Fremdgehen mit… Maria, 67, Mannersdorf (AT)

In der 10. Ausgabe von „Fremdgehen mit...“ erzählt Maria, 67, aus Mannersdorf über ihre mehr als 3.400 Kilometer vom Osten Österreichs nach Santiago und wieso das beste Bett unter dem Tisch ist, ein faustgroßer Stein Luxus sein kann und wieso Magnesium-Sticks gutes Karma haben. #Caminofrances #Erfahrungsbericht #Blogprojekt #Jakobsweg #läuftbeiihr"

Fremdgehen mit Maria – oder wieso das beste Bett unter einem Tisch ist, andere Leute sie auf den Jakobsweg getrieben haben, sich ein Mann im Kloster nachts heimlich zu ihr schlich, Hochebenen die große Freiheit versprechen und wieso faustgroße Steine Luxusgegenstände und Magnesium-Sticks gut fürs Karma sind.

Wer ist Maria und wie kommt sie ins Wanderland?

Maria und ich haben an meinem ersten, richtigen Camino-Abend gemeinsam in Roncesvalles als eine der Letzten des Tages gegessen. Unsere Begegnung war Zufall. Wir waren uns an diesem ersten und für mich denkwürdigen Tag auf der Strecke nicht über den Weg gelaufen, bis wir nebeneinander in der Reihe standen, als es zum Essen ging. Es gab Menus mit Fisch oder Fleisch, wie uns auf Spanisch und Englisch mitgeteilt wurde. Während ich bestellte, grummelte die Dame mit grauem Zopf neben mir mürrisch, dass sie kein Wort verstünde und warum man das nicht auf Deutsch sagen könne.

„Prost Mahlzeit, da hat jemand aber richtig gute Laune“, dachte ich mir, übersetzte aber trotzdem kurzerhand die Optionen ins Deutsche. Die Dame aus Österreich, die nach eigenen Angaben nur schlecht Englisch und Spanisch sprach, nahm neben mir Platz, und ich weiß noch, wie ich in dem Moment innerlich die Augen verdrehte, dass sich alle um mich herum fröhlich auf Englisch unterhielten, während ich Grummelgriesgram an meiner Seite hatte und Deutsch sprechen sollte. Am Tisch erfuhr ich zwei Dinge: Maria war bereits den Camino del Norte gelaufen und ging nun den Camino Francés. Nicht für sich, sondern für ihre verstorbene Schwester, was mich sehr bewegte.

Im Rückblick weiß ich, dass sie an diesem Abend einfach völlig verzweifelt war, weil niemand sie verstand, sie genau wie ich in einer der Notunterkünfte untergebracht war, in denen es kalt war und die Duschen ihren Namen nicht verdienten.

Ich sah Maria am Folgetag wieder. Rob und ich waren früh in Zubiri angekommen und hatten die letzten Betten in der Herberge ergattert. Als Maria kam, war alles voll. Inzwischen war die Turnhalle geöffnet worden und die Pilger, die nun eintrafen, konnten nur noch dort auf dem Boden schlafen. Ich weiß noch, wie ich Mitleid mit ihr hatte, zumal sie ja doch ein paar Jährchen mehr als ich auf dem Buckel hatte. Sie aber sagte, sie sei froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.

Am Abend aßen wir zusammen mit Rob. So richtig rund lief das Gespräch nicht. Der Niederländer und ich waren begeisterte Jakobswegsanfänger, Maria verglich alles mit ihrem geliebten Camino del Norte, wo die Natur berauschend und die Wege leer waren und wo man keine Sorgen haben musste, dass die Betten knapp werden könnten. Zu dieser Zeit wirkte sie auf mich hart und bitter, und ich fragte mich, ob es daran läge, dass sie den Weg für jemand anderen auf sich genommen hatte. Vor Pamplona verloren wir uns. Sie ging weiter, ich blieb. Über WhatsApp hielten wir Kontakt. Maria hatte mich offensichtlich irgendwie ins Herz geschlossen.

