Tag 12 auf dem Rheinsteig handelt von großen Ambitionen: ein Adliger baut sich einen Park mit allen Stilmitteln der Romantik, inklusive Zauberhütte und mittelalterlicher Fake-Burg, eine überdimensionale Statue verspricht dem deutschen Reich Schutz und zwei Frauen mischen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Männerdomänen auf. (12. Oktober 2017, ca. 20 km)
Das Hotel Zwei Mohren bietet mir das luxuriöseste Frühstück seit fast drei Wochen, denn im Speisesaal wird die mannigfaltige Auswahl am Buffet von einem Waffeleisen abgerundet. Ich esse mich so satt ich kann und sorge zudem für später vor. Heute geht es nämlich noch mal hoch hinaus. Der Anstieg aus Assmannshausen heraus soll es in sich haben.
Auszug ohne Aufzug
Ich überquere zum hoffentlich letzten Mal die Bahngleise (natürlich warte ich mal wieder, dass ein Zug durchfährt) und laufe zurück zur Alten Bauernschänke, in der ich gestern Abend mit Hans gegessen habe. Um die Ecke ist das Hotel mit Spa, aus dem die nette Dame gestern meine Unterkunft organisiert hat.
Gleich gegenüber befindet sich der Aufgang zur Seilbahn. Das altmodische Schild begeistert mich derart, dass ich kurz versucht bin, auf dieses Transportmittel umzuschwenken, entscheide mich dann aber dagegen. Wanderer-Ehre und so.
Als Dankeschön für so viel Ehrhaftigkeit geht es steil und steiler nach oben. Erst führt der Rheinsteig durch Wohngebiet, dann wird es waldig. Ich kann mir ungefährt ausmalen, wie durchtrainiert die Beine der Anwohner sein müssen!
Je steiler es ansteigt, desto häufiger frage ich mich, ob ich unter Masochismus leide. Wieso gestalte ich meinen Auszug aus Assmanshausen so kompliziert und erklimme zu Fuß mit fast 450 km in den Beinen die Höhenmeter. Wehmütig denke ich an die Seilbahn zurück, die ich dann kurz darauf unterlaufe. Menschenleer schwebt der Sessellift über meinen Kopf hinweg.
Adlige Ambitionen oder Ausflug in die Romantik
Nach dem anstregenden, halbstündigen Aufstieg, genieße ich es umso mehr, als ich oben angekommen bin. Hier wartet der phantastische Osteinsche Park auf mich, von dem ich auch im Rückblick hin und weg bin.
Dieses Stück des Weges ist auch für mich der schönste Abschnitt. Das hat nicht umsonst JEDER, den ich in den letzten Tagen getroffen habe, prophezeit. Dass ich das Fleckchen im Sonnenschein genießen darf, hilft natürlich auch enorm.
Der Park wurde von einem ambitionierten Adligen im 18. Jahrhundert angelegt. Er sollte die deutschen Romantiker inspirieren. Der gute Graf Ostein ließ sich nicht lumpen. Er rettete nicht bloß hunderte uralte Eichen und Buchen, sondern baute sich auch noch ein paar special Gimmicks in den Vorgarten: eine Zauberhöhle, eine niegelnagelneue Mittelalterburgruine (kein Widerspruch) und einen Rittersaal. Letzterer ist heute leider nicht mehr zu bewundern. Nicht kleckern, klotzen, schien das Motto des werten Herrn.
Während ich durch die Idylle schlendern, wandern meine Gedanken in die literarische deutsche Romantik. Ob Karoline von Günderode jemals hier war, frage ich mich. Sie bzw. ihr viel zu unbekanntes Werk waren Gegenstand meiner Magisterarbeit. Die deutsche Romantikerin, die so gern sein wollte, wie ein Mann, die schreiben wollte, wie ein Mann und die mindestens so mutig mit den Romantik-Motiven jonglierte, wie die hochgelobten Novalisse und Brentanos.
Als Frau fand sie nie so recht Gehör. Sie galt als unschicklich ambitioniert. Zu allem Übel fiel ihre Liebe auf einen verheirateten Professor. Mit Mitte 20 nahm sie sich das Leben.
