VI (Mosel-Camino) – Von Klausen nach Schweich

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Tag 6 auf dem Mosel-Camino von Klausen nach Schweich: ein Dorf wehrt sich gegen das Aussterben, Audrey vermisst einen Acker und erlebt ihr persönliches Watergate, und Weihnachten fällt dieses Jahr in den September – oder kurz: du sollst den Tag nicht vor dem Abend verfluchen (26.09.2017 – 28 km)

Nach einer erneut unruhigen Nacht betrete ich pünktlich zum Frühstück den Dorfladen im Erdgeschoss meiner Residenz und habe die Wahl zwischen verschiedenen Brötchensorten und Kaffeevariationen. Serviert werden sie mir von der netten Frau, die sich gestern telefonisch so gut um meine Anreise gekümmert hat. Der Laden ist voll.

Service-Tausendsassa

Es ist nicht einfach nur ein Laden, sondern eine Mischung aus Bäckerei, Supermarkt, Kiosk, Paketshop und Café, oder, wie man mir erzählt, der Versuch, das Leben auf dem abgelegenen Dorf am Laufen zu halten. Nur den von mir dringend benötigten Geldautomaten gibt es hier nicht mehr. Er wurde abgebaut, weil er sich nicht mehr rentierte.

Hier stehe ich und kann mit eigenen Augen sehen, was gemeint ist, wenn es heißt, dass die Versorgung auf den Dörfern immer schlechter wird. Wo denn der nächste Automat sei, will ich wissen, bekomme aber keine hundertprozentige Antwort. Die nächsten Geldautomaten liegen jedenfalls nicht auf meiner Strecke, so viel ist sicher. Schon möglich, dass es in Klüsserath noch eine Bank gäbe, aber sicher ist man sich nicht. Ich bin total fassungslos. Wenn ich in Hamburg bin, komme ich allein auf dem Weg zur U-Bahn an drei Banken vorbei! Das ist wirklich bitter für die Leute hier.

Eine Hand voll Dollar und eine Pizza für Notfälle

Irgendwie wird es schon gehen, denke ich und mache mich mit einer Hand voll Dollar (beziehungsweise meinen verbliebenen 35 Euronen) um viertel vor zehn auf den Weg nach Schweich. Zumindest verhungern werde ich nicht. Im Rucksack befindet sich schließlich noch ein Drittel Pizza Hawaii für schlechte Zeiten.

Ich laufe noch einmal kurz zur Kirche zurück, wo ich am Treppenaufgang zu meiner Freude eine goldene Muschel entdecke. Das Gotteshaus selbst lasse ich aus Zeitgründen unbesehen, denn heute erwartet mich meine persönliche Mammut-Etappe mit 28 Kilometern.

Wallfahrtskirche Maria Heimsuchung in Klausen, Mosel-Camino nach Schweich
Fast hätte ich die goldene Muschel vor der Wallfahrtskirche übersehen

Gleich am Ortsausgang entdekce ich eine bunt lackierte Parkbank, die als selbst organisierte Mitfahrzentrale von Nachbarn für Nachbarn fungiert, vermutlich um die Mobilität vor allem der Älteren weiter zu gewährleisten und der Isolation ein Schnippchen zu schlagen. Kaum aus dem Ort heraus, bin auch ich in der Isolation und laufe im Nebel allein zwischen Feldern in Richtung des elf Kilometer entfernten Klüsserath.

Auf dem Weg nach Schweich. Mosel-Camino Etappe 6 kurz hinter Klausen
Man könnte denken, es sei frühester Morgen, dabei ist es schon viertel vor zehn

Irgendwie fluppt es heute nicht so. Ich habe Bauchkrämpfe, bin müde, es ist bewölkt, und mir fehlt die Freude am Laufen. Dabei habe ich gestern noch groß erzählt, dass es nach Tag drei steil bergauf geht. Steil bergauf geht es natürlich trotzdem, wenn auch nicht unbedingt mit meiner Laune. Ich laufe wie im Tunnel und zähle die Kilometer runter, von denen heute mehr als genug vor mir liegen. Eine Unterkunft für die Nacht habe ich auch noch nicht. Es soll ja spannend bleiben.

Die Vermessung des ganzen Felds

Nebligen Feldwege gehen in neblige Waldwege über, bis nach anderthalb Stunden auch der Wald plötzlich zu Ende ist. Etwas überrascht stehe ich vor einem abgeernteten Feld. Und nun? Der letzte Pfeil, den ich direkt am Ausgang des Waldes sah, zeigte geradeaus. Doch geradeaus ist besagtes Feld, zu seiner linken ein mit Gras bewachsener Trampelpfad, in dessen Mitte ein umgelegter Zaun prangt. Ich mache ein paar zaghafte Schritte geradeaus. Das kann nicht stimmen!