Wir sahen uns unterwegs noch zwei Mal wieder. Das eine Mal in der Nähe der legendären Cowboy-Bar hinter Astorga. Vor mir lief eine Frau im Schneckentempo einen Berg hoch, und ich erkannte in ihr Maria, die schlimm mit ihrem Knöchel zu kämpfen hatte und nur langsame, zaghafte Schritte machen konnte. Wir hatten uns fast drei Wochen nicht gesehen. Was mir von diesem Moment bis heute am meisten im Gedächtnis geblieben ist, war die Veränderung, die in ihrem Gesicht vonstattengegangen war. Da war dieses Strahlen. Die Bitterkeit, die ich anfangs an ihr beobachtet hatte, war wie weggeblasen. Das hat mich damals sehr berührt.

Maria hingegen erinnert vermutlich, wie froh sie war, mich zu sehen, weil sie den letzten Bankomaten für die nächsten Tage in Astorga verpasst hatte und kaum noch Bargeld besaß. Ich lieh ihr bedenkenlos 50  Euro, und sie konnte sich gar nicht genug bedanken. Als wir uns das nächste Mal drei Tage später trafen, bekam ich mein Geld wieder. Das war an meinem schlimmsten Tag, als ich mir im strömenden Regen die Schuhe nass lief und später erstmals Ben begegnete.

Maria und Rob sahen sich am Ziel wieder. Beide hatten wegen ihrer Verletzungen umdisponieren und ein Stück Bus bzw. Taxi fahren müssen, um sich dann langsam an Santiago heranzutasten. So waren sie vor mir da und holten mich am Pilgerbüro ab, um mich zu meinem Einzug nach Santiago zu beglückwünschen.

Die Freude, diese beiden Menschen gemeinsam wiederzusehen, war unbeschreiblich. Es ist schon eher unwahrscheinlich, gleich zwei Menschen, mit denen man in Roncesvalles an einem Tisch gesessen hat, in Santiago wieder zu treffen. Maria ist somit eine der sechs Lichtgestalten auf dem Foto vom gemeinsamen Abendessen, das bis heute mein größtes Camino-Geschenk ist. Als ich nach Bens Abreise am Boden zerstört war, ging sie abends mit mir Essen und wir beobachteten lachend drei Damen, die zu Akkordeonmusik tanzten und machten vor der Kathedrale noch ein paar Fotos. Ein schöner Ausklang.

Als ich sie fragte, ob sie bei meinem Projekt mitmachen wollte, zögerte sie erst. Das sei nicht unbedingt ihr Ding. Sie lese gern mit, aber ob sie selbst so viel preisgeben könne und wolle, wisse sie noch nicht. Doch die Berichte, die von Woche zu Woche erschienen, änderten ihre Meinung. Sie wollte es ebenfalls versuchen.

Dabei hatte Maria es nicht leicht mit mir. Mehrfach schickte ich ihr den Text zurück, bohrte weiter nach und durfte so Stück für Stück den Vorhang ein wenig beiseiteschieben. Erst in ihrem Text erfuhr ich, dass sie, genau wie Jette, vor der eigenen Haustür gestartet war, dass die Motivation für beide Caminos das Ergebnis eines traurigen Vorfalls im familiären Umfeld war und dass sie heute fest davon überzeugt ist, dass es genauso sein sollte.

Nach ihrem ersten Camino-Stück in Österreich schrieb sie an sich selbst: Das Gefühl beim Wandern würde ich gerne konservieren und dann an trübsinnigen Tagen zu Hause wieder öffnen. Dieses Gefühl so unendlich frei zu sein, absolut glücklich, entspannt und selig, winzig klein und riesengroß zu sein. Grab es tief in mich ein und versuch, es nie zu vergessen.“

Wie schön, dass sie es noch einmal ausgegraben hat und heute mit uns teilt.

 

Harte Fakten & Standardfragen

Alle Pilger, die bei meinem Projekt mitmachen, beantworten mir fünf feststehende Fragen und verraten natürlich kurz, wer sie sind und wann sie auf welchem Camino unterwegs waren.

Dann schauen wir uns doch mal an, mit wem wir es heute zu tun haben:

Prost Mahlzeit, Maria – Burgos ist erreicht, ran ans Fleisch!

Wer bist du?

Maria, 67, aus Mannersdorf am Leithagebirge im Osten Österreichs

Welche Caminos bist du wann gelaufen und wie viele Kilometer waren das?

