Tag 9 auf dem Rheinsteig gleicht die fehlenden Abenteuer des Vortages aus. Ich tanze Rucksack-Limbo an Leitern vorbei, lasse mich von einem Vogel auslachen, sehe aus, als hätte ich mit Inkontinenz zu kämpfen und übernachte passenderweise im Gasthaus „Zum Saustall“ zusammen mit 450 Schweinen und einer besonders gut gelaunten Wirtin (9. Oktober 2017, ca. 25km).
Heute erwartet mich eine der schwereren und auch längeren Etappen. Pünktlich um halb acht bin ich beim Frühstück. Den ersten Kaffee nehme ich samt Zigarette mit nach draußen und schaue in einen grau-diesigen Himmel über lauter hübschen Fachwerkhäuschen. Mit etwas Glück kommt später die Sonne raus. Die Straßen sind menschenleer, und es ist unfassbar still.
Wieder drinnen frühstücke ich ein wenig und packe mir den Rest für später ein. Die nette Wirtin gibt mir noch ein Tütchen zum Einpacken mit. Um neun mache ich mich auf den Weg, um auch ja ausreichend Zeit zu haben, ihn zu bewältigen. Ich möchte mich auf den schwierigeren Stücken nicht hetzen oder gar übernehmen.
Abkürzung zum Rheinsteig
Wie geplant, laufe ich auf direktem (Feld-)Wege nach Filsen. Auch hier begegnet mir keine Menschenseele. Es ist kein sonderlich spannendes Stück, aber ich komme gut voran. Um viertel vor zehn bin ich an der mit Fachwerk verzierten Wachport, in der das Rathaus untergebracht ist. Hier stoße ich auch wieder auf den Rheinsteig, der mich auf schmalen Trampelpfaden aus dem Ort weg steil nach oben bringt und einen tollen Blick auf das auf der anderen Rheinseite liegende Boppard im Angebot hat.
Kurz darauf bin ich an einem Aussichspavillion auf der Filsener Ley und lasse den Blick noch ein wenig auf mich wirken. Einmal mehr bereue ich es sehr, dass die Sonne nicht für mich scheint. Da wäre die Aussicht sicher noch mal ein ganz anderer Schnack.
Ich folge dem schmalen Trampelpfad an der Hangkante entlang durch Wiesen in Richtung der Feindlichen Brüder. Der Rheinsteig verläuft an der Allee der Bäume, wo jedes Jahr im April ein Baum gepflanzt wird. Am Jakobstempel, einem Pavillion, mache ich noch einmal kurz Pause, bevor es wenig später recht steil auf einer Waldfläche abwärts geht.
Der Weg ist nicht wirklich zwischen den Bäumen auszumachen. Unsicher, ob mir meine Stöcke genug Halt geben würden, so abschüssig wie dieses Stück ist, überlege ich mir eine Altnerativtaktik. Ich suche mir immer einen neuen Baum, peile ihn an und renne stolpernd auf ihn zu, halte mich zum Bremsen fest am Stamm fest und schnappe mir dann den nächsten. Es hat ein bisschen was von einem Spießrutenlauf, aber die Taktik geht auf, auch wenn mir mein Rucksack immer ein wenig zusätzlichen Schwung durch sein Gewicht verleiht.
Gegen zwölf kann ich von der Wilhelmshöhe die Burgen Liebenstein und Sterrenberg, besser bekannt als die Feindlichen Brüder, sehen.
Die feindlichen Brüder, oder Karma is a bitch
Der Legende nach wohnten in den beiden Burgen Brüder, die ihre blinde Schwester um deren Erbe betrogen. Sie verprassten das ganze Geld und zerstritten sich anschließend und lebten so kontaktlos nebeneinander. Das ist aber nun mal kein Dauerzustand und so kam auch hier ein Hauch von Wind of Change auf.
Sie wollten sich versöhnen und verabredeten sich zur Jagd. Der, der am nächsten Morgen als erstes wach sei, solle den anderen wecken, in dem er einen Pfeil an den Fensterladen des anderen schösse. Wie es das Schicksal wollte, erwachten sie zur gleichen Zeit und schossen sich gegenseitig den Pfeil ins Herz. Tja – Karma is a bitch. Was aus der Schwester wurde, ist nicht übermittelt.