Auch Google Maps ist mir keine Hilfe. Es zeigt mir lediglich, dass ich im absoluten Nichts stehe und verrät, in welcher Richtung Klüsserath liegt. Die nächsten, bei Google vermerkten Wege, sind in sicherer Entfernung. So versuche ich es im Alleingang, gehe zurück zum Wald, vergewissere mich, dass dort wirklich eine Markierung war, werde erneut geradeaus geschickt und entscheide mich anders. Ich werde vom Wald kommend, rechts entlang des Feldes weitergehen.

Gesagt getan. Erinnerungen an gestern werden wach. Da hatte sich der Camino ja auch schon in einen ganz besonderen Feldweg verwandelt.

Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Alles kann, nichts muss

Voller Überzeugung schreite ich also immer geradeaus die Längsseite des Ackers ab, der übrigens das Ausmaß eines ausgewachsenen Fußballfeldes hat. Meine Ambitionen werden jäh unterbrochen, denn am Ende des Feldes schneidet mir ein weiterer Zaun den Weg ab. Toll! Also dann eben im 90 Gradwinkel nach links weiter.

In einiger Entfernung erspähe ich einen Bauernhof. Dort wird dann ja wohl auch wieder ein Weg sein, denke ich mit dem verbliebenen Optimismus. Doch auch diesmal ende ich vor einem Zaun. Kurzfristig ziehe ich in Erwägung, darüber zu klettern und geradewegs durch die Kuhweide auf den Hof zuzulaufen. Das ist irgendwie auch keine Option. Nachher bewohnt den Hof ein Durchgeknallter, der mich für einen Einbrecher hält und seinen Hund auf mich hetzt oder schlimmer noch, eins der Rinder verwechselt mich mit einem Torrero.

Selber, selber, lachen alle Kälber

Ein weiteres Mal laufe ich zurück zur letzten Muschel am Waldrand, ein weiteres Mal prüfe ich die Richtung. Die letzte Muschel hat sich erstaunlicherweise nicht bewegt. Sie zeigt nach wie vor stoisch geradeaus. 20 Minuten, nachdem ich auszog, den Acker zu umrunden, bin ich wieder am Ausgangspunkt. Bingo. Ich bin zwischen Lachen und Fluchen hin und her gerissen. Sollte mich jemand beobachtet haben, während ich hier mit meinem Rucksack akribisch den Acker vermessen habe, muss das unfassbar bescheuert ausgesehen haben.

Diesmal befolge ich stumpf, was mir die Muschel schon die ganze Zeit sagt und gehe gnadenlos geradeaus auf den zu Boden gelegten Zaun zu. Et voilà: an einem Obstbaum, nur wenige Meter hinter dem Zaun, zwinkert mir die nächste Muschel schelmisch zu. Die habe ich vorhin übersehen.

Ich laufe an der Kuhherde vorbei und muss mir den wenig empathischen Blick zweier Kälber gefallen lassen. Die haben sich wahrscheinlich vorhin köstlich amüsiert, als sie mich über das Feld eiern sahen. Ich strafe sie mit dem herablassendsten Blick, den ich im Angebot habe. Take that, ihr Rindviecher. Eure Blicke können mir gar nichts anhaben! Da stehe ich aber so was von drüber. Der Umweg entlang des Ackers war absolut gewollt. Noch mal kurz mit großer Geste die Haare nach hinten geworfen, Krönchen gerichtet und weiter. Denen habe ich es gezeigt!

Kuhweide vor Klüsserath, auf dem Weg nach Schweich, Mosel-Camino Etappe 6
Wer ist hier das Rindvieh? Im Bereich Empathie haben die beiden noch Luft nach oben

Um zwölf sind die ersten elf Kilometer geschafft, und ich bin in Klüsserath, wo, genau wie gestern in Monzel, Siesta herrscht. Die Touristeninfo in der Post macht gerade Mittagspause. Ich erleide dadurch gleich zwei Niederlagen, denn so gibt es  weder ein Stempel noch Bargeld.

Auf der Suche nach himmlischem Segen werfe ich einen kurzen Blick in die Kirche. Wieder draußen, stoße ich fast mit einem Ehepaar im gehobenen Alter zusammen. Ich erkundige mich nach einer Bank, doch leider können sie nicht helfen. Dafür zeigen sie mir aber, in welche Richtung ich insgesamt muss, um zu meinem nächsten Anhaltspunkt, der Marienkapelle, zu gelangen.