  • Jakobsweg Österreich von Wolfsthal bis Feldkirch (2008, ca. 850 km)
  • Schweizer Via Jacobi & französische Via Gebennensis von Feldkirch über Genf bis Le Pin (2009, ca. 650 km)
  • Französische Via Gebennensis von Le Grand Lemps bis Moissac (2010, ca. 600 km)
  • Via Gebennensis & Camino del Norte von Moissac bis Saint Jean Pied de Port, per Zug nach Hendaya und bis San Vicente de la Barquera (2011 ca. 680 km)
  • Camino del Norte von San Vicente de la Barquera bis Santiago, Fisterra und Muxia (2012, ca. 630 km)
  • Camino Frances von Saint Jean Pied de Port bis Santiago (2016 ca. 800 km)

Mit wem warst du unterwegs?

Allein und doch nicht allein, da ich immer wieder freundliche und erfreuliche Begegnungen hatte.

Wieso bist du auf den Jakobsweg gegangen?

Der Jakobsweg schlich sich langsam aber bedächtig in meinen Kopf. Anfang der 2000er hörte ich zusammen mit meinem Mann erstmals einen Vortrag über den Camino. Es war interessant und lustig, hatte aber zu der Zeit noch keine konkrete Auswirkung, zumal sich mein Partner niemals die Zeit dafür genommen hätte. Ich legte es also ad acta, bzw. auf Eis. Bei einem Pilgerweg nach Mariazell tauchte das Thema dann erneut auf. Ab und an las ich etwas darüber. Doch jedes Mal wurde es sorgfältig schubladiert, wenn auch nicht vergessen. Alles braucht seine Zeit.

Mitte 2006 eröffnete mir dann besagter Mann nach 35 Jahren Ehe, dass er mich verlassen würde, weil er sich anderweitig verliebt hätte. Er hatte mich belogen und betrogen. Es folgten üble Streitereien, Gemeinheiten, Vorwürfe. Ich sei schuld, hätte mich nicht genug um ihn gekümmert, kein Interesse gezeigt. Anfang 2007 zog er endlich aus.

Dadurch wurde meine unmittelbare Situation zwar besser, aber es tat trotzdem unglaublich weh, zumal ich die beiden jeden Tag bei der Arbeit sah, ob ich wollte oder nicht. Ich wünschte mich nur noch raus aus diesem Trott, wollte etwas anderes sehen, hören, weg aus dem Haus, in dem mich alles und jedes daran erinnerte.

In dieser Situation erinnerte ich mich wieder an den Jakobsweg und habe das Projekt dann eigentlich relativ  schnell realisiert. Die große Frage war nur noch, ob ich in Österreich starten wollte, um etappenweise bis Santiago zu laufen (zu der Zeit war ich noch berufstätig), oder ob ich gleich in Spanien beginnen würde.

Ich entschied mich kurzerhand für Österreich. Würde ich in Spanien anfangen, würde ich die „fehlenden“ Etappen wahrscheinlich nie mehr nachholen, also lief ich 2008 in Wolfsthal ganz im Osten Österreichs los und kam über die Jahre durch die Schweiz und Frankreich 2011 in Saint Jean Pied de Port an. Bis zu dem Zeitpunkt war ich noch unentschlossen, ob ich den Francés oder den Norte laufen würde. Der Wetterbericht nahm mir die Entscheidung ab. Bei 45 Grad würde ich nicht über die Pyrenäen nach Roncesvalles gehen, also fuhr ich mit dem Zug nach Hendaye und lief an der Küste weiter. 2012 beendete ich den Weg über Santiago und Finisterre in Muxia.

2016 machte ich mich dann noch einmal auf den Weg. Diesmal lief ich den Camino Francés. Ich lief ihn nicht für mich, sondern anstelle meiner Schwester. Sie war 2008 mit mir in Österreich einige Tage gemeinsam gepilgert und hatte sich vorgenommen, 2016 nach ihrer Pensionierung mit einer Freundin und mir den Camino Francés zu gehen.

Im Oktober 2015 verstarb sie mit 60 Jahren und sechs Monaten plötzlich, unerwartet und viel zu früh. Bei ihrer Beerdigung nahm ich mir vor, diesen Camino für sie zu gehen.