Himmels- oder Höllenleiter
Vor mir liegt inzwischen die Himmelsleiter. Was romantisch klingt, ist eine in die Jahre gekommene Holztreppe, die in mehr als 80 Stufen zu einer Straße hinunterführt. Eigentlich hatte mir der Rheinsteig-Profi von gestern Abend an der Theke versucht zu beschreiben, wie ich dieses Stück umgehen könnte. Das hat anscheinend wohl nicht geklappt, und so mache ich mich beherzt an den Abstieg.
Ich hasse Treppen, wenn ich mit Rucksack und Stöcken unterwegs bin. Die Stufen sind irgendwie immer zu hoch oder zu niedrig und in diesem Fall noch dazu nicht sonderlich vertrauenserweckend, da sie teils morsch wirken. Auch das Geländer an der Seite hat seine besten Zeiten hinter sich. Ich lasse mir also Zeit und gehe Schritt für Schritt. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen, irgendwann ist auch dies vollbracht.
Ich überquere eine befahrene, kurvige Straße, tauche noch einmal kurz in den Wald ein und muss dann schon wieder ordentlich aufwärts, um zur Burg zu kommen. Oben bin ich dann doch ein wenig außer Atem und überlege kurz, ob ich hier Pause mache. Immerhin gibt es ein Café.
Doch meine Entscheidung fällt dagegen aus. Es ist noch früh, und ich habe noch einiges an Kilometern vor mir, also weiter, gleich wieder in den Wald hinein. Pause geht auch später noc.
Hochmut kommt vor dem Fall
Nach zwanzig Minuten höre ich Stimmen und sehe kurz darauf zwei Männer, die mir entgegenkommen. Als ich grüße, fragen mich Vater und Sohn mit Schweizer Akzent, wie weit es noch bis zur Burg sei. Ich teile meine Erkenntnis und sage, ich sei dort vor zwanzig Minuten gewesen. Wo ich denn gestartet sei und wo es hingehe, will der Sohn, der ungefähr gleichaltrig ist, wissen.
Als ich sage, dass ich heute bis kurz vor St. Goarshausen gehen möchte und in Osterspai gestartet bin, schaut er mich ungläubig an. Das seien ja mehr als zwei Etappen! Und schneller als drei Kilometer pro Stunde schaffe man auf dem Rheinsteig eh nicht. Ich schaue verwundert und sage, dass ich im Schnitt vier km/h mache, was er irgendwie nicht so lustig findet.
Es gehe nicht ums Tempo, sondern darum, die Gegend zu genießen, klärt er mich auf. Da bin ich nun wirklich froh, dass mir das endlich mal jemand sagt. Ich dachte immer, es gehe darum, einen neuen Rekord aufzustellen. Ich lächle freundlich, verabschiede mich und gehe weiter.
Na ja, nicht viel weiter, um genau zu sein, denn kurz darauf stehe ich vor einer Leiter, die direkt im Hang platziert wurde und an der kein Weg vorbei führt. Auf der einen Seite sind Holzlatten und Stromkabel, auf der anderen Seite Hang und Stacheldraht. Ich frage mich kurz, ob hier irgendwo eine versteckte Kamera ist.
Dass ich mit dem 12-Kilo-Rucksack wohl kaum über das Ding steigen werde, ist mir schnell klar. Ich sehe nicht, wie ich mich halbwegs geschmeidig auf der Leiterspitze beim Übersteigen drehen können soll. Von einigen Serpentinenschleifen weiter unten sieht mir der Sohn frohlockend zu und ruft: „Ich sag ja, drei km/h.“
Das kann ich so nun wirklich nicht stehen lassen. Ich begutachte die Situation, sehe, dass sich bereits jemand an den Drähten an der Seite zu schaffen gemacht hat, nehme den Rucksack ab und hieve ihn durch die Lücke in der Umzäunung. Und dann entscheide ich mich, mit mir selbst einfach ähnlich zu verfahren. Hat ein bisschen was von „Der heiße Draht“, wie ich mich da möglichst elegant zwischen den Drähten hindurch schlängele. Aber hey, es funktioniert. Ein letzter triumphierender Blick auf den Schweizer unter mir, ein freundliches Alles Gute und schon kann ich weiter. Da staunt der Klugscheißer.