Stolz erzählen mir die beiden, dass sie seit mehr als 30 Jahren hier urlauben. Sie wussten gar nicht, dass es hier einen Jakobsweg gäbe. Ich sei aber tüchtig, wenn ich das ganz alleine mache, stellt die Frau fest, und ich muss ob der Wortwahl schmunzeln.

Nur Bares ist Wares, aber ich sitze auf dem Trockenen

Nach einer kurzen Frustzigarette, bewege ich mich grob in die angezeigte Richtung und laufe an fünf Männern vorbei, die gerade eine Auffahrt ausbessern. Auch sie frage ich nach einer Bank und diesmal habe ich mehr Glück. Ja, es gäbe eine im Ort, allerdings in entgegengesetzter Richtung. Das seien aber nur zehn bis fünfzehn Minuten.

Ich fluche innerlich und habe meine Gesichtsmuskeln wohl nicht so ganz unter Kontrolle, denn sie lachen mich aus. Wer so weit laufe, dem mache doch sicher ein Kilometer zusätzlich nichts aus. Wenn die wüssten, dass ich schon unnötigerweise den Fußballfeld-Acker vermessen habe! An Tagen wie diesem ist jeder Kilometer extra auch eine extra Belastung. Da können auch zwei Kilometer schon mal an eine Ausgeburt der Hölle erinnern.

Zähneknirschend trotte ich also wieder zurück. Vorbei an der Post, der Kirche, einem Pizza-Chinesen (internationale Küche, man kennt das), finde ich die Bank. Na also. Mit Geld in den Taschen ist die Lage bereits deutlich besser. Dummerweise kann ich leider keinen Supermarkt entdecken. Ich brauche Wasser, und ein Apfel oder eine Banane wären auch nicht schlecht. In meiner Trinkflasche sind noch ungefähr 0,4 Liter und vor mir liegen gute 15 Kilometer. Heute ist tatsächlich das erste Mal, dass ich morgens vergessen habe, meine zweite Flasche aufzufüllen. Ausgerechnet. Der Teufel kackt eben immer auf den dicksten Haufen.

Fragen kostet nichts – außer Überwindung

Erneut laufe ich an den fünf Männern vorbei, diesmal mit einem Lächeln. Sie wünschen mir einen guten Weg und kurz überlege ich, sie zu fragen, ob sie mir meine Wasserflasche auffüllen können, aber dann ist es mir doch zu unangenehm. Fünf Kilometern weiter liegt Ensch, wo es sicherlich eine Möglichkeit geben wird, denke ich mir.

Hinauf zur Marienkapelle begleitet mich ein sehr moderner Kreuzweg, dessen einzelne Stationen mit Mosaiksteinchen visualisiert sind. Wie immer geht es ordentlich hoch hinaus. Oben werde ich aber mit dem Panoramablick auf die Weinlage Klüsserather Bruderschaft entschädigt (übellaunig, wie ich heute bin, habe ich übrigens fast keine Bilder gemacht!)

Ich mache erst einmal Pause, verzehre die Reste meiner Pizza Hawaii und beobachte zwei Männer bei der Traubenlese. Um genau zu sein stiere ich eigentlich nur gierig auf ihren Kasten Wasser, der neben dem Traktor steht. Erneut ziehe ich in Erwägung, um Wasser zu bitten, doch als ich wenig später an ihnen vorbei laufe, schauen sie so unfreundlich, dass es mir zu unangenehm ist, zu fragen.

Beim Abstieg Richtung Ensch verpasse ich dann die dritte Gelegenheit. Eine junge Frau mit Baby auf dem Arm verlässt gerade ihr Haus und nickt mir zu. Wieder bin ich zu verlegen, sie um Wasser zu bitten. Sie wirkt ziemlich gehetzt, und ich will keine Umstände machen.

Sahara-Feeling auf dem Weg nach Schweich

Wider Erwarten führt mich der Mosel-Camino dann gar nicht durch Ensch hindurch, sondern streift nur die Ausläufer auf dem Weg nach oben in den Wald. Ob ich will oder nicht, meine Wassersituation wird immer mehr zu einem inneren Thema und bereitet mir zunehmend Sorgen.

Wie kann man nur so blöd sein? Das kommt davon, wenn man morgens nicht ausreichend Flüssigkeit einpackt und wenn man sich ungeprüft Ortsnamen notiert, ohne tatsächlichen Orte von denen, mit dem Hinweis „Gemarkung“ oder „Abzweig“, zu unterscheiden. Das ist mir schon an der Kapelle mit Grenderich so gegangen.