Im Mai 2016 sah Maria diese einsame Mohnblume am Wegesrand. Sie durfte weiterblühen – auf ihrem Foto blüht sie nun für immer.

Was war dein schönster Moment?

Das Wandern auf Hochebenen gibt mir dieses grenzenlose Freiheitsgefühl. Losgelöst von allem gibt es keine anderen Gedanken im Kopf als rechtes Bein, linkes Bein. Der Rest ist Nebensache.

Ich kann mich zum Beispiel noch ganz genau an eine Etappe auf der Via Jacobi in der Schweiz erinnern. Der Weg ging für eine lange Zeit ausschließlich hoch und bergauf und ich dachte, das nehme nie ein Ende. Als ich es endlich geschafft hatte, überkam mich dieses Gefühl der Unendlichkeit. Ringsherum nur Himmel, Wolken und Sonne. Keine Berge, kein Wald. Stille, Ruhe. Dieses Gefühl stellt sich bei mir immer auf Bergplateaus ein, und es ist einfach herrlich!

Was war dein schlimmstes Erlebnis?

Das schlimmste Erlebnis ereignet sich auf jedem einzelnen Camino: Es sind die Verabschiedungen am Ende, die mir jedes Mal sehr zu Herzen gehen und an die ich mich allesamt erinnere.

In Österreich der Abschied von Karl aus Leoben, der mir half, trotz beleidigtem Knöchel durchzuhalten, in Moissac von Gerard aus Holland, mit dem ich viele gemeinsame Tage und Nächte verbracht habe (ganz harmlos), in San Vicente de la Barquera von Isolde, Annegret, Käthchen und Grete aus Finnland, die mir einen Muschelanhänger als Andenken selber machte, in Burgos von Cristina aus Spanien und Jens aus Deutschland. Und dann immer wieder zwischendurch auf dem Weg der Abschied von vielen, vielen anderen, auch von dir liebe Audrey, Mary, Ben, Robert, Catherina und Philippe, Peter und ….

Es sind die gemeinsamen Geschichten mit diesen Pilgern, die das Traurigsein auslösen. Das Kennenlernen, Unterhalten, Wandern, Schweigen, Staunen mit all den anderen, die auf dem Weg sind. Ihre Erlebnisse und die Schicksale, die sie dir anvertrauen. Manche traurig und erschütternd, mache erfreulich. Jedes einzelne wert, erzählt und gehört zu werden. Da lernst du so viele unterschiedliche Leute und Charaktere kennen und dann heißt es Abschied nehmen. Das ist hart.

Wie war das Ankommen in Santiago für dich?

Beim ersten Mal 2012 kam ich vormittags an. Ich war stolz und glücklich und traurig und enttäuscht und froh und alles auf einmal an Gefühlen, die man nur empfinden kann. Einfach unerklärlich, unbeschreiblich.

2012 – Marias erstes Mal vor der Kathedrale nach fünf Jahren und mehr als 3.400 Kilometern

2016 erging es mir ähnlich, aber irgendwie war auf diesem Weg vorher alles schwerer. Vermutlich, weil ich für meine Schwester auf dem Camino war. Der Francés als solcher ist ja nicht wirklich schwer zu pilgern oder zu finden. Es gibt viele ebene Teilstücke, viele Markierungen, viele Herbergen und es gab viele Pilger und auch Spanier, die immer bereit waren, mir zu helfen. Aber es war ganz einfach nicht „mein“ Camino und ich habe viel und oft an meine Schwester gedacht. Sie hieß Rosemarie, aber für mich war sie immer Rosi. Es ist furchtbar traurig, einen lieben Menschen so unerwartet zu verlieren. Sie fehlt mir und der ganzen Familie sehr.

An einem Tag ging ich an einer kleinen unscheinbaren Kirche vorbei. Die Tür war offen also schaute ich wie so oft rein, kniete mich hin und musste auf einmal zu weinen anfangen. Ich konnte eine ganze Weile nicht aufhören. Es tat so weh und doch so gut. Irgendwie war ich danach erleichtert und fühlte mich besser, obwohl ich trotzdem ständig an sie denken musste.