Aber wie in so vielen, großen Geschichten kommt auch in dieser Hochmut vor dem Fall. Keine fünf Minuten später werden meine vier km/h endgültig gestoppt. Ich laufe gerade in Richtung einer Wiese und denke noch so bei mir, dass es hier aber ganz schön matschig ist, als mir mein Bein nach vorne wegrutscht und mein Po direkten Kontakt mit dem Rheinsteig aufnimmt. Et voilà – ich sitze mitten im Matsch.
Da lachen ja die Hühner oder so ähnlich
Schöner Scheiß – Hose voller Dreck, Hände voller Dreck und die Stöcke sind ebenfalls besudelt. Es ist einfach alles voller Matsch. Ich suche mit meinen dreckigen Händen nach Taschentüchern, mache dabei natürlich noch mehr dreckig und wische halbherzig an mir herum. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Lachen oder Schimpfen soll.
Und dann höre ich im Gebüsch neben mir einen Vogel, der Geräusche macht, als würde er sich totlachen. Was auch immer das für ein Vieh ist, ich würde ihn in diesem Moment zu gern zum Abendessen braten. Als der Vogel drei Minuten später immer noch gackert, muss ich selbst kichern. Was für eine absurde Situation. Und wie viel Glück ich mal wieder habe, dass es weicher Matsch ist und darunter keine Steine stecken. Ja, ich bin dreckig, aber immerhin nicht verletzt. Und irgendwie habe ich mir das auch ein kleines bisschen verdient, mit meinen großspurigen vier km/h.
Vor mir liegen immer noch ca. 15 Kilometer. Vorbei an englischen Ponys und südafrikanischen Ziegen, die hier als tierische Rasenmäher leben und deren Gehege ich die Leiter von vorhin verdanke, geht es weiter in Richtung Kestert.
Oh my gosh, ich werde wunderlich
Als nächstes erreiche ich den kleinen Ort Lykeshausen. An einem Stand kann man sich Äpfel für 10 Cent nehmen. Solche Verpflegestationen, die ausschließlich auf Vertrauen beruhen, mag ich sehr. Am Ortsausgan laufe ich auf dem Feldweg auf ein lautstark Englisch sprechendes Pärchen auf, das gerade ein Stückchen Apfel an eine fette Schnecke am Wegesrand verfüttert hat.
Ich komme nicht so richtig an den beiden vorbei und merke, wie sehr mich das Gequatsche stört, vor allem da jeder zweite Satz von „Oh really“ oder „oh my gosh“ abgerundet wird, und das alles mit einem unfassbar breiten, britischen Akzent. Im Wald schaffe ich es endlich zu überholen, grüße und sehe zu, dass ich schnell Abstand und damit auch Stille zwischen uns bringe. Schon komisch. Sonst beschwere ich mich laufend, dass es so wenig Menschen auf dem Weg gibt, und wenn es dann mal welche gibt, ist es mir auch nicht recht. Offensichtlich werde ich langsam wunderlich.
Um zwei erreiche ich die Hindenburghöhe und sichere mir einen Platz auf der einzigen Bank, vor einem Bauarbeiter-Container und mit Blick auf den Rhein und die Feindlichen Brüdern. Immer wieder schön, wenn man mit eigenen Augen sehen kann, was man innerhalb von gerade mal zwei Stunden an Strecke zu Fuß zurück gelegt hat. Ich packe meine Brote aus und mummele mich in meine Windjacke.
Nicht lange und ich höre „oh my gosh“ durch die Bäume. Dann steht das Pärchen auch schon neben mir und genießt den Ausblick. Wir kommen ins Gespräch, und ich erfahre, dass die beiden Anfang 30-Jährigen aus London sind. Katy ist bei Internetrecherchen auf den Rheinsteig gestoßen und da sie noch nie Fernstrecke gewandert sind und auch noch nie in Deutschland waren, haben sie sich entschieden, in fünf Tagen von Koblenz nach Bingen zu laufen.
Sie fragen, was mich hierher verschlagen hat, und ich erzähle ihnen von meinem Wanderbegeisterungsauftakt Jakobsweg, von dem sie noch nie gehört haben und natürlich auch von meiner aktuellen Wanderung, meinem heutigen Sturz und der damit verbundenen optischen Inkontinenz und dass sie die ersten Leute sind, die ich treffe, die mehrere Tage am Stück laufen. Katy und Tom sind in Kamp Bornhofen gestartet und wollen bis nach St. Goarshausen. „Wir sehen uns sicher später wieder“, lachen sie. „Bei deinem Tempo überholst du uns bestimmt schnell.“
Oase in der Gastronomie-Wüste: Uschis Wanderstation
Unter Quietschen geht die Tür des Containers hinter mir auf, und ich unterhalte mich auch noch mit dem Forstarbeiter, der dem Wohnwagen entsteigt. So viel Gesellschaft auf einmal, das ist ja geradezu unheimlich. Er wünscht mir alles Gute für den Weg bis Wellmich („Ist aber noch ein ordentliches Stück“).