Fakt ist, dass der Mosel-Camino in der Regel nur an den Orten vorbei aber eben nicht durch sie hindurch führt. Klar könnte man in sämtliche Orte absteigen, aber das wären Extrakilometer und meist auch weitere Höhenmeter. Zudem ist noch lange nicht gesagt, dass der Ort dann auch tatsächlich einen Supermarkt oder ein Gasthaus hat. (Inzwischen notiere ich mir übrigens nicht nur, ob ein Ort durchlaufen oder gestreift wird, ich schaue auch immer nach Gastronomie und Einkaufsmöglichkeiten. Learning by burnign, sozusagen)

Mir reichen die Meter, die eh unvermeidlich Teil der Strecke sind. Ich werde nirgendwo auf Verdacht hin absteigen. Zwischen mir und Schweich liegen 13 km ohne ausreichend Wasser. Das ist semi-optimal. Da mache ich keine Experimente. Zumindest keine zusätzlichen, denn mit einer Wüstenerfahrung in Rheinland-Pfalz hatte ich vorher ehrlich gesagt auch nicht gerechnet.

Vorhang auf, Auftritt Camino-Magic

Ich tauche in den Wald und greife auf das alt bewährte Antifrust-Rezept Singen zurück. Kilometer um Kilometer wird abgehakt, bis ich plötzlich Stimmen höre und abrupt sämtlichen Gesang einstelle. Kurz darauf sehe ich sie. Drei Wanderer haben es sich auf einer Bank und einem Klappstuhl an einem Aussichtspunkt gemütlich gemacht und schnabulieren fröhlich ihr Picknick. Ich grüße freundlich und bin schon fast wieder außer Hörweite, als mir ein „Buen Camino“ hinterhergeschmettert wird.

Bei dem altvertrauten Pilgergruß muss ich schmunzeln und gehe zu den Dreien zurück. Der Mann hat meine Muschel entdeckt. Er ist 2015 den Camino Frances gelaufen und hat instinktiv reagiert. Wir tauschen uns über die unterschiedlichen Pilgererfahrungen dort und hier aus, und ich frage bei der Gelegenheit noch einmal nach, wann der nächste Ort komme. Das sei Schweich in ca. 12 Kilometern, wird meine Befürchtung bestätigt. Mein Gesicht spricht wohl einmal mehr Bände und auf Nachfrage erzähle ich von meinem persönlichen Watergate. Und siehe da: wer spricht, dem kann geholfen werden.

Mein Pilger-Kompagnon grinst. Das träfe sich hervorragend. Sie hätten zu viel Wasser für ihren Hund dabei und könnten mir problemlos etwas abgeben. Zack, ist meine 0,5-Flasche randvoll. Ich kann mein Glück gar nicht fassen. Ob ich sonst noch etwas bräuchte? Sie hätten hier eine ganz tolle Riesentomate aus Omas Garten. Das seien die besten Tomaten im Umkreis.

Oma im Klappstuhl strahlt und ich greife zu. Das Angebot kann und will ich nicht ablehnen. Eine Riesentomate ist ja fast dasselbe wie der Apfel, den ich mir vorhin gewünscht habe. Mit zehn Dankeschöns ziehe ich beschwingt von dannen und lasse mich zehn Minuten später an einem aufgeschichteten Holzstapel zum Tomatenverzehr nieder.

Nicht lange, da höre ich erneut aufgeregtes Geplapper durch den sonst so stillen Wald. Zwei Damen fortgeschrittenen Alters kommen des Weges und bleiben beim Anblick meines Rucksacks stehen. Ich berichte vom Wanderabenteuer, und sie erzählen, dass sie seit über 70 Jahren befreundet sind und immer schon gern spazieren gegangen sind. Die Ältere der beiden ist Mitte 80, verrät sie mir. Das hätte ich bei ihrem Anblick niemals erwartet und auch nicht bei der Lebhaftigkeit, mit der sie erzählt. Wie wünsche ich mir, dass mir das Leben ähnlich mitspielt und ich in dem Alter noch so fit bin.

Wunder, die Zweite

Nächster Anhaltspunkt der heutigen Etappe ist das Zitronenkrämerkreuz. Um 16-irgendwas wurde hier ein italienischer Händler ermordet. Sein Sohn ließ zu seinem Gedenken das schmucke Kreuz errichten.