Bei jedem „Nicht-Weiter-Wissen-Des-Weges“ hab ich dann über die Schulter geschaut und gedacht, manchmal sogar gesagt: „Jetzt bist du dran, sag mir, wie es weitergeht!“ Und es hat geklappt. Bei manchen steilen Wegstrecken (egal ob bergauf  oder bergab) dachte ich das ebenfalls und wahrscheinlich habe ich es auch einige Malt laut vor mich hingesagt.

Der Jakobsweg in fünf Hashtags

#Freiheit, #Gewaltigkeit-des-Universums-entdecken, #miteinandergenießen, #Unendlichkeit, #Glücklichsein

Herrlicher doppelter Regenbogen in Tosantos. Am nächsten Tag morgens waren es dann acht oder neun, aber nicht mehr so imposant wie dieser.

Die Qual-der-Wahl-Fragen

Kommen wir zu den fünf Fragen, die sich Maria aus meiner 20-Fragen-Liste ausgesucht hat. Damit es von Woche zu Woche ein wenig Abwechslung gibt, sind die nämlich jedem Pilger selbst überlassen. Hier kommt ihre Auswahl.

Welches war deine schönste Übernachtung und wieso?

Zwei Übernachtungen sind mir ganz besonders in Erinnerung geblieben.

Die Erste ergab sich 2009 in Stans in der Schweiz. Ursprünglich wollte ich „Schlafen im Stroh“ nutzen, doch das ging wegen meiner Nase nicht, die bei manchen Sachen ganz einfach allergisch dicht macht. Also suchte ich mir ein Hotel, das laut Wegbeschreibung für Pilger relativ günstig sei.

Dort angekommen, stellte sich heraus, dass es für mich allein ca. 95 Euro kosten würde, es sei denn, ich fände draußen noch jemanden. Das örtliche Kloster bot keine Pilgerbetten mehr an, weil die Klosterschwestern schon zu alt und gebrechlich waren, um die damit verbundenen Aufgaben zu erfüllen. Im Pfarrhof war niemand aufzutreiben.

Jemand sagte mir aber, ich käme, wenn ich noch ungefähr eine Stunde weiterginge, an einer Geißenfarm vorbei. Die hätten früher mal vermietet, vielleicht könne ich dort unterkommen. Ich ging tatsächlich weiter, obwohl es schon 18:00 Uhr war. Als ich am Bauernhof ankam, war die erste Frage, ob ich Schlafsack und Isomatte dabei hätte. Ich verneinte. Und da ließ die Hausfrau einen ihrer Arbeiter eine Matratze, Decken und Polster in ein Nebengebäude bringen.

Später durfte ich noch beim gemeinsamen Abendessen mitessen. Es gab zwar „nur“ heiße Kartoffeln, Brot, Butter, Speck und Käse, aber für mich hungrigen Pilger war es besser als ein Menü im 5-Sterne Lokal. Bezahlt hab ich dann nur zehn Euro, und die Frau des Hauses erzählte, dass sie auf diese Erfahrung hin wahrscheinlich das Nebengebäude wieder aktivieren und für Pilger zur Verfügung stellen würde. Ich bin dort wirklich freundlich und nett aufgenommen worden.

Die zweite, denkwürdige Übernachtung war 2011 in Castro-Urdiales in Spanien. Hinter mir lag ein langer Tag mit etwa 30 Kilometern. Isolde, jünger, größer und schneller als ich, war vorausgeeilt und wollte für mich reservieren. Bei meiner Ankunft gegen 17:30 Uhr war aber kein Platz mehr frei. Completto, full, nothing. Isolde argumentierte, ein Reservieren sei in den öffentlichen Herbergen nicht möglich. Sie selbst übernachte ja auch schon im Eingangsbereich unter einem Tisch, vielleicht ginge das auch für mich. Und siehe da, es klappte. Morgens wachten wir dann übrigens zu fünft unter und neben dem Tisch auf.

Die nächste Unterkunft wäre mindestens fünf Kilometer entfernt gewesen. Müde und hungrig nach 30 gelaufenen Kilometern war dieses Lager deswegen eine der wunderbarsten Unterkünfte für mich!

Kopf oder Bauch, Etappen planen oder drauflos laufen, reservieren oder Zufallsprinzip – wie gehst du vor?