Märchenflair samt Zauberhöhle
Ich lasse mir im Park alle Zeit der Welt und bewundere bei meiner Ankunft als erstes die vielen Rehe in ihrem Gatter, die gemütlich vor sich hin äsen. Dann geht es am Schlösschen vorbei hinein in den Park. Ich kann mich gar nicht satt sehen, an all den alten Bäumen. Sie flößen mir immer Respekt ein. Was die wohl alles schon gesehen haben?
Wie ich dem Pfad folge, gelange ich zur Zauberhöhle. Mich erwartet ein kleiner, niedriger Eingang, hinter dem nur Dunkelheit ist. Bewaffnet mit dem Licht meines iPhones (ohne traue ich mich nicht), bahne ich mir meinen Weg durch die Dunkelheit. Der schmale Weg endet in einem hellen Raum, mit vielen Fenstern. Ich glaube, man soll hier die Erleuchtung oder zu sich selbst finden.
Ich suche und finde lediglich den Ausgang und setze meine Entdeckungstour fort. Als nächstes Highlight erwartet mich die mittelalterliche Burg. Graf Ostein hat hier ganze Arbeit leisten lassen. Neben all den echten Burgen in der Umgebung könnte man glatt glauben, es handle sich auch bei diesem um ein Bauwerk aus uralten Zeiten. Von hier oben hat man übrigens einen fantastischen Blick auf den Rhein.
Star auf der Klassenfahrt
Um mich rum toben lauter Zehnjährige, die auf Klassenfahrt sind. Ein Junge beäugt interessiert meinen Rucksack und mein Outfit, und wagt, nach Details zu fragen. Ob ich etwa wandere? Ich erkläre ihm, dass ich bereits seit anderthalb Wochen unterwegs bin und dass ich in Bonn aufgebrochen bin. Er kann es gar nicht glauben.
Er läuft zu seinen Klassenkameraden und seinem Lehrer und verkündet stolz: „Die Frau da vorne ist von Bonn hergelaufen, und sie hat nicht einmal ein Auto oder einen Zug benutzt!“ Ich muss in mich hinein lachen. Diese Geschichte prägt sich ihm vermutlich mehr ein, als alles, was er sonst heute noch gesehen hat.
Als sich mein Aufenthalt im Park dem Ende zuneigt, bin ich fast ein wenig traurig. Was für ein herrliches Fleckchen Erde das doch war. Ich verlasse den Wald und lande kurz zwischen Weinstöcken. Als ich mich umdrehe, kann ich noch einmal einen Blick auf die Mittelalter-Fake-Burg werfen.
Sonnenanbeter unter sich
Ich gelange zu einem kleinen Heiligenschrein, vor dem sich eine Bank und ein Weintresor befindet. Letzterer ist leer, stelle ich beim Öffnen fest. Es ist erst 12:00 Uhr, und so hält sich meine Enttäuschung über mangelnde Füllung in Grenzen.
Die Sonne scheint so schön, dass ich mich auf eine Bank setze und einfach nur die Wärme ihrer Strahlen genieße. Unter meiner Bank macht es sich eine Eidechse gemütlich. So sonnen wir uns beide ein wenig und genießen den wunderschönen Blick auf Bingen, das auf der anderen Rheinseite vor sich hin schimmert.
Als ich gerade wieder unterwegs bin, laufe ich an einem Riesenpilz aus Stein vorbei. Auf, neben und vor ihm stehen lauter Steinmännchen darauf vorbei. Und auch er selbst sieht aus, als hätte ihn jemand zur Dekoration gestapelt.
Ich habe immer noch nicht ganz raus, was es mit diesen Steinhäufchen auf sich hat. Dienen sie der Wegmarkierung oder haben die Wanderer einfach nur Langeweile?
Geschichtscrashkurs mit Honey
Kaum bin ich aus den Weinbergen und einem kleinen Waldstück heraus, wimmelt es auf einmal nur so von Menschen. Mir kommt eine italienische Familie entgegen, die wissen will, ob es lohnt, den Weg noch in diese Richtung fortzusetzen. Mit strahlenden Augen erzähle ich ihnen vom Osteinschen Park und freue mich, als sie meinem Tip folgen.