Als ich den Ort gegen 15 Uhr erreiche, traue ich meinen Augen nicht: mitten auf dem Tisch der dahinter gelegenen Picknickgarnitur liegen ernsthaft zwei Äpfel. Diese sind offensichtlich nicht weit vom Stamm und somit direkt auf den Tisch gefallen, wo sie nur auf mich zu warten scheinen. Hatte ich mir nicht vorhin Äpfel gewünscht? Ich Glückspilz.

Das Zitronenkrämerkreuz auf Etappe 6 des Mosel-Caminos von Klausen nach Schweich
Kein Witz, keine Inszenierung: die Äpfel lagen genauso auf dem Tisch

Zufrieden setze ich mich auf die Bank und verspeise mein Geschenk. Man muss die Feste schließlich feiern, wie sie (also die Äpfel) fallen. Hornissen tanzen in der Luft, lassen mich aber überraschenderweise völlig kalt (ich muss ziemlich erschöpft sein). Ich betrachte die beeindruckend reich behangenen Apfelbäumen, während ich die warmen Sonnenstrahlen und die Ruhe in dieser Idylle genieße. Inzwischen bin ich wieder völlig im Zen. Manchmal muss es einfach richtig schlecht laufen, damit es danach auch wieder richtig toll sein kann.

Voll behangener Apfelbaum am Zitronenkrämerkreuz auf dem Mosel-Camino nach Schweich
Ein Traum von einem Apfelbaum

Der Schild(er)knappe

Umso empörter bin ich, als auf einmal ein Golf den Wanderweg hinauf geknattert kommt. Wie kann man denn hier bitteschön mit dem Auto lang düsen? Der Rowdy hält nur wenige Meter von mir entfernt und lässt den Motor laufen, während er sich am Kofferraum zu schaffen macht, aus dem er eine Leiter holt. Also doch kein Rowdy, sondern vielleicht der Besitzer der Apfelbäume?

Doch der Mann ignoriert die Obstbäume und macht sich mit einer Heckenschere an den Sträuchern zu schaffen und schneidet Zweige zurück. Ich schaue immer noch verwirrt zu, als ich von meinen Wasser-Rettern überholt werde. Kurz darauf sind sie mit dem Golffahrer im Gespräch, der im Anschluss zu mir herüber geschlendert kommt.

Er habe gehört, ich sei eine Fernwanderin. Auf welchem Weg ich denn unterwegs sei? Moselsteig oder Mosel-Camino? Wie sich herausstellt, handelt es sich um den Weg-Paten. Der Herrr ist Mitglied des Eifelvereins und verantwortet die Markierung auf diesem Stück des Weges. Gerade hat er Zweige zurückgeschnitten, die die Schilder verdeckten. Wo ich denn gestartet sei, und wie ich mit der Markierung zurechtkomme, will er wissen?

Wahrheitsgemäß erzähle ich, dass heute alles ganz hervorragend geklappt habe, wenn man von meiner kleinen, selbst verschuldeten Acker-Irrfahrt absähe, räume aber auch meine Schwierigkeiten der letzten Tage ein, als Markierung gefehlt hätten. Das größte Problem rühre von anderen Pilgern oder Wanderern her, verrät er mir. Diese würden nämlich ganz gern ein Schild für den heimischen Partykeller mitnehmen und seien bestens gerüstet mit Schraubenzieher und Co. unterwegs.

Ich bin sprachlos. So viel Dummheit bzw. Ignoranz ausgerechnet von den Leuten, die selbst wissen sollten, wie wichtig die Markierung ist! Er erzählt mir, dass er mehrmals im Jahr die Strecke abgehe und die Markierung prüfe und ausbessere. Er sei eigentlich nur für den Moselsteig zuständig, aber er teile sich die Aufgabe mit dem Kollegen, der sich um den den Camino kümmere. Alles ehrenamtlich, versteht sich. Ich bin schwer beeindruckt und bedanke mich direkt mal im Namen aller Pilger und Wanderer für sein Engagement.

Zimmerservice im Wald

Wo ich denn heute noch hin wolle und ob ich schon eine Unterkunft hätte? Ich verrate mein Ziel und räume ein, dass ich bisher noch nicht wisse, wo ich schlafen werde. Er lacht. Das träfe sich doch hervorragend. Er selbst wohne in Schweich, und wir würden das jetzt folgendermaßen machen: „Sie laufen die zweieinhalb Stunden nach Schweich und wenn Sie da ankommen, habe ich eine Unterkunft für Sie.“

Ich schaue ihn sprachlos an. „Sie bekommen jetzt meine Nummer und wenn Sie an der Kirche sind, rufen Sie mich an, und ich hole Sie ab.“ Ich gebe dem großartigen Mann sicherheitshalber auch meine Nummern, bedanke mich ungefähr fünf Mal, und, ehe ich mich versehe, sitzt er schon wieder in seinem Golf und braust von dannen. ICH FASSE ES NICHT. Was ist denn los heute?

