, Käse, saure Erdbeer-Haribos und Kippen und schlendere durch den Ort. Einem Flüsschen folge ich hinter ein Neubaugebiet, wo ich einen Trimm-dich-Pfad finde.

Bauch- und Beinarbeit

Eigentlich hatte ich vor, mir eine Bank zu suchen, finde aber etwas sehr viel besseres: ein Gerät, mit dem man eigentlich an seinen Bauchmuskeln arbeitet, ist der perfekte Picknickplatz. Schließlich arbeite ich ja gerade ebenfalls an meinem Bauch – meine Hose ist schon wieder zu weit, das ist kein Zustand, da muss gegessen werden.

Füße hoch, Bier auf, snacke ich Käse und Co und spiele dazu entspannt eine Runde Candy Crush. Alter, ist das schön mal wieder alleine zu sein und ausschließlich das zu machen, wonach einem ist. Ich rufe noch zuhause an und lasse es mir mit mir selbst gutgehen.

Zeigen Sie mir einen glücklichen Menschen

Hola guapa

Als die Sonne sich verzieht, wird es langsam etwas kalt in Shorts und Top. Nach dem Umziehen (im Schlafsaal vegetiert 75% der Bewohner nach wie vor auf den Betten rum) setze ich mich mit meinem Tagebuch an den Tisch einer Bar auf dem Bürgersteig. Zu meinem Getränk bekomme ich wie so häufig kostenlos ein paar Tapas, in meinem Fall ein Stück Pizza mit Chips. So lässt es sich leben.

Ich fülle endlich die Lücken meines Tagebuchs und bin ganz versunken, als mich ein „Hola Guapa“ zurück in die Realität holt. Vor mir steht ein ca. zwölfjähriger Knirps, der mit Sicherheit einen älteren Bruder hat und mich feixend anschaut. Ich lache laut auf, worauf er sich auf dem Fuße umdreht und lieber Land gewinnt.

Als ich um halb zehn in die Herberge komme, ist es im Zimmer stockdunkel. Ich atme tief in den Bauch, um mich nicht erneut zu ärgern. Eigentlich lautet das ungeschriebene Camino-Gesetz, dass das Licht erst um zehn gelöscht wird und dass man es vor sieben morgens nicht anmacht. Ich bin eine halbe Stunde früher dran und muss nun im Dunkeln sämtliche Sachen, die ich dabei habe, irgenwie in meinen Stoffbeutel quetschen, anstatt den Rucksack für morgen vorzubereiten.

Gut dass ich inzwischen zumindest ein ausgeklügeltes System habe, alle Dinge, die ich vor dem Zubettgehen benötige, an die gleichen Stellen auf und am Bett zu platzieren. So finde ich zumindest, was ich benötige, um mich bettfertig zu machen. Erst dort fällt mir auf, dass ich Toni gar nicht mehr gesehen habe. Ich hatte eigentlich bis zum Schluss damit gerechnet, dass er mich aus dem Nachbarbett anschauen würde. Sollten sich unsere Wege hiermit also endlich wirklich getrennt haben?

 

Kommentare und Feedback

Warst du selbst einmal bei der Abschlussmesse in Santiago? Was hat dich am meisten berührt? Und kennst du das beruhigende Gefühl, den Weg noch fortsetzen zu dürfen und weitere drei oder vier Tage zur Verfügung zu haben, um dich auf das tatsächliche Ende vorzubereiten? Würdest du empfehlen, den Weg nach Finisterre noch zu laufen?

Wie immer freue ich mich über einen Kommentar von dir.

Zeitreise

Vorwärts: Sehe ich Toni noch mal wieder und wie wird die Nacht zwischen den ganzen grummeligen Leuten? Das findest du raus, wenn du mit mir von Negreira nach Olveiroa läufst, wo ich außerdem unfreiwillig erleuchtet werde, und als Cowgirl den unerhörten Wunsch nach Hitzefrei habe.