Kurz darauf bin ich am Niederwald Denkmal. Die gigantische Germania verspricht laut Inschrift dem Vaterland, es könne ruhig schlafen, weil die Wacht am Rhein alles im Griff habe (Kernbotschaft von mir auf das Nötigste reduziert). Hier laufen Scharen von Asiaten und Amis herum. Eine Dame mit breitem Südstaatenakzent wundert sich gemeinsam mit ihren Freundinnen, was es wohl mit dieser überdimensionierten Walküre auf sich habe. Ich erkläre ihr, dass es in dieser Gegend häufiger mal Ärger mit den Franzosen gab. „Thanks, honey“.
Kurz darauf beobachte ich eine dreiköpfige Familie beim Versuch, ein Selfie mit Mutters Handy zu schießen. Da es nicht so recht gelingen will, biete ich miene hilfe an und stoße auf Dankbarkeit. Im Anschluss revanchiert man sich natürlich gern.
Ich freue mich riesig. Endlich mal ein Bild von mir, auf dem ich zu sehen bin, ohne verformte Oberarme (Selfie). Davon gibt es auf der ganzen Wanderung vielleicht drei Stück. Das zeugt davon, wie einsam mein Weg hier in der Regel verläuft.
Ich gehe die Stufen zur Germania hoch und umrunde die imposante Lady einmal, bevor ich mich auf die Stufen des Pavillons auf der gegenüberliegenden Seite setze und das bunte Treiben auf mich wirken lasse. Vor mir liegen noch 13 km.
Hinter dem Denkmal habe ich erneut die Möglichkeit, eine Seilbahn zu nutzen und könnte von hier aus gemütlich nach Rüdesheim gondeln. Ich schenke mir diesen Abstecher, mir ist nicht so nach Touriprogramm. Das Gewusel rund um das Niederwald Denkmal hat mir gereicht.
Ich bleibe lieber auf dem Rheinsteig und nehme das nächste Highlight ins Visier.
Auf einen Kaffee bei Hildergard
Es ist schnell gefunden. In der Ferne sehe ich das Kloster Hildegardis. Es ist noch recht neu und wurde im Jahre 1904 geweiht. Die Schwestern, die hier leben und arbeiten, halten die Erinnerung an ihre Namenspatronin am Leben.
Hildegard von Bingen gehört ebenfalls zu den Frauen, die sich vom männlichen Zeitgeist nicht irritieren ließen und einfach allen Konventionen zum Trotz ihr Ding durchzogen. Hildegard für ihren Teil hörte Stimmen, hatte Visionen, interpretierte die Bibel, komponierte und erforschte die Natur, im besonderen Heilkräuter.
Diese außergewöhnliche Frau, die in dieser Gegend immer schon als Heilige galt, wurde erst unter dem deutschen Papst Benedikt vor wenigen Jahren tatsächlich heilig gesprochen. Grund für die Kanonisation war übrigens nicht ihr Wirken, sondern die Tatsache, dass auch viele hundert Jahre nach ihrem Tod, Menschen ihr immer noch besondere Taten und Wunder zuschreiben. Wegen dieser Verehrung über die Zeit hinweg sprach der Vatikan sie schlussendlich doch noch heilig.
Im Klostercafé, in dem behinderte Menschen Arbeit finden, bestelle ich mir Traubensaftschorle, Milchkaffee und ein Stück Kuchen. Ich sitze schon wieder in der Sonne, und es ist einfach herrlich. Als ich aufgegessen habe, schlendere ich durch die Kirche und bestaune die Fenster und die wundervolle Deckenverzierung. In den Gängen informieren zahlreiche Tafeln über Leben und Wirken Hildegards von Bingen.
Wieder draußen schaue ich auf mein Handy und entdecke eine SMS meines Ex-Chefs. Ob ich ihn bei Gelegenheit zurückrufen könne, es sei wichtig. Wie ihr vielleicht wisst, habe ich gekündigt. Die Tatsache, dass er will, dass ich mich bei ihm melde, hätte mich früher wahnsinnig wütend gemacht. Von wegen Urlaub und Abschalten etc. Heute bin ich so entspannt, dass es mir völlig egal ist und so klingle ich durch. Wenig überraschend stellen wir fest, dass ich ihm nicht helfen kann und reden dann noch ein wenig über meine Wanderung und meine berufliche Zukunft.