Auf dem Mosel-Camino nach Schweich
An diesem Baum hat mein Retter Markierungen freigelegt

Erst fängt der Tag so mau an, und dann verwandelt er sich plötzlich in Weihnachten? Wasser, Tomaten, Äpfel, Unterkünfte. Alles fällt mir in den Schoß. Ich strahle nur noch und denke mir meinen Teil. Es ist eben doch ein Jakobsweg, auf dem ich laufe. Da passieren solche Dinge. Nicht hinterfragen. Camino-Magic sollte man einfach dankend annehmen.

Es dröhnen die Motoren, willkommen in Schweich

Ganz in Ruhe und mit ausreichend Wasser mache ich mich an die verbliebenen neun Kilometer nach Schweich. Am verwitterten Landwehrkreuz, das man erreicht, nachdem man mehr oder weniger erfolgreich quer durch eine mit Gras bewachsene Wiese gestiefelt ist, treffe ich noch einmal auf meine Wasserspender, die auch so gut wie am Ziel sind, und wir verabschieden uns.

Ich kann Schweich hören, bevor ich es sehen kann. Die Zivilisation hat mich wieder und zwar mit dem Dröhnen der Motoren auf der nicht weit entfernten Autobahn. Erst in diesem Moment realisiere ich, welch abgeschiedene, ruhige Welt mich in den letzten Tage umgeben hat.

Blick auf Schweich an der Mosel, Moseljakobsweg, Etappe 6
Geradezu idyllisch ist der Blick auf Schweich an der Mosel, wenn man die Geräuschkulisse weglässt

Eine letzte Pause genehmige ich mir an der Schutzhütte Rupperoth und vertilge die kleine Tüte mit Nüssen, die ich seit Tag Eins mit mir spazieren getragen habe. Der Schatten tut mir gut, bevor ich der Sonne erneut ausgesetzt durch die Weinberge nach Schweich hineinlaufe. Zeit habe ich ebenfalls ausreichend, da mir die Unterkunftssuche ja erspart bleibt.

Durch eine Fußgängerunterführung geht es unter der Autobahn hindurch. Ich bin da. Schon bald kann ich die Kirche erkennen und zücke, dort angekommen, wie verabredet mein Handy. Oh weia. Das Display zeigt mir fünf Anrufe in Abwesenheit. Mein neuer Freund hat mehrfach versucht, mich zu erreichen.

Sogar auf der Mailbox hat er sich verewigt: „Hier ist der Mann, den Sie im Wald getroffen haben…“ Er wolle kurz mit mir Rücksprache halten, weil er ein Zimmer für mich gefunden und provisorisch reserviert habe. Ich möge mich so schnell es geht melden, denn die Reservierung halte nicht ewig. Das war vor einer Stunde. Ich rufe sofort zurück und gebe Bescheid, dass ich vor der Kirche bin.

Ringen mit Gott und Teufel

Während ich vor dem leider geschlossenen Gotteshaus auf meinen Helden warte, beobachte ich ein seltsames Schauspiel. Ein offensichtlich verwirrter Mann mit löchrigen Socken nimmt immer wieder ein paar Meter vor der Kirche Anlauf, taumelt auf selbige zu und bremst abrupt an der Tür und führt Selbstgespräche. Vielleicht sind es ja auch Zwiegespräche, und ich kann den anderen (Gott, Teufel, was weiß denn ich) nicht hören.

Wie ein Preisboxer geht er immer wieder neu in Position, sammelt sich und stürmt auf die Pforte zu, nur um dann wieder im alllerletzten Moment zu bremsen. Mir ist das Ganze ein wenig unheimlich, zumal er immer mehr in meine Nähe taumelt.

Gott sei Dank taucht in dem Moment mein Retter auf, begrüßt mich überschwänglich, schnappt sich meinen Rucksack und verfrachtet ihn im Kofferraum des Golfs. Kaum sitze ich, drückt er mir drei ausgedruckte Pensionsangebote in die Hand. Er war extra in der Touristeninfo und hat Preise eingeholt.