Eine Stunde später bin ich kurz vor Kestert, wo diese Etappe offiziell enden würde. Ich steige nicht in den Ort hinab, sondern bleibe auf dem Rheinsteig und laufe nach Oberkestert, wo ich mit Uschis Wanderstation ein echtes Juwel finde.
In dem kleinen Café mit Außenterrasse, bekommt man alles, was das Wanderherz begehrt – Kaffee, Kuchen, Eis und Getränke, in meinem Fall eine Cola. Drinnen sitzt eine rüstige, laute, rauchende Frauengruppe, die hier offensichtlich ihren Stammtisch abhält.
Wenig später tauchen auch meine beiden Engländer auf, die unnötigerweise bis hinunter nach Kestert gelaufen sind. Wir freuen uns alle über das seltene Rheinsteigglück, eine Einkehrmöglichkeit direkt am Weg gefunden zu haben.
Über Stock und Stein
Weiter geht es. Ich passiere die Pulsbachklamm und erhole mich ein wenig auf meinem Weg durch Streuobstwiesen, der dann folgt. Doch es dauert nicht lange, da wird der Weg auch schon wieder anspruchsvoll. Ich kenne das inzwischen zur Genüge. Der Rheinsteig ist nichts für Pussies. Ich balanciere über Schiefervorsprünge auf teilweise sehr schmalen Pfaden nach unten. Einmal mehr bin ich froh, Stöcke dabei zu haben, mit denen ich das Gleichgewicht besser halten und mich abstützen kann. Um zwanzig nach vier ist dann auch dieses Stück geschafft.
Kurz kämpft sich die Sonne durch. Ich stehe auf dem Bergbau-Lehrpfad. Ein alter Grubenwagen und eine Infotafel erinnern an die Zeit, als hier noch unter harten Bedingungen Erze in der Grube Gute Hoffnung geschürft wurden. Die Schicksale armer Bauern, die mit Staublungen kämpfen mussten, weil sie keine andere Wahl hatten, als in der Grube zu arbeiten, um ihre Existenz zu sichern, sind nur ein Beispiel.
Laut Tourenplaner Rheinland-Pfalz, der einzigen Orientierungshilfe, die ich unterwegs nutze, kann ich jetzt auf Serpentinen gemütlich ins Tal nach Wellmich schlendern. So bin doch etwas überrascht, als der Weg kurz darauf noch einmal leicht ansteigt, vorbei an einer voll bepackten Kuhwiese. Erst jetzt fällt mir auf, wie selten ich unterwegs die gemütlichen Rindviecher gesehen habe.
Das Wetter kann sich mal wieder nicht zwischen Nieselregen und Sonnenschein entscheiden. Nach der Kuhwiese laufe ich an einem Acker vorbei, über dem sich bedrohliche Wolken gesammelt haben, die fast an einen Tornado erinnern. In solchen Momenten fühle ich mich immer unheimlich klein und unbedeutend angesichts der Naturgewalten um mich herum. Es ist schon beeindruckend, auf weiter Flur allein auf so ein Szenario zu schauen. Irgendwie husche ich zwischen den Regentropfen durch und werde nicht nass.
Aug in Aug mit einer Maus
Um 17 Uhr sehe ich endlich mein heutiges Ziel unter mir liegen. Ich stehe Aug in Aug mit Burg Maus, zu deren Füßen sich das Örtchen Wellmich ausbreitet. Unerwartet setzt sich noch einmal die Sonne durch. Perfektes Timing, so kann ich noch ein paar Strahlen tanken. Meine heutige Gastgeberin wird ja erst um 18 Uhr an der Unterkunft sein. Da mache ich es mir doch glatt so lange in der Sonne gemütlich.
Gegen halb sechs wird es dann doch ein wenig frisch. Zeit nach drinnen zu gehen und zu duschen. Verschwitzt vom Wandern friert es sich einfach schneller. Ich gönne mir den letzten Abstieg des Tages ganz gemütlich.