Als ich mit dem Pilgern in Österreich anfing, orientierte ich mich an einem Buch, das Tagesetappen von mindestens 30 Kilometer vorgab. Das war der reinste Irrsinn. Trotzdem versuchte ich verzweifelt, mich daran zu halten, was mir auch irgendwie gelang. Hier lief ich also ganz genau nach Plan. Ja keinen Zentimeter vom Weg abweichen. Das ergab sich vermutlich aus meiner Unsicherheit heraus.

Ab der Schweiz lief ich dann zwar nach wie vor nach Plan, aber nicht mehr irgendwelchen Tagesetappen folgend. Ich hatte mir Bücher gekauft, in denen einfach Etappen angegeben waren, und keine fixe Tagestouren. Mir war es zunehmend egal, wie viele Kilometer ich lief und wann ich abends Schluss machte. Ich vertraute darauf, dass meine Beine mir sagen würden, wann es an der Zeit war, mir ein Quartier zu suchen. Auf diesem Stück sind nicht so viele Pilger auf dem Weg. Man muss also keine Bange haben, keinen Platz zu erhalten.

Die Wegmarkierungen waren alle sehr einfallsreich. Vom einfachen Holzbrett am Anfang in Österreich, über Muscheln, die nach innen oder nach außen zeigen, bis hin zu meist gelben Pfeile auf Hauswänden, an Bäumen oder wie hier auf dem Camino Frances riesengroß am Weg.

Ab Le Puy in Frankreich war ich dann viel mit Gerard auf dem Weg. Er war ein eher vorausschauender Mann, der gerne wissen wollte, wo er übernachten würde, also telefonierte er meist und reservierte für mich mit. Highlight war die Abtei in Conques: nach vorheriger Reservierung auf die Namen Gerard und Maria wollten wir (unschuldig wie immer) in einem Zimmer übernachten.

Bei der Ankunft wurden uns dann aber nach Vorlage unserer Pässe getrennte Unterkünfte zugewiesen. Der österreichische und niederländische Pass machte unmissverständlich deutlich, dass wir kein Ehepaar waren. So wurde er zu den Männlein verwiesen und ich kam allein in ein Riesenzimmer für die Weiblein. Gegen zehn Uhr abends klopfte dann jemand bei mir. Es war Gerard, der mich bat, bei mir nächtigen zu dürfen. Bei ihm gäbe es so viele laute Schnarcher. Echt ulkig, diese Trennung, um die sich dann hintenheraus keiner mehr kümmert.

Was war dein Karma-Artikel (etwas aus deinem Rucksack, das anderen geholfen hat) und was war dein persönlicher Luxusartikel?

Mein Karma-Artikel waren Magnesium-Sticks. Ich selbst hatte in Österreich arge Wadenprobleme. Meine Schwester meinte, es läge am Magnesiummangel. In Frankenmarkt in Österreich bekam ich dann Magnesium-Sticks geschenkt und hatte sie ab dem Tag bei jedem Camino dabei. Sobald irgendjemand über Wadenprobleme klagte, bekam er einige Sticks. Bei der nächsten Begegnung waren die Beschwerden dann weit besser oder sogar ganz vorbei.

Mein Luxusartikel war kein wirklicher Luxus. Es heißt ja immer, man solle als Pilger einen „persönlichen“ Stein mit sich tragen, um ihn dann am Cruz de Ferro abzulegen. Ich schleppte also einen faustgroßen Stein im Rucksack durch Österreich, die Schweiz, Frankreich und den Anfang von Spanien.

Erst 2011, als ich auf dem Camino del Norte unterwegs war, fiel mir auf dem Weg ein, dass ich ja gar nicht am Cruz de Ferro vorbeikommen würde, weil das ja am Camino Francés liegt. Macht nix, sagte ich mir, dann legst du den Stein halt irgendwo ab, wo es passt. Also suchte ich den Stein und siehe da, er hatte sich schon selbst irgendwo abgelegt, denn er war auf einmal nicht mehr in meinem Rucksack. Ich habe bis heute keine Ahnung, wo und wie er verschwand, aber es sollte wohl so sein.

Welcher Mensch hat dich am meisten bewegt und warum?