Rückwärts: Hast du unsere gestrige Ankunft verpasst, die um so vieles leichter war, als die im vergangenen Jahr? Dann komm noch einmal mit von Herbón nach Santiago und mache mit mir doppelte Strecke unter doppeltem Regenbogen, verlass dich auf Walter, folge einer koreanischen Vorahnung und entwickle mit mir eine kleine Runde Hass auf meinen spanischen Begleiter.

Zurück auf Los: Willst du das Abenteuer von Anfang an verfolgen? Dann folge mir hier nach Porto.

Hast du jetzt so viele Hinweise auf meinen ersten Jakobsweg gesammelt, dass du mehr wissen willst? Dann biege mit mir hier zurück auf den Camino Frances ab.

Ich muss das weitersagen

11 Gedanken zu „Camino Finisterre #1: Von Santiago nach Negreira&8220;

  1. Wenn du schreibst, tschechische Pilger wären auf dem Camino unterrepräsentiert, so kann ich mich beinahe glücklich schätzen, dass auf dem Jakobsweg durch die Schweiz einen solchen (mehrmals) getroffen habe. Danke dafür, dass du uns auch auf solche Details aufmerksam machst!

  2. Hallo Audrey,
    Dein Blog macht wie immer Lust auf mehr! Da fällt es mir umso schwerer, meinen Portugues auf das kommende Frühjahr verschieben zu müssen, weil mein Innenmeniskus meint, er müsse intensiv gepflegt werden. Aber naja – aufgeschoben, aufgehoben und so…

    Hattest Du Dir den Pilgerpass für den Weg nach Finesterre schon in D besorgt oder erst in Santiago?

    Grüße
    Stefan

    1. Ich brauchte ja keinen separaten, sondern habe einfach ab Santiago mit dem alten Credencial weitergestempelt 🙂

      Und schön zu hören, dass dir die Lektüre Spaß bereitet hat. Dann drücke ich die Daumen für schnelle Heilung.

      Audrey

      1. Ah, cool! Ich hatte im Netz irgendwo gelesen, dass es da einen eigenen gibt (bestimmt gibt es den auch), den man nutzen „muss“.
        Aber so ist es natürlich einfacher.

  3. Hallo Audrey,
    Vielen herzlichen Dank für Deine ausführlichen Beiträge. Habe vor einer Woche Deinen Blog entdeckt und bis eben gerade alles regelrecht verschlungen. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, den Camino sozusagen noch einmal zu gehen. Viele Deiner Fotos sind ähnlich denen, die ich gemacht habe. In Gedanken war ich oft „mit dabei“.
    Ehrlich gesagt, habe ich Deinen Blog lieber gelesen, als Hapes Buch.
    Mit den allerbesten Grüßen aus dem westlichen Speckgürtel Hamburgs und einem Buen Camino.
    // Heinz van de Wauw

    P.s. Kennst Du das Restaurant Portomarin in Eppendorf (Doroteenstraße)?

    1. Hallo Heinz,
      wow, das nenne ich mal beeindruckendes Feedback. Hape ist ja schon eine Hausnummer. Es ist großartig, wenn jemand einen noch mal mit auf den Weg nimmt. Das geht mir stellenweise auch so, wenn ich bei anderen mitlese. Und dann gibt er wieder Orte, an die ich mich gar nicht erinnere und mich frage, ob ich da wirklich gewesen bin.

      Portomarin in Eppendorf sagt mir nichts, wieso meinst du? Oder wegen des Namens?

      LG
      Audrey

      1. Das ist ein spanisches Restaurant..Jesus, der Inhaber kommt aus Portomarin. Er ist natürlich auch schon gepilgert. Vor ein paar Jahren gab es dort auch immer ein Menü de Peregrino.
        Daran musste ich denken, als ich Deinen Blog über Portomarin gelesen habe.
        Ich stürze mich jetzt erst einmal auf die #2 nach Finisterre.
        Bis dann // Buen Camino
        Heinz

  4. Hallöchen. Ich bin durchs Stöbern auf deine Beiträge gestoßen. Herrlich. Mein Mann (Portugiese😍)und ich planen September 2020 den Caminho Portugues zu laufen. Danke das du meine Vorfreude darauf mit deinen Erlebnissen begleitest😙👍

Und was sagst Du?