„Zum Saustall“, das auf der Flanke noch von seinem ehemaligen Namen Germania geziert wird, erreiche ich gegen zwanzig vor sechs. Ich habe die stille Hoffnung, dass Doris bereits etwas früher dort ist, wenn sie um 18 Uhr öffnen will, doch ich habe die Rechnung ohne die Wirtin gemacht.
Willkommen bei Loriot
Die Anlage ist menschenleer. Hier ist definitiv niemand. Ich richte mich notgedrungen auf der Terrasse vor dem Gebäude häuslich ein und ziehe jede Viertelstunde eine weitere Jacke an. Es wird einem ja nicht wärmer, wenn man nach so einem Tag plötzlich still sitzt. Es dauert vier Zigaretten, drei Oberteile und einige gecrushte Candies, bis um viertel nach sechs (!) endlich ein Auto vor der Gaststätte gemütlich vorfährt.
Ich fantasiere inzwischen nur noch von einer warmen Dusche und der Möglichkeit, meine Schlammsachen zu waschen. Wer nun aber denkt, dass ich nach Ankunft der Inhaber ein paar Minuten später im Gebäude gewesen wäre, wird genauso enttäuscht wie ich. Stattdessen werde ich unfreiwilliger (und frierender) Zuschauer eines Loriot-ähnlichen Sketches.
Ehemann Elmar fährt das Auto vor. Ihm (dem Auto, nicht dem Ehemann) entsteigt eine sehr große, sehr breite Frau, die sich wankend in Bewegung setzt und am Kofferraum bremst. Sie hievt eine 10 Kilogramm Packung Tiefkühlfritten aus den Tiefen, schultert sie und setzt sich in Bewegung, direkt auf mich zu. Ich werde im Vorbeigehen maximal mit einem Nicken bedacht – dann verschwindet sie auch schon in einem Schuppen neben dem Haus.
Parallel taucht eine Anwohnerin auf und sabbelt Elmar am Auto voll, der daraufhin von Doris aus dem Schuppen angeschnauzt wird, dass er sich gefälligst beeilen soll. Doris wackelt erneut an mir vorbei zum Auto. Elmar schließt sich an. Beide schleppen ihre Einkäufe wie Hamster in den Bau. Es ist, als sei ich gar nicht da. Endlich ist alles verstaut. Endlich hat Doris Zeit. Aber nein, natürlich nicht für mich, sondern für die Nachbarin, mit der sie sich nun in Ruhe unterhalten kann.
Rewe hat den Hefeteig abgeschafft
Nach weiteren zehn Minuten weiß ich einiges mehr: das Auto der Nachbarin springt nicht an. Deswegen kann sie Doris morgen nicht nach St. Goarshausen fahren. Und bei Rewe gibt es keinen fertigen Hefeteig mehr. Das wiederum weiß Doris zu berichten. Dabei war der immer so praktisch, wenn man mal schnell etwas backen musste. Das ist eine Unverschämtheit von diesem Rewe. Er hätte wirklich mal Rücksprache mit Doris halten können.
Dann, also gegen 18:35 Uhr, beendet Doris das Gespräch und sagt wichtig: „Ich habe keine Zeit mehr (Kopfnicken in meine Richtung), ich habe Kundschaft.“ Sie baut sich zu voller Größe und Breite vor mir auf und mustert mit vernichtendem Blick die fein säuberlich gesammelten Kippenstummeln auf dem Boden. „Was ist das denn für eine Schweinerei, junge Dame? Die schmeißt du jetzt aber mal ganz schnell in den Aschenbecher.“
Ich glaube, ich spinne! Mal abgesehen davon, dass „junge Dame“ in diesem Tonfall eine Frechheit ist, ist von einem Aschenbecher natürlich weit und breit nichts zu sehen, sonst hätte ich ihn ja benutzt. Darüberhinaus hätte ich ein „Guten Tag“ und ein „Tut mir leid, dass ich zu spät bin“ ganz angemessen gefunden.
Meine perplexen Erklärungsversuche werden im Keim erstickt: Doris hat extra einen Stuhl UND einen Aschenbecher in den Hauseingang des Nachbarhauses (bzw. den Eingang zum Festsaal, aber das weiß ich ja nicht) gestellt. Falls es regnet. Und falls ich rauche. Wieso ich mich dann hier auf die Bank setze? Ich hingegen sehe im Eingang ausschließlich einen Hundenapf, der wohl kaum mein Aschenbecher ist und äußere meine Bedenken vorsichtig.