Mir kommt mein alter Job jetzt schon wahnsinnig weit weg vor, obwohl ich fast zehn Jahre in der Firma gearbeitet habe. Ich hatte anfangs vermutet, dass es dauern würde, bis ich loslassen könne. Jetzt merke ich, dass ich bereits mitten drin bin. Sein Problem könnte mir egaler nicht sein. Mit dieser inneren Ausgeglichenheit nehme ich seinen kleinen Versuch, mir meine Entscheidung ein wenig madig zu machen, grinsend zur Kenntnis.
„Ich hoffe, es fühlt sich nicht zu sehr nach einem Abstieg an“, sagt er pseudo-mitfühlend. Ich werde im neuen Job keine Personalverantwortung mehr haben, was ich als totale Befreiung erlebe. Kann er vermutlich nicht nachvollziehen und so lächle ich, als seine Spitze an mir abprallt. Am Ende des Gesprächs hat er mich noch ein weiteres Mal überzeugt, dass ich die absolut richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Im Franziskus-Disneyland
Auch danach wandle ich weiter auf christlichen Spuren. Nachdem ich durch Felder gelaufen und eine Straße überquert habe, führt mich der Rheinsteig erneut auf Feld- und Wiesenwege in Richtung des nächsten Klosters, dem Franziskanerkloster Marienthal. Der Abstieg ist ordentlich, und ich stolpere auf einem matschigen kleinen Weg talwärts.
In diesem Kloster wurde 1468 die älteste Druckerei der Welt gegründet, und es war lange ein bedeutender Pilgerort. Leider sehe ich keine Mönche. Dabei habe ich (wie immer) extra das Franziskus-Kreuz als Glücksbringer um, das mir Franziskanermönche im spanischen Kloster Hebron (Portugiesischer Jakobsweg im Mai) geschenkt haben.
Ich laufe einmal über das Gelände, mache einen kurzen Abstecher in die Kapelle und schaue dann fasziniert-entsetzt auf die vielen kitschigen Franziskus-Statuen im Klostergarten. Mal steht einer, mal sitzt einer, dazwischen allerleit Tiere. Es hat ein bisschen was von Disneyland.
Karrierechance Gämse
Was mich dann erwartet, halte ich erst für einen schlechten Witz. Es gibt keinen Weg. Zumindest keinen, den man sehen könnte. Stattdessen liegt vor mir eine steile Fläche, auf der überall Bäume stehen, und die ich nun irgendwie hoch gehen soll. Totaler Wahnsinn. Bin ich eine Gämse oder ein Steinbock?
Aber alles Trübsalblasen nützt nichts, von selbst komme ich hier nicht weg. Ich nehme also Anlauf, stemme mich auf meine Stöcke und peile immer einen Baum an, um ihn anschließend zu umarmen. So hangele ich mich mit gefühlt letzter Kraft aufwärts. Zwischendrin lege ich kleine Kunstpausen ein und fluche abwechselnd wie ein Berserker oder schnappe nach Luft.
Oben angekommen stehe ich im Wald. Toll! Kurz ist die Markierung nicht eindeutig und natürlich laufe ich in die falsche Richtung, was ich erst zehn Minuten später bemerke. So was nervt mich ja richtig. Also umkehren und das Stück noch einmal gehen.
Lob mit Graupensuppe
Eine knappe halbe Stunde später tauche ich aus dem Wald kurz vor einem Parkplatz auf. Eine Frau, die sich gerade an ihrem Kofferraum zu schaffen macht, erkundigt sich interessiert, was ich hier treibe. Als sie vom Unterfangen Rheinsteig hört, zollt sie mir Respekt. Das sei aber „tüchtig“, attestiert sie mir.
Ich muss lachen. „Tüchtig“ ist so ein Wort, das in meinem Wortschatz niemals aktiv vorkäme. Für mich klingt es irgendwie nach Graupensuppe und Wirtschaftswunder. Es könnte quasi auf direktem Wege einem ZDF-Mehrteiler mit Maria Furtwängler in der Hauptrolle entsprungen sein.
Marienkäferplagenopfer
Weiter geht es, diesmal durch Felder. Es zieht sich ganz schön, und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich unnötige Schleifen drehe. Immerhin scheint die Sonne nach wie vor.