Ich war bis zu seiner Mailboxnachricht davon ausgegangen, dass er jemanden kennt. Nun ist es mir wahrlich unangenehm, dass er sich so viel Mühe gemacht hat. Ach Quatsch, das mache er doch gern, tut er jegliche Bedenken ab. Er würde mir das Zimmer samt Frühstück für 40 Euro bei einem Winzer empfehlen. Er kenne die Leute. Die seien schwer in Ordnung, und auch wenn die angeschlossene Vinothek heute Ruhetag habe, bekäme ich mit Sicherheit noch ein Glas, dafür würde er persönlich sorgen.

Und dann brausen wir los, denn für ihn ist es Ehrensache, dass er mich bis vor die Haustüre des Weingut Wallerath fährt. An der Tür klärt er noch mal alle Details mit Inhaberin Beate, die ihm versichert, dass sie auf jeden Fall ein Glas Wein für mich übrig habe. Herzlich verabschiede ich mich von Herrn Lauströer (wie aus den Reservierungsausdrucken hervorgeht). Sollte ihn jemand kennen oder treffen, grüßt ihn bitte schön! Der Mann ist Gold wert.

Ein aufgedrängtes Gespräch wird abendfüllendes Thema

Bei der nun folgenden Haustour werde ich mit dem Prinzip des Weinschranks vertraut gemacht, auf den Raucherbalkon geführt und dann in meinem Zimmer abgesetzt. Wie freue ich mich auf die Dusche und auch über die kleine Gummibärchen-Tüte, die auf dem dicken, daunigen Kopfkissen liegt. Beate hat sogar noch Tips für mein Abendessen parat. Ich bin im Himmel.

Nach dem Duschen will ich einen kurzen Abstecher auf den Raucherbalkon machen, bevor ich zum Abendessen aufbreche. Dort sitzt bereits ein jüngerer Mann, der an seinem Handy rumspielt. Ich frage ihn, ob wir uns den Aschenbecher teilen könnten, und er schiebt ihn mir wortlos rüber. Er wirkt nicht gerade so, als habe er darauf gewartet, ein Gespräch zu führen. Vermutlich will er einfach seine Ruhe haben, aber ich bin so dankbar, endlich mal wieder auf Gesellschaft zu stoßen, dass ich mich nicht darum schere und alles daran setze, ihn in ein Gesrpäch zu verwickeln.

Am Akzent seiner Antworten höre ich schnell, dass er Niederländer ist. Die halbe Holländerin in mir findet den perfekten Einstieg. Er hat absolut keine Chance, das Gespräch wird ihm aufgedrängt. Doch schon nach kurzer Zeit taut er merklich auf.

Dennis arbeitet in der Nähe von Trier und wohnt hier unter der Woche. Schnell sind wir mitten in Geschichten aus unserem jeweiligen Leben. Ich erzähle von meinem heutigen Tag und den unglaublich vielen Geschenken, Dennis berichtet, dass er auch gerade eine richtige Glückssträhne erwischt habe und sich selbstständig gemacht hat.

Essen wird überbewertet, finde ich. Viel lieber möchte ich mit Dennis quatschen. Ob er mit mir eine Flasche Wein trinke, will ich wissen. Für mich allein sei das eh zu viel. Er stimmt lachend zu, und so machen wir uns über eine Flasche feinherben Riesling vom Annaberg her. Er stiftet die Zigaretten, und wir rauchen uns durch den Abend und lassen kein Thema aus.

Wir reden über Glück, über Mut, über Tüchtigkeit und über das Schicksal. Er zeigt mir Fotos seiner kleinen Tochter, die in Holland bei ihrer Mutter wohnt und die er sehr vermisst, wir sprechen über berechtigte und unberechtigte Vorurteile (sein Vater ist Marokkaner), entscheidende Wegabzweigungen im Leben, niederländisches Fernsehen, und über Menschen und Erlebnisse, die uns geprägt haben.

Der schönste Abend in vier Monaten

Ich erzähle von meinem ersten Jakobsweg auf dem ich so viele, beeindruckende Leute getroffen hätte, die bereit waren, große und kleine, traurige und schöne Momente aus ihrem Leben zu teilen und am Ende des Gesprächs oft völlig überrascht waren, was sie mir alles anvertraut hätten.

Inzwischen sitzen wir sitzen im Dunkeln im Schein von Zigaretten und Lichterketten. Dennis muss schmunzeln. Er habe überhaupt nicht vorgehabt, so lange auf dem Balkon zu bleiben. Eigentlich hätte er in dem Moment, als ich rauskam, instinktiv reingehen wollen. Er habe es nicht so mit Leuten und sei nicht besonders gesellig. Außerdem unterstelle er den Menschen gerne das Schlechteste. Sein Schwager ziehe ihn damit immer auf.