Das waren Ronald aus Irland und Denise aus Australien. Ich traf sie 2010. Er war etwa 75 und trug einen gewaltig großen, kaputten Rucksack. Er war für irgendeine Zeitung unterwegs und hatte deshalb einen riesigen Fotoapparat und Laptop dabei und litt unter Rückenproblemen. Sie war etwa 25 und hatte ganz leichtes Gepäck.

Die beiden begegneten sich zufällig. Er wollte irgendwie zur nächsten Stadt, um den Rucksack reparieren zu lassen oder einen Neuen zu kaufen oder abzubrechen – er war da sehr unentschlossen. Dann tauchte Denise auf, schulterte seinen schweren Rucksack und ließ ihn ihren leichten tragen. So pilgerten sie gemeinsam ganz langsam, an sein Tempo angepasst, weiter.

Denise wäre ohne ihn weit schneller unterwegs gewesen, hielt aber an, hörte ihm zu und unternahm das, was ihr möglich war. Beeindruckend, oder?

Inwieweit hat dich der Weg verändert?

Ich glaube, dass ich mir selbst jetzt mehr zutraue, dass ich zufriedener bin mit meiner persönlichen Lage, vielleicht auch geduldiger.

Auf dem Camino del Norte gab es 2012 alle Wettervarianten, die nur möglich sind. Diese Begleiterscheinung war einfach wunderbar anzusehen und musste festgehalten werden

Letzte Worte bzw. Was möchtest du anderen Pilgern mit auf den Weg geben?

„Das Gefühl beim Wandern würde ich gerne konservieren und dann an trübsinnigen Tagen zu Hause wieder öffnen, dieses Gefühl so unendlich frei zu sein, absolut glücklich, entspannt und selig, winzig klein und riesengroß zu sein. Grab es tief in mich ein und versuch es nie zu vergessen.“

Das habe ich mir nach dem Österreich Weg vorgenommen und schriftlich festgehalten. Dieses Gefühl wünsche ich jedem anderen Pilger.

 

Kommentare, Fragen und Feedback an Maria

Marias Schlusssatz hat mich sehr bewegt, weil er auch für mich so viele Wahrheiten enthält. Wann hast du das Gefühl, unendlich frei und absolut glücklich zu sein?

Wie hat dir der heutige Bericht gefallen? Hast du Fragen an Maria? Stell sie gern in den Kommentaren. Ich bin mir sicher, sie hat ein Auge drauf und steht euch Rede und Antwort. 

Lust auf mehr Fremdgehen? Alle Gastbeiträge findest du hier

 

Weitere Eindrücke aus dem Wanderland

Du hast Marias Geschichte gelesen und wüsstest gern, wie sich so ein Weg anfühlt? Hier kannst du meine Pilger- und Wanderwege Etappe für Etappe nachlesen:

Ich muss das weitersagen

6 Gedanken zu „Fremdgehen mit… Maria, 67, Mannersdorf (AT)&8220;

  1. Seit zwei Wochen von meinem elften Camino zurück; zehn mal den Frances ab SJPdP nach Santiago und weiter bis Finisterra und Muxia,, und dieses Jahr den Portugues ab Lissabon; ganz anders aber auch wunderschön. Trotz Aller meinen Erinneringen muss ich doch weinen, wenn ich Marias Bericht lese. Es gibt da eine Wiedererkennung, die berührt, und die ich glaube, Alle die schon einen Pilgerweg gemacht haben, auch spühren.

    Die Freiheit, die Gefühle von Unendlichkeit; von der Weite um dich und auch in dir selbst, die Dankbarkeit, dass mein Körper funktioniert und vor allem, das Glücksgefühl am Leben zu sein!

    Danke Maria und Audrey

    1. Liebe Eva,
      Ich finde deine Worte sehr berührend. Es ist wirklich faszinierend, wie wir uns immer wieder in den Wegen und Worten der anderen wiederfinden.
      Schön, dass du deinen Eindruck geteilt hast!
      Audrey

    1. Liebe Maria,
      da muss ich dich korrigieren. Das hast du mir zu – sagen wir mal – 95% genauso geschickt.
      Und wie schön, Michaela, dass es dich berührt hat.

Und was sagst Du?