Als ich am Waldrand eine Bank entdecke, beschließe ich, noch einmal zu pausieren. Meine Beine sind schon wieder leicht zittrig und auch die Füße tun mir weh. Könnte daran liegen, dass die Wege auf den letzten Kilometern ziemlich steinig waren.
An der Bank angekommen, kann ich die Pause leider nicht wirklich genießen, denn ich werde Opfer einer Marienkäferplage. Die eigentlich possierlichen Tierchen verbünden sich gegen mich und nehmen gesammelt Anflug auf meine Hose, meine Haare und mein Gepäck. Essen ist nicht, es sei denn, man möchte Marienkäfer. Immer wenn ich die kleinen Flugobjekte abschüttelt habe, dauert es keine 5 Sekunden bis ich wieder belagert werde. Widerwillig mache ich einen Abgang.
Noch eine weitere Stunde laufe ich querfeldein. Ich wundere mich, dass ich nicht schon längst am Ziel bin. Es waren doch eigentlich nur noch 13 Kilometer vom Niederwald Denkmal, und dort bin ich gegen halb zwei aufgebrochen. Das war vor drei Stunden.
Eine Stunde später kann ich Schloss Johannisberg in den Feldern ausmachen. Das Ende der heutigen Etappe ist endlich nah. Ich kann auch wirklich nicht mehr. So schenke ich mir den Umweg, den ich machen müsste, wollte ich mir die Wein-Kultstätte anschauen.
Ich bin zu müde und gebe die Adresse meiner Unterkunft bei Google Maps ein und lasse mich auf direktem Wege dorthin leiten. Am Ortseingang von Winkel bin ich so platt, dass ich mich tatsächlich noch mal auf eine Bank setze, die neben der kleinen Kapelle steht.
Ich weiß nicht, was los ist. Ich bin offensichtlich grunderschöpft von den Tagen, die hinter mir liegen. Das kenne ich wirklich nicht. Die heutige Strecke war eigentlich keine große Herausforderung, wenn man von dem ersten Anstieg und der teils steinigen Wegbeschaffenheit einmal absieht.
Ich mobilisiere meine letzten Kräfte, und raffe mich ein letztes Mal auf. 15 Minuten später, vorbei am Fitnessstudio und der ortsansässigen Feuerwehr, erreiche ich meine Pension. Mein Zimmer ist nett und das separate Bad lässt mich innerlich jauchzen.
Wiedersehen mit einem Idol
Nach dem üblichen Waschritual bin ich versucht, ins Bett zu sinken, aber mein Hunger gewinnt. Ich habe mir von meiner Gastgeberin ein paar Tipps geben lassen und mache mich auf den Weg in den Ortskern. Immer die Straße runter, unter den Gleisen hindurch und auf der Hauptstraße rechts ab, dem Essen entgegen.
Kurz bevor ich „Die Wirtschaft“ erreiche, erlebe ich meinen ganz eigenen, ganz besonderen Melancholiemoment. Es geht vorbei an einem hübschen, alten Haus, mit pastellfarbenen blauen Fenster- und Türverkleidungen, als ich ein Schild entdecke. Ich bin sprachlos und ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Hier, in diesem Haus, verbrachte Karoline von Günderode ihre letzten Wochen, bevor sie sich das Leben nahm! Ich muss ordentlich schlucken. Heute Mittag habe ich ja bereits an die Dichterin gedacht, als hätte ich geahnt, dass sie hier war. Und endlich klingelt es bei mir. Sie nahm sich in Winkel am Rhein das Leben, natürlich. Nur hatte ich diesen Ort früher nie mit Oestrich-Winkel in Verbindung gebracht.
Langsam gehen meine kleine Gänsehaut und ich weiter. Kurz darauf sitze ich im Gasthof und segle wie immer ein paar gute Meter unter dem Dresscode hindurch. Das Lokal ist voll. Außer mir haben sich alle fein zurecht gemacht, wie man das eben macht, wenn man auswärts Essen geht.
An die leicht verwunderten Blicke ob meines Outfits habe ich mich längst gewöhnt. Zudem stelle ich fest, dass es mir immer leichter fällt, alleine zu essen, und es trotzdem zu genießen. Ich bestelle mir ein Kürbis-Risotto und einen lokalen Weißwein und schaue mich im Laden um.