Doris hält mich inzwischen offensichtlich für leicht minderbemittelt: „Dann geh mal gucken, was das ist.“ Wirklich schade, dass zwischen mir und St. Goarshausen vier Kilometer Rheinsteig und viel Dunkelheit liegen. Ich hätte sonst nach diesem herzlichen Empfang das Weite gesucht. So gehe ich zum Hauseingang gegenüber und finde den Aschenbecher hinter dem Stuhl. Doris‘ triumphierendes „Siehste!“ im Hintergrund der Szenerie überhöre ich geflissentlich. Nachdem ich meine Stummel entsorgt habe, darf ich endlich rein.
900 Schweineaugen starren mich an
In der Wirtschaft angekommen drückt mir Doris einen Schlüssel in die Hand und schickt mich hoch, erste Tür links. Sie selbst schafft die Treppen vermutlich nur mit viel Mühe, wenn überhaupt. Das sagt sie auch. Aber das finde ich sicherlich gerade noch selbst.
Oben erwartet mich ein Etagenklo, eine Etagendusche (wusste ich schon aus dem Internet) und ein Zimmer mit zwei Einzelbetten und vier verschiedenen Handtüchern, darunter eins mit Mickey Maus Stickerei. Mir ist inzwischen wirklich alles egal. Es ist sauber, und es gibt warmes Wasser. Das ist gerade das Allerwichtigste. Ich dusche mich und wasche parallel heimlich meine Sachen. Fünf Minuten lang stehen meine Füße in einer Schlammpfütze, weil gefühlt unendlicher Dreck aus meiner Hose kriecht.
Frisch geföhnt gehe ich wieder eine Etage nach unten, denn Doris hat sich netterweise bereit erklärt, mir trotz ihres stressigen Tages etwas zu kochen. Ich habe mich für Sauerkraut und Knödel entschieden. Unten erstrahlt die gesamte Wirtschaft im Scheinwerferlicht. Doris hat die Festbeleuchtung angeworfen, damit ich ihre Schweinesammlung in voller Pracht bewundern kann. Es ist wie ein Autobahnunfall. Ich kann einfach nicht wegschauen und so schauen ca. 450 Schweine zu mir. (Ich habe mich leider nicht getraut, Fotos zu machen, was ich bis heute bereue.)
Gute Zeiten, schlechte Zeiten
Doris und ich hatten nicht gerade den besten Start, denke ich und versuche mich an ein bisschen Smalltalk. Wie es zu ihrer Sammelleidenschaft kam, will ich wissen. Statt einer Antwort drückt sie mir die Speisekarte in die Hand. Ob ich lesen könne? Auf der Rückseite stünde die Geschichte, und die Speisekarte läge schließlich auch auf meinem Zimmer.
Die Story ist mir ehrlich gesagt schnuppe, zumal ich sie schon kenne, denn ich habe sie auf der Webseite gelesen. Mir ging es eigentlich nur darum, irgendeine Art von Gespräch zu führen. Aber gut. Dann nicht. Doris und ich werden vermutlich keine Freunde mehr. Sie ist eben hart aber herzlich, wobei herzlich nur Sonntags zwischen 11 und 12. Heute ist leider Montag. Kurz darauf sitze ich mit einem Glas ortsansässigem Weißwein am Tisch vor meinen Knödeln. Doris setzt sich mit einem Federweißer ungefragt dazu.
Das Getränk scheint ihre Stimmung zu heben und die Zunge zu lockern. Während ich kaue, erzählt sie vom Hochwasser, das den kleinen Wort immer wieder heimsucht, von der ungebrochenen Liebe der Anwohner zum Rhein und von den Hoffnungen, die man an den Rheinsteig geknüpft hatte. Er sollte Tourismus und Gastronomie wiederbeleben, doch leider wurden diese Hoffnungen enttäuscht. Da der Steig die meisten Orte links liegen lässt, fällt nicht so viel für Gastronomen ab.
Sie hat extra ihre Öffnungszeiten angepasst, erklärt mir Doris. Sie öffnet die Küche früher, da die meisten Passanten auf dem Weg nach St. Goarshausen vorbeikommen und nicht über Nacht bleiben. Doris schwärmt von den Zeiten, als die Kelly Family ihre Loreley-Konzerte gegeben hat, und als ihr die Eltern hysterischer Teenager die Hütte einrannten.