So richtig wisse er auch nicht, was passiert sei, aber irgend etwas hätte ich an mir, das Vertrauen einflöße. Ich sei so offen und positiv, und er habe einfach eine super gute Zeit hier draußen und freue sich, nach Wochen endlich mal wieder Gesellschaft zu haben. Normalerweise verbringe er seine Abende mit dem Handy. Wir sitzen noch bis viertel nach zehn zusammen, bis es zu kalt wird und wir beide müde werden.

Als wir zusammenpacken, stattet mich Dennis noch mit einer Zigarette für morgen aus. Und dann bedankt er sich. Das sei sein schönster Abend in vier Monaten gewesen, gute Nacht.

Danke für die kleinen Dinge

Mit einem Gefühlsgemisch aus Dankbarkeit, Rührseligkeit und Riesling trete ich den Weg ins Bett. Ich freue mich so sehr, dass Dennis mir begegnet ist und mir einen so schönen Abend geschenkt hat. Und irgendwie freue ich mich, dass ich an diesem Tag der guten Gaben offenbar auch selbst etwas zurückgeben durfte und ihm eine gute Zeit geschenkt habe.

In mein dickes Daunenbett gekuschelt wird mir bewusst, dass Morgen bereits der letzte Tag auf dem Mosel-Camino anbricht und Wehmut überkommt mich. Ich habe mich in die Gegend verliebt. Es ist so wunderschön hier. Deutschland ist so wunderschön. Wieso schweifen wir immer so weit in die Ferne?

Ich bin dankbar für diesen Tag. Für die Tage, die ich hatte und für die, die noch vor mir liegen. In vier Tagen bin ich auf der Hochzeit zweier Freunde eingeladen und werde in normalen Klamotten unterwegs sein, Freunde treffen, Musik hören, gutes Essen genießen und mitten in der Zivilisation sein. Aber bis dahin genieße ich noch diese unglaubliche Freiheit, mit nichts als meinem Rucksack unterwegs zu sein und danach geht meine Reise weiter auf dem Rheinsteig.

Ich freue mich auf Trier, wo ich als Kind häufiger Urlaub gemacht habe und bin gespannt, was ich noch wiedererkennen werde. Vielleicht treffe ich mich sogar noch mit einem Schulfreund, wenn er es einrichten kann. Und dann fahre ich schön tourimäßig mit dem Boot nach Bernkastel und übernachte privat bei Pilger Olli. Er weiß, dass ich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit vorbeikommen werde und hat bisher keine Anfragen von anderen Pilgern. Läuft also. Welcome to the flow.

 

Zeitreise

Vorschau: Du willst wissen, ob ich es bis Trier schaffe? Bis ich ankomme, passiert noch einiges, kann ich verraten. Was genau? Das findest du heraus auf der Strecke von Schweich nach Trier.

Rückblick: Du hast gar nicht mitbekommen, wie ich es nach Klausen geschafft habe und kennst die Bilder aus Bernkastel nicht? Dann schau doch vorbei auf dem Abschnitt von Traben-Trarbach nach Klausen.

Kommentare und Ergänzungen

Warst du auch auf dem Mosel-Camino unterwegs? Wie war der Weg für dich? Hast du Gesellschaft gehabt oder warst du die meiste Zeit allein? Kennst du meine heutige Etappe? Was hat dir gefallen, was eher nicht so?

Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.

4 Gedanken zu „VI (Mosel-Camino) – Von Klausen nach Schweich&8220;

  1. Ich hätte zu gern gesehen, wie die Kühe Dich beim Umranden des Feldes beobachtet haben – nach dem Motto: „Was macht sie denn da nur?“ Aber Du bist ja reichlich für den extra Weg entlohnt worden, schöner Bericht mal wieder!

  2. Auf dem Jakobsweg passieren die unglaublichsten Geschichten, wie deine Begegnung mit dem netten Mann, der dir mit der Unterkunft geholfen hat. Manche Pilger nennen sie „kleine Wunder“. Auf jeden Fall hat der Jakobsweg etwas Besonderes an sich, wenn man offen dafür bleibt. Liebe Grüße, Dario

    1. Hallo Dario, das sehe ich genauso. Ich hatte auf jedem meiner Jakobswege Geschichten, die kleinen Wundern glichen. Oder ich war für andere Menschen ein ebensolches. Ich glaube, dass einem so etwas alltäglich widerfährt, wir es aber nur selten mitschneiden, weil wir eben nicht immer offen dafür sind. Danke für deine Rückmeldung

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