Auf Exhibitionistenjagd
Ich habe mich inzwischen darauf verlegt, anderen Gesprächen zu lauschen, wenn ich schon selbst niemanden zum Reden habe. Drei Tische weiter sitzen zwei Rentnerpaare. Man kennt sich seit Jahren, einer hat Geburtstag. Ich folge ihrem Gespräch und höre die grandiose Geschichte, wie eine der beiden Damen vor Jahren einem vermeintlichen Exhibitionisten aufgelauert hat, um ihn zu stellen und sich dabei ziemlich blamiert hat.
Die Geschichte kriege ich leider nicht mehr zusammen, aber ich weiß noch, dass ich mich arg zusammenreißen musste, um nicht in das anschließende Gelächter einzustimmen.
Als ich gegessen habe und es etwas ruhiger wird, winke ich die Inhaberin des Lokals an meinen Tisch. Die Günderode geht mir nicht aus dem Kopf, und so erkundige ich mich bei der Wirtin, wo ich den Friedhof und das Grab finden kann. Sie erklärt mir den Weg zur Kirche und skizziert, wo sich die Gedenktafel ungefähr befindet.
Ich breche auf, nicht ohne noch einmal über die Spruchweisheiten zu lachen, die als Deko draußen an der Wand hängen.
Auf dem Rückweg komme ich zwar an der Kirche vorbei, doch es ist so was von stockdunkel, dass ich den Versuch, um die Kirche herum zum Friedhof zu laufen und nach dem Grab zu suchen, schnell aufgebe. Das ist mir dann irgendwie doch zu gruselig. Vielleicht komme ich einfach morgen früh noch mal wieder.
Das ersehnte Ende
Eine halbe Stunde später liege ich im Bett. Morgen geht es nach Schlangenbad. Das sind noch mal 26 km. Ich hoffe auf bessere Wegbeschaffenheit als auf dem zweiten Teil des heutigen Weges. Es wird meine letzte richtige Etappe, bevor mir dann übermorgen nur noch 16 km bis nach Wiesbaden bleiben und die Reise vorbei ist.
Es wird wahrlich Zeit, denn lange machen das meine Füße und Beine nicht mehr mit. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ich letztes Jahr auf dem Camino Frances 800 km am Stück gelaufen bin. Doch da ging es auch nicht jeden Tag fröhlich auf und ab. Außerdem hatte ich Gesellschaft und den lieben Gott im Gepäck.
Mit den vorfreudigen Gedanken an Zuhause, mein Bett, meine normalen Klamotten und meine Freunde schlafe ich ein.
Zeitreise
Vorwärts: Schlangenbad klingt spannend und du willst wissen, wie es dort ist und was es mit dem Namen auf sich hat? Dann komm mit auf die Etappe von Oestrich-Winkel nach Schlangenbad und finde heraus, wieso es sich um den Tag des Kaugummis und der geschlossenen Türen handelt.
Rückwärts: Hast du verpasst, wie ich gestern auf wackeligen Beinen von Kaub nach Assmannshausen gelaufen bin? Dann komm noch mal mit zu verlassenen Partystätten, kalter Pasta, guter Gesellschaft und erfahre, wieso ich kurz von einem Ende als Wasserleiche (alb)träume.
Warst du zu Beginn noch gar nicht dabei und möchtest den ganzen Rheinsteig mit mir gehen? Dann geht es hier entlang zu Etappe eins von Bonn nach Königswinter.
Kommentare und Ergänzungen
Kennst du das so vielfach gelobte Stück zwischen Assmanshausen und Rüdesheim? Was hat dir am besten Gefallen? Die Germania oder doch der Osteinsche Park? Bist du vielleicht sogar selbst den Rheinsteig gelaufen? Was hat dir gefallen, was eher nicht so, und gibt es noch etwas zu ergänzen?
Ich freue mich wie immer über deinen Kommentar.
Liebe Audrey,
danke für das nette Gespräch! Ich glaube, in den Osteinschen Park muss ich bei warmem Wetter auch noch mal. Auch zur Abtei St. Hildegard.