Mir tut Doris inzwischen leid. Sie will das Lokal, das schon ihrem Vater gehörte, verkaufen. Sie kriegt es gesundheitlich nicht mehr so auf die Reihe und es macht mehr Arbeit, als es abwirft. Gemeinsam verhandeln wir die Frühstückszeit.
Ich würde gern um 7:30 Uhr essen, da morgen die Königsetappe bis nach Kaub vor mir liegt, die zudem in meinem Fall durch den Start in Wellmich noch länger ausfällt. Doris möchte eigentlich erst um acht das Frühstück servieren. Sie wohne schließlich nicht hier im Haus (sondern, wie sich später herausstellt, fünf Minuten von hier – zu Fuß, versteht sich). Wir einigen uns diplomatisch auf viertel vor acht. Ich bezweifle, dass es auch nur eine Minute früher als acht etwas geben wird, so gut wie das heute mit der Ankunftszeit geklappt hat.
Ich husche noch mal kurz vor die Tür, wo ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Hauch Handynetz ergattern kann und gehe danach ins Bett. Es ist 21:15 Uhr und in Ermangelung von TV und Internet entscheide ich mich, sofort zu schlafen. Der Tag war anstrengend genug. Ich bin immerhin zehn Stunden gewandert. Das fordert seinen Tribut und morgen möchte ich fit sein.
Zeitreise
Vorwärts: Wie geht es morgen mit meiner Gastgeberin und mir weiter? Bekomme ich Frühstück und wenn ja, wann?Und schaffe ich es über die Königsetappe? Finde es raus auf der Etappe von Wellmich nach Kaub.
Rückwärts: Hast du den Beitrag vom Vortag verpasst? Dann komm unbedingt noch mal mit Oberlahnstein nach Osterspai und geh mit auf Trimmdichpfaden durch die grüne Hölle, vorbei an Füchsen und brennenden Hexen bis ins falsche Hotel.
Hast du den Anfang verpasst und möchtest die ganze Wanderung nachlesen? Dann geht es hier entlang zu Etappe eins von Bonn nach Königswinter.
Kommentare und Ergänzungen
Warst du selbst auf dem Rheinsteig unterwegs? Was war die kurioseste Begegung, die du hattest? Kennst du meine heutige Etappe? Bist du pflichtschuldigst über die Leiter geklettert, oder hast du dir auch einen Alternativweg gesucht? Was hat dir gefallen, was eher nicht so, und gibt es noch etwas zu ergänzen?
Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.
Wow, da bist du ja wirklich eine mordsmäßig lange und anstrengende Etappe gewandert!
Wer ist eigentlich der schon mehrfach genannte Rheinsteig-Profi? Ich habe in einer meiner hinteren Gehirnzellen noch so eine Resterinnerung, dass du ihn ursprünglich in deinen Moselcamino-Berichten schon mal erwähnt hast, oder??
Es gab Mr Rheinsteig – das war derjenige, mit dem ich in Traben Essen war und den ich aus dem alten Job kenne.
Das hier war aber der Herr an der Theke vom Vorabend 🙂
Und ja, es war ein ordentliches Stück!
Oha, wenn da das Frühstück am nächsten Morgen nicht erst nach 8 auf dem Tisch stand. 😉 Ich bin gespannt.
Kannst du hellsehen, David? 😂😂
Nee, aber ich würde es zumindest bei deiner Vorgeschichte nicht anders erwarten. 🙂
Es kommt noch viel, viel schlimmer – so viel sei an dieser Stelle verraten
Und da wollte ich dir unbedingt den Malerweg empfehlen und muss jetzt lesen, dass du keine Stufen magst,wenn du mit schwerem Rucksack unterwegs bist. Das ist sehr schade. Der Malerweg war für mich bis jetzt meine schönste Mehrtageswanderung. Ich freue mich über deine Berichte und kann glauben, welche großen Strecken du bewältigst. Chapeau!
Der Malerweg ist auf meiner Deutschlandliste ganz oben. Wollte ihn eigentlich letztes Jahr gehen, aber dann wurde es der Hexenstieg, den ich ebenfalls sehr empfehlen kann. Der Rheinsteig war hingegen nicht ganz meins, wenn man von der Traumetappe ab Assmanshausen absieht. Er war mir einfach zu einsam am Abend. Da kann der Steig natürlich nix für 😊