Bin mal gespannt, wie ich den abends-alleine-Blues auf meiner Wochenwanderung so aushalte. Werde berichten 🙂
LG
Aurora
Hallo Audrey,
dein Bericht hat mir gut gefallen. Beim Lesen konnte ich mir das ein oder andere Mal ein Lächeln nicht verkneifen. Ob Gespräch und Quintessenz zum Thema Ex-Chef (erinnert mich an mich gerade) oder das Wort „tüchtig“.
Sehr schön, danke!
Liebe Grüße aus dem Hunsrück
Claudia von aktiv-durch-das-leben.de
Danke dir, Claudia. Die besten Bonmots meines Exchefs habe ich mir sogar noch geklemmt 😊
Bist du grad dabei dich rauszulösen?
Liebe Grüße
Habs mir fast gedacht, beim Lesen, dass das nicht alles war 😉
Ich wurde raus gelöst nach langen Jahren 150% Einsatz. Tut schon weh…
Im Endeffekt bin ich allerdings froh, weg zu sein, denn jetzt zeigt sich, was da menschlich schlummerte.
Liebe Grüße
Claudia
Na, das klingt dann ja nach einer Wendung, die hervorragend, wenn auch erstmal unfreiwillig, war. Manchmal ist es ja rückblickend super, dass andere einen die Entscheidung abgenommen haben.
So sehe ich das mittlerweile auch. Ich wünsche dir einen schönen Tag!
liebe audrey
meine eklärung für die stanamandl:
einerseits wegmarkierung
andererseits danksagung für den weg
und auch erinnerung an alle die mitgehen oder dich in gedanken begleiten
du schreibst wunderbar
alles liebe
Liebe Maria,
Bei Stanamandl musste ich es mir kurz laut selbst vorlesen, um die Rätselnuss zu knacken – Steinmännchen also 🙂
Und viele Dank für deinen lieben Kommentar. Das freut mich sehr! Audrey
Liebe Audrey,
Mosel-/Rheinsteig geben an Höhenmetern schon einiges her und mit Gepäck am Rücken kommt man schon ordentlich ins Schnaufen. Die meisten Etappenlängen empfinde ich jetzt (ungeprüft) als nicht so gewaltig. Kann es sein, dass dich die Quartiersuche so zermürbt, dass du dich nachher kaputter fühlst, als es ohne diesen Stress wäre. Wie überhaupt die Quartierfrage ein interessantes Thema bei der Planung eines Trips am Rhein zu sein scheint.
Stanamandl kenne ich eher von alpineren Regionen her, wo sie den Zweck erfüllen, bei Schneeauflage die verdeckten Markierungen zu ersetzen bzw. von weitem die Gehrichtung zu signalisieren.
Anbei: Ich habe den vorigen Beitrag irrtümlich ein zweites Mal gelesen und das ist mir erst am Ende aufgefallen. Also den Holzhammer auf mein Haupt! 😉
Lg
Bernhard
Lieber Bernhard,
das hast du ganz gut erkannt. Rein von der Etappenlänge war das machbar. Ich bevorzuge etwas zwischen 20 und 27 km, weiter gehe ich nur an Tagen, an denen es sich spontan so anfühlt. Ich muss aber wirklich zugeben, dass das ewige Auf und Ab nicht ohne war. Am Fluss entlang klingt ja immer erst einmal vergleichsweise moderat, aber gerade am Rhein ist so ein Fels dann gern mal zu Ende. Dann geht es spontan ganz runter und dann wieder ganz rauf auf den nächsten Fels.
Mich haben auf dem Rheinsteig strenggenommen 3 Dinge ermüdet:
– das Wetter, denn das war – anders als an der Mosel – großteils ausbaufähig
– die eher kleine Anzahl an wegnahen Unterkünften, die dazu führte, dass ich reservieren musste, was wiederum dazu führte, dass ich meine Strecken festlegen musste. Kleine Ausreißer nach oben bei den Kilometern entfielen daraufhin.
– die dauerhafte Einsamkeit, denn mir fehlte es völlig an Austausch. So gern ich allein laufe, so sehr mag ich es, abends Gleichgesinnte zu treffen. Dass dann auch noch so gut wie gar keine Cafés / Wirtshäuser entlang des Weges stehen, war das Tüpfelchen auf dem I.
Ich tue dem Rheinsteig sicher stellenweise unrecht, aber so richtig warm sind wir nie miteinander geworden.
LG
